Roland Koch, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.
Der Staat wird zum bürokratischen Monstrum - Eine Herausforderung
Bei der vor uns liegenden Bundestagswahl wird es auch um die Rolle des Staates als stetig wachsendes Gebilde aus Personal, finanziellen Ressourcen und Regulierungen gehen. Man muss keine amerikanischen Verschwörungstheorien über den „Deep State“ unterstützen, um auch in Deutschland angesichts der Zahlen ein Problem zu erkennen.
Der Beamtenapparat wächst
In den 1970er-Jahren kam die alte Bundesrepublik noch mit 3,1 Millionen Staatsdienern aus. Diese Zahl ist bis heute deutlich gestiegen: Inzwischen sind wir bei 5,3 Millionen Beschäftigten angelangt. Allerdings hat auch die Teilzeitbeschäftigung zugenommen. Heute arbeiten etwas über 30 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst in Teilzeit, 1991 waren es noch 16 Prozent.
Kritik des Bundesrechnungshofs am Bundesschuldenfonds
(Auszug)
Der Bundesrechnungshof hat schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 in seinem Prüfungsbericht vom 25. August 2023 an das Bundesministerium für Finanzen zu den Sondervermögen des Bundes folgendes festgestellt:
Sondervermögen gefährden das parlamentarische Budgetrecht und die Wirksamkeit der Schuldenregel. Sondervermögen haben in der Haushaltswirtschaft des Bundes eine große finanzielle Bedeutung. Der Bundesrechnungshof ist der Auffassung, dass an die Errichtung, aber auch die Weiterführung von Sondervermögen als budgetflüchtige Einrichtungen ein restriktiver Maßstab anzulegen ist.
Worum geht es?
Durch das Verlagern von Einnahmen und Ausgaben in Sondervermögen in finanziell erhebli-
chem Umfang wurde der Bundeshaushalt über die Jahre hinweg entkernt. Dies hat seit dem
Jahr 2020 eine bis dahin nicht bekannte Ausweitung und Dynamik erlangt. Die budgetflüchti-
gen Ausgaben und ihre ebenfalls budgetflüchtige Kreditfinanzierung gefährden das parla-
mentarische Budgetrecht und die Wirksamkeit der Schuldenregel.
Was ist zu tun?
Zwecke, die zu den Kernaufgaben des Staates gehören, sind aus dem Kernhaushalt zu finan-
zieren. Bestehende Sondervermögen müssen regelmäßig evaluiert und ihre Fortführung be-
gründungspflichtig sein. Der Bundesrechnungshof unterstützt die Absicht des Bundesminis-
teriums der Finanzen und der Bundesregierung, die Zahl und den finanziellen Umfang von
Sondervermögen zu reduzieren. Die geplanten Maßnahmen reichen aber bei weitem nicht
aus, um den aus den Fugen geratenen Bundeshaushalt wieder zum wahren Ausweis der
Bundesfinanzen zu machen.
Was ist das Ziel?
Um die Folgen der Entkernung des Bundeshaushalts zu beseitigen, müssten vor allem die
großen Sondervermögen, wie insbesondere der Klima- und Transformationsfonds, auf ihre
Eignung und Erforderlichkeit überprüft werden.
Umstrittene Schuldenbremse (Art. 109 Abs. 3 GG)
In Zusammenhang mit der Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 durch die Ampelregierung ist unter deutschen Ökonomen ein heftiger Streit entstanden, ob die in Artikel 109 Abs. 3 Grundgesetz geregelte Schuldenbremse angewandt, geändert oder sogar abgeschafft werden sollte. Der Artikel hat folgenden Wortlaut:
"Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.
Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen.
Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen. Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten.
Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen mit der Maßgabe, dass Satz 1 nur dann entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden.“
Artikel 115 Abs. 1) und 2) GG regelt die nähere Ausgestaltung der Schuldenbremse.
Staatliche Schuldenfonds - ein Problem?
1.
Missachtung der Rechtslage
Mit Urteil vom 15. November 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Nachtragshaushalt 2021 der Ampel-Koalition für nichtig. Damit sollten Kreditermächtigungen, die während der Corona-Pandemie vom Bundestag genehmigt, aber nicht benötigt wurden, rückwirkend auf den „Energie- und Klimafonds“ (EKF) umgelenkt werden. Das Gericht begründete seine Entscheidung folgendermaßen:
Erstens konnte die Bundesregierung den für die Aussetzung der Schuldenbremse (Art. 115 Abs.2 GG) erforderlichen „Zusammenhang“ zwischen einer Notsituation und der zusätzlichen Kreditaufnahme nicht nachweisen.
Zweitens verstieß der Nachtragshaushalt 2021 gegen geltende Haushaltsprinzipien wie die Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit, wonach Kreditermächtigungen nicht in Nebenhaushalten gebunkert werden können, sondern grundsätzlich zum Jahresende verfallen.
Und drittens beanstandete das Gericht die mit dem Nachtragshaushalt 2021 erfolgte Änderung der Buchungsregel, wonach es für die buchhalterische Belastung mit dem Kredit nicht auf die tatsächliche Inanspruchnahme des Kredits, sondern auf die Erteilung der Ermächtigung ankommen soll, so dass die Merkel-Regierung damit belastet war.
Das finanzpolitische Debakel der Ampelkoalition
1.
Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 war für die Ampelkoalition in Berlin ein Paukenschlag. Auf en Antrag von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag erklärte es das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 wegen Verstoßes gegen die grundgesetzliche Schuldenbremse für nichtig und zeigte der Bundesregierung damit klare Grenzen in der Haushaltspolitik auf.
Ein solche Entscheidung hatte man von den Richtern in Karlsruhe nicht erwartet. Das Urteil trifft die Ampelregierung ins Mark und macht deutlich, dass SPD, Grüne und FDP eine Regierungskoalition ohne tragfähiges Fundament für ihre ambitionierten Ziele eingegangen sind. Um genügend Geld für ihre Programme zu bekommen, verstießen sie gegen zentrale Haushaltsgrundsätze und die Schuldenbremse.
Steuerreform und Steuermoral
Die Geschichte des Steuerrechts ist von dem stetigen Bemühen geprägt, jedenfalls eine äußere Obergrenze der individuellen Steuerlasten zu definieren. Schon Friedrich der Große betonte, die Hirten sollten ihre Schafe scheren, ihnen aber nicht das Fell über die Ohren ziehen. Es sei nicht gerecht, dass der Einzelne „die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Souverän teilt“ (1768). Das Bundesverfassungsgericht hat diese These im „Halbteilungsgrundsatz“ aufgenommen, aber gegenüber der schwankenden Gesetzgebung bisher auch noch keine scharfe Linie für eine Obergrenze der Besteuerung durchsetzen können.
Moderne Verfassungsstaaten stellen die Besteuerung strikt unter den Vorbehalt des Gesetzes. Dies dient dem Schutz des Steuerbürgers. Dem Gesetzgeber gelingt es jedoch gegenwärtig nicht, die Kultur des Maßes im Steuerrecht zu gewährleisten. Es ist deshalb ein lobenswertes Unternehmen, wenn sich die Wissenschaft dieses Themas annimmt.
Steuern - einfach, niedrig und gerecht ?
„Einfach, niedrig und gerecht“ lautete ehemals das steuerpolitische Credo von CDU und FDP.
„Einfach“ sollten Steuern sein, damit sie jeder versteht und ausrechnen kann. Der Bierdeckel von Friedrich Merz brachte das plastisch zum Ausdruck.
„Niedrige“ Steuern wurden gefordert, um den wirtschaftlichen Spielraum der Bürger zu vergrößern. Leistung sollte sich lohnen. So wollte man das Wirtschaftswachstum ankurbeln.
Und „gerecht“ sollten Steuern sein, weil sie ansonsten Widerstand auslösen. Als gerecht gelten Steuern, wenn sie gleichmäßig erhoben werden und sich an der Leistungsfähigkeit orientieren.
Was ist aus diesen Forderungen geworden?
Sie sind inzwischen weitgehend vergessen! Wolfgang Schäuble hat einmal gesagt: „Große Entwürfe, die man mit ´Bierdeckel´ bezeichnet, haben mit der Realität nichts zu tun.“
Ist das wirklich so? Gibt es zu einem „komplexen Steuerrecht, hohen Steuersätzen und einer ungleichmäßigen Belastung“, keine Alternative?
Es lohnt sich, dieser Frage am Beispiel der jüngst reformierten Erbschaftssteuer noch einmal nachzugehen.
Gerechte Steuern - am Beispiel der Erbschaftssteuer
„Einfach, niedrig und gerecht“ lautete ehemals das steuerpolitische Credo von CDU und FDP. Die CDU formulierte es letztmalig auf ihrem Leibziger Parteitag im Jahr 2003. Die FDP machte es 2009 zum zentralen Thema des Bundestagswahlkampfes, gewann damit die Wahl und legte es dann ebenfalls ad acta.
„Einfach“ sollten Steuern sein, damit jeder sie versteht und ausrechnen kann. Der Bierdeckel von Friedrich Merz brachte dies plastisch zum Ausdruck. „Niedrige“ Steuern wurden gefordert, um den wirtschaftlichen Spielraum der Bürger zu vergrößern. Man war damals noch der Überzeugung, dass Private mit dem Geld besser umgehen können als der Staat. Und „gerecht“ mussten Steuern sein, weil sie ansonsten auf Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Darunter verstand man vor allem eine gleichmäßige und an der Leistungsfähigkeit orientierte Besteuerung der Bürger.
In der gegenwärtigen steuerpolitischen Diskussion tauchen solche Vorschläge und Gedanken nicht mehr auf. Für die Steuerprofis in der Verwaltung sind Vorschläge für ein „einfaches“ Steuerrecht unrealistisch, weil die zu besteuernde Wirklichkeit „komplex“ ist. Auch die Forderung nach „niedrigen“ Steuern ist in allen Parteiprogrammen gestrichen worden. Stattdessen fordern die linken Parteien „höhere“ Steuern, insbesondere für Vermögen und Reiche. Selbst das Postulat nach „gleichmäßiger“ Besteuerung tritt zunehmend in den Hintergrund und wird durch das Merkmal der „sozialen“ Besteuerung ersetzt. Immer deutlicher wird das Ziel formuliert, den volkswirtschaftlichen Reichtum mit Hilfe der Steuerpolitik „umzuverteilen“.
Die jüngst beschlossene Reform der Erbschaftssteuer ist ein Beispiel für diesen steuerpolitischen Paradigmenwechsel.
Steuersenkungsdebatte 2016
Bisher hat Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) Rufe nach Steuersenkungen stets abgewehrt. Sein Ziel war die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt. Er konnte deshalb auf keine Steuern verzichten, sondern im Gegenteil: er benötigte immer mehr, um die stetig steigenden Ausgaben des Bundes bezahlen zu können. Doch dann kam die überraschende Wende: Im September 2016 kündigte Wolfgang Schäuble bei der Einbringung des Haushalts 2017 schnelle Steuersenkungen von über 6 Milliarden an. Ein Kabinettsbeschluss sollte dazu kurzfristig gefasst werden.
Gleichzeitig versprach Wolfgang Schäuble für die Zeit nach der Bundestagswahl 2017 eine Tarifkorrektur bei der Einkommensteuer mit einer noch größeren Steuersenkung von etwa 15 Milliarden Euro, um den Mittelstand zu entlasten. „Es kann doch auf Dauer nicht sein, dass ein Alleinstehender schon bei rund 53.000 Euro Jahreseinkommen den Spitzensteuersatz zahlt, wie es aktuell noch der Fall ist“, sagte er zur Begründung. „Wir müssen die echten Leistungsträger entlasten. Darum geht es jetzt. Jetzt sind endlich einmal die Ingenieure, Handwerksmeister, Lehrer und Polizisten aus der Mitte unserer Gesellschaft dran.“
Die SPD als Koalitionspartner wurde von diesem Vorstoß überrascht. „Mal ganz offen“, fragte SPD-Vorsitzender und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. „Wer soll das eigentlich glauben? Das werden wir nicht machen!“ Die von Wolfgang Schäuble ins politische Schaufenster gestellten 15 Milliarden Steuersenkungen gehören laut Gabriel in die Kategorie „wahlkampfbedingter Märchenerzählungen“.
Der Koalitionsvertrag 2013
Der Bundestagswahlkampf 2013 wurde von den beiden großen Parteien als „Wohlfühlkampagne“ inszeniert. Angela Merkel (CDU) warb mit der Mütterrente, besseren Pflegeleistungen, bezahlbarem Wohnraum und dem Verzicht auf Steuererhöhungen. Peer Steinbrück (SPD) versprach den Wählern eine Rente ab 63, den gesetzlichen Mindestlohn und eine Mietpreisbremse. Im Unterschied zu Merkel wollte er aber die Steuern erhöhen. Vorschläge für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gab es in den Wahlprogrammen von Union und der SPD nicht.
Die Wirtschaftsverbände hatten zunächst die Hoffnung, dass die neue Regierung nicht alles umsetzen werde, was die Parteien den Wählern vor der Wahl versprochen hatten. Sehr schnell wurden sie aber eines Besseren belehrt. Union und SPD verständigten sich darauf, dass alle Wahlversprechen in den Koalitionsvertrag einfließen und schnell abgearbeitet werden sollten.
Schröders Agenda 2010
Am 14. März 2003 legte Bundeskanzler Gerhard Schröder dem Deutschen Bundestag ein grundlegendes Reformprogramm für den Arbeitsmarkt vor, dem man den Titel "Agenda 2010" gab. Ziel dieses Programms war es, die verkrusteten Strukturen des Arbeitsmarktes aufzulösen, um die wachsende Arbeitslosigkeit in Deutschland zu bekämpfen. Dazu hatte eine von Peter Hartz geleitete Reformkommission einen bunten Strauß von Ideen entwickelt, die Medien und Öffentlichkeit monatelang beschäftigten. Substantiell und brisant waren Vorschläge der Kommission zu Maßnahmen, die einerseits Unternehmen veranlassen sollten, mehr Mitarbeiter einzustellen, und andererseits den Arbeitssuchenden Anreize gaben, ein Arbeitsangebot auch anzunehmen. Zu diesen Maßnahmen gehörten insbesondere die Lockerung des Kündigungsschutzes und strengere Voraussetzungen für die Arbeitslosenhilfe.
Die Gewerkschaften und Sozialpolitiker sahen in solchen Vorschlägen den Bruch mit dem traditionellen "Arbeitnehmerschutz", den sie seit dem 1. Weltkrieg in Deutschland durchgesetzt hatten, und kündigten Schröder den Kampf an. Dieser wusste aber, dass es dazu keine vernünftige Alternative gab, weil dem Problem der Arbeitslosigkeit nach den gemachten Erfahrungen anders nicht beizukomnmen war. Und er wusste auch, dass ihn die konsequente Umsetzung seiner Reformagenda die Kanzlerschaft kosten könnte.
Rentenversicherung unter Druck
Ein wesentlicher Bestandteil der Schöder´schen Reformagenda war die Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, die durch politische Überforderung, demografische Entwicklung und steigende Arbeitslosigkeit unter Druck geraten war. Es war nicht das erste Mal, dass die im Jahr 1891 als "Invaliditäts- und Rentenversicherung" von Otto von Bismarck geschaffene Versicherung in Schwierigkeiten war.
Die Ursprünge aller deutschen Sozialversicherungen gehen auf die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881 zurück, die Wilhelm I. auf Veranlassung des Reichskanzlers von Otto von Bismarck an den Deutschen Reichstag sandte. Gegenstand dieser Botschaft war die Schaffung eines staatlichen Versicherungswesens, um die prekäre Existenz der Industriearbeiter zu verbessern und den wachsenden Einfluss der Sozialdemokraten einzudämmen. Im Laufe der folgenden Jahre beschloss der Reichstag die Errichtung einer Gesetzlichen Krankenversicherung (1884), einer Unfallversicherung (1885) und einer Invaliditäts- und Rentenversicherung (1891). Versichert wurden zunächst nur die Industriearbeiter.
In der Invaliditäts- und Rentenversicherung war - im Unterschied zur heutigen Rentenversicherung - eine durch Kapital gedeckte Finanzierung der Ausgaben vorgesehen. Der gesetzliche Beitrag von 1,7 Prozent war paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern aufzubringen. Zusätzlich zahlte das Deutsche Reich einen Zuschuss in die Rentenkasse. Die gesetzlichen Leistungen bestanden aus festen Renten ab dem 70. Lebensjahr, die den Charakter eines Unterhaltszuschusses hatten. Erst mit Einführung der Rentenversicherung für Angestellte wurde das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre herabgesetzt.
Schon 25 Jahre nach ihrer Gründung stand die staatliche Rentenversicherung finanziell am Abgrund: Der 1. Weltkrieges und die nachfolgende Hyperinflation vernichteten die Rücklagen, so dass der Steuerzahler einspringen musste. In der Weimarer Republik gelang es nicht, die Rentenversicherung wieder auf eine solide und eigene Grundlage zu stellen. Ebenfalls nicht unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, die andere politische Ziele verfolgten. So blieben die Renten bis in die fünfziger Jahre auf einem äußerst niedrigen Niveau. Die Neuordnung des Sozialwesens gehörte deshalb zu den großen Aufgaben, die sich der neuen Bundsrepublik stellten.
Große Koalition 2005-2009
Angela Merkel bestritt den Bundestagswahlkampf 2005 mit einem Reformprogramm, das die CDU auf ihrem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 mit überwältigender Mehrheit beschlossen hatte. Im Mittelpunkt standen ein erneuertes Steuerrecht und die Einführung der Prämienfinanzierung bei der Krankenversicherung. Mit diesen politischen Initiativen wollte die CDU die wirtschafftliche Stagnation überwinden und die hohe Arbeitslosigkeit bekämpfen. Mit der Vereinfachung und Senkung der Steuern sollten Impulse für wirtschaftliches Wachstum gesetzt werden. Die Umstellung der Finanzierung der Krankenversicherung von lohnabhängigen Beiträgen auf eine Gesundheitsprämie diente dem Zweck, die Arbeitskosten zu senken.
Nach der Bundestagswahl 2005 gerieten die Pläne der CDU schlagartig in Vergessenheit. Angela Merkel wollte Bundeskanzlerin werden und bildete mit der SPD eine große Koalition, in der die Sozialdemokraten alle Ministerien übernahmen, die für die Reformpolitik zuständig waren. Damit war der Konflikt zwischen der Bundesregierung und dem Wirtschaftsflügel der Union, insbesondere der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT), vorprogrammiert. Denn die Koalitionsregierung und die sie tragenden Parteien fühlten sich an frühere Parteitagsbeschlüsse immer weniger gebunden und verfolgten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik mehr und mehr einen von der SPD vorgegebenen Kurs.
Gerhard Schröders mutige Reformpolitik
In der späten Regierungszeit von Helmut Kohl wurde immer deutlicher, dass das Problem der wachsenden Arbeitslosigkeit und der damit einhergehende Überforderung der Sozialsysteme nur durch eine mutige Reformpolitik gelöst werden konnten. Es war die Rede von einem "Reformstau", der Deutschland im internationalen Wettbewerb immer weiter zurückwarf. In seiner berühmten Ruck-Rede vom 26. April 1997 sagte Bundespräsident Roman Herzog dazu:
„Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik. Staaten, die noch vor kurzem als Entwicklungsländer galten, werden sich innerhalb einer einzigen Generation in den Kreis der führenden Industriestaaten des 21. Jahrhunderts katapultieren. Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen. Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft.“
Merkels Abschied von der Reformpolitik
„Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freunde,
vor uns liegen zwei Tage mit bedeutenden Weichenstellungen für unsere Partei. Nach vielen Wochen intensiver Diskussion werden wir heute und morgen ein großes Reformpaket vollenden. Ich freue mich auf die Debatten dieses Arbeits-Parteitages, weil sie wichtig sind – für unsere Partei, für unser Land und für seine Menschen. Von diesem Parteitag in Leipzig geht das Signal hinaus: Wir, die Christlich Demokratische Union Deutschlands, haben die programmatische Kraft, den geistigen Führungsanspruch und den politischen Gestaltungswillen, Deutschland wieder nach vorne zu bringen! Denn Deutschland kann mehr.“
Mit diesen Worten eröffnete Angela Merkel am 1. Dezember 2003 den 17. Parteitag der CDU Deutschlands in Leipzig, der ein Reformparteitag werden sollte. Dies gelang mit dem von Friedrich Merz vorgestellten Steuerkonzept, wonach es anstelle des Progressionstarifs nur noch drei Steuersätze von 12, 24 und 36 Prozent geben sollte. Roman Herzog warb für die Gesundheitsprämie (180 Euro), die den lohnabhängigen Krankenversicherungsbeitrag ersetzen sollte. Beide Konzepte wurden von den Delegierten mit überwältigender Mehrheit angenommen. Der Parteitag sprach sich außerdem für die Heraufsetzung des Rentenalters auf 67 Jahre aus. Damit hatte Angela Merkel das von ihr angestrebte Ziel erreicht. Die CDU hatte den Anschluss an die Reformpolitik der SPD gefunden, und sie selbst konnte sich als Reformpolitikerin feiern lassen. Den erbitterten Widerstand des Sozialflügels der Union nahm sie in Kauf. Sozialpolitiker wie Norbert Blüm oder Karl-Josef Laumann waren in der Partei isoliert.
Erbschaftsteuerreform 2015
Als das Bundesverfassungsgericht am 17. Dezember 2014 urteilte, dass die geltende Verschonung der Betriebe von der Erbschafts- und Schenkungssteuer mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz unvereinbar ist, war abzusehen, dass die Neuregelung zu einer längeren Auseinandersetzung zwischen den Koalitionsparteien führen werde.
Lutz Göbel, Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, warnte: „Das Urteil kann die größeren Familienunternehmen in beträchtliche Schwierigkeiten stürzen“. Hans Peter Wollseifer, Präsident des Handwerks, warb für Augenmaß bei der Neuregelung: „Auch zuviel Bürokratie durch aufwendige Nachweispflichten bei neuen Regelungen ist für die kleinen Betriebe nicht tragbar.“ Dagegen forderte der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, „dass künftig auch die Multimillionäre und Milliardäre entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Erbschaftssteuer herangezogen werden“.
Die politische Geschichte des gesetzlichen Mindestlohns
Das zentrale Angebot der großen Koalition 2013 an die Gewerkschaften bestand in dem Angebot, in Deutschland einen flächendeckenden einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Im Koalitionsvertrag heißt es:
„Durch die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns soll ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmer sichergestellt werden. Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt.“
Mit dieser Vereinbarung wurde eine jahrelange Debatte über die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohnes beendet. An dieser Debatte hatte die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) intensiv teilgenommen und einen solchen Mindestlohn abgelehnt.