Steuerreform und Steuermoral
Die Geschichte des Steuerrechts ist von dem stetigen Bemühen geprägt, jedenfalls eine äußere Obergrenze der individuellen Steuerlasten zu definieren. Schon Friedrich der Große betonte, die Hirten sollten ihre Schafe scheren, ihnen aber nicht das Fell über die Ohren ziehen. Es sei nicht gerecht, dass der Einzelne „die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem Souverän teilt“ (1768). Das Bundesverfassungsgericht hat diese These im „Halbteilungsgrundsatz“ aufgenommen, aber gegenüber der schwankenden Gesetzgebung bisher auch noch keine scharfe Linie für eine Obergrenze der Besteuerung durchsetzen können.
Moderne Verfassungsstaaten stellen die Besteuerung strikt unter den Vorbehalt des Gesetzes. Dies dient dem Schutz des Steuerbürgers. Dem Gesetzgeber gelingt es jedoch gegenwärtig nicht, die Kultur des Maßes im Steuerrecht zu gewährleisten. Es ist deshalb ein lobenswertes Unternehmen, wenn sich die Wissenschaft dieses Themas annimmt.
Idealisten und Pragmatiker
Paul Kirchhof hat 2011 mit Experten der Steuerverwaltung ein Steuerkonzept entwickelt, dass mit 146 Paragrafen und 4 Steuerarten auskommt. Den Tarifverlauf der Einkommensteuer will er durch einen Einfachtarif von 25 Prozent ersetzen. Im Gegenzug sollen alle Vergünstigungen und Ausnahmen gestrichen werden, damit sich das Konzept selbst finanziert. „Es geht um mehr als eine Frage der juristischen Ästhetik. Es geht um das Vertrauen der Menschen in den Staat“, sagt Kirchhof. Ein redlicher Bürger könne mit dem Staat in Konflikt kommen, bloß weil er mit den Formularen für das Finanzamt überfordert sei. „Ich halte das für ein Unding.“
Steuerpolitiker und Steuerpraktiker sind jedoch an einer radikalen Steuerreform nicht interessiert. „Alte Steuern sind gute Steuern“, so lautet eine altbewährte Erkenntnis der Steuerpolitik, die in Berlin vorherrscht. „Das bestehende Steuersystem mag kompliziert, ungerecht und ineffizient sein, aber man hat sich daran gewöhnt und darauf eingestellt, es ist in den Wirtschafts- und Sozialstrukturen ´eingepreist´. Größere Steuerreformen bereiten Ärger, denn dabei gibt es viele Verlierer, die protestieren und entschädigt werden wollen. Daher sollten sich die Politiker einen Steuerwahlkampf gut überlegen.“ (Stefan Bach)
Deshalb denkt „keine Partei an einen großen Wurf. Begraben scheint die Idee, über systematische Vereinfachung des Steuerrechts oder wenigstens einzelner Steuern mehr Klarheit über die Belastung zu schaffen und das Gefühl zu stärken, es gehe gerecht zu“, schreibt Heike Göbel in der FAZ vom 11. August 2016. Dafür gibt es für Steuerpolitiker einen nachvollziehbaren Grund: Die Komplexität und Unübersichtlichkeit des Steuerrechts vermindert die öffentliche Kontrolle und erleichtert der Politik das nicht endende Drehen an der Steuerschraube.
Schäuble hat diesen Sachverhalt etwas anders formuliert: „Wir arbeiten kontinuierlich an der Umsetzung dessen, was wir für notwendig halten“, sagte er auf die Frage, ob die Koalition die Steuerversprechen umzusetzen gedenke. Außerdem habe die Regierung durch begrenzte Korrekturen in konkreten, nicht so spektakulären Schritten dafür gesorgt, „dass unser Steuerrecht einfacher und handhabbarer geworden ist.“ Die Realität sieht dann so aus: Die Loseblattsammlung „Steuergesetze“ aus dem Verlag C.H. Beck hatte 2009, dem Jahr von Schäubles Amtsantritt, 3380 Seiten. Allein bis Ende 2012 nahm der Umfang um 150 Seiten zu. “Nach anfänglicher Aufbruchstimmung und Betriebsamkeit ebbte der steuerpolitische Umsetzungs- und Gestaltungswille der Koalition offensichtlich ab“, klagte Reiner Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler.
Die steuerpolitische Untätigkeit früherer und des derzeitigen Finanzministers ist längst zu einer Belastung für den Wirtschaftsstandort Deutschland geworden. Dies offenbart erneut der diesjährige globale Wettbewerbsbericht des World Economic Forum (WEF), der Deutschland auf den 5. Rang herabgestuft hat. Der deutschen Wirtschaft werden zwar in den meisten Kategorien gute bis sehr gute Werte bescheinigt, in der Gesamtbeurteilung wird Deutschland aber durch schlechte Arbeitsmarktbedingungen und durch die hohen und komplizierten Steuern nach unten gezogen. In der Teilkategorie Steuern ist es inzwischen auf den 104. Platz abgerutscht.
Steuerrecht und Steuerehrlichkeit
Was von Seiten der Steuerpolitiker völlig ausgeblendet wird, ist der Zusammenhang zwischen Steuerrecht und Steuerehrlichkeit. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ein einfaches und verständliches Steuerrecht mit angemessenen Steuersätzen eine wesentliche Voraussetzung für Steuerehrlichkeit ist. Bürokratische Hürden im Steuerrecht, selbst für Experten kaum noch verständliche Steuertexte und eine Finanzverwaltung, welche die Beratung von Bürgern nur als lästige Pflicht ansieht, schrecken ab und verleiden selbst willigen Steuerzahlern das Steuerzahlen.
Erwiesenermaßen gibt es auch einen engen Zusammenhang zwischen der Steuerehrlichkeit und der Höhe der Steuersätze. Der reguläre Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der bei einem Einkommen von rund 54.000 Euro greift, trifft heute schon die Mitte der Gesellschaft. Jede Erhöhung sendet die Botschaft aus, dass Erfolg bestraft wird. Ohnehin werden Einkommen ab 250.000 Euro mit den „Reichensteuersatz“ von 45 Prozent noch kräftiger belastet. Schon der gesunde Menschenverstand lehrt, dass solche Steuersätze Anreize für steuerunehrliches Verhalten bieten.
Nachweislich ist die Steuermoral höher, wenn der Staat seine Mittel effizient verwendet. Es sind nicht nur die Steuerhinterzieher, die dem Gemeinwesen großen Schaden zufügen, sondern es ist auch eine staatliche Ausgabenpolitik, die nachlässig mit dem Geld der Steuer- und Abgabenzahler umgeht. Die teueren Großprojekte Elbphilharmonie in Hamburg, der Nürburgring in Rheinland-Pfalz oder der Flughafen Berlin-Brandenburg sind nicht nur eine Verschwendung von Steuermitteln, sondern senken auch die Steuermoral der Bürger.
Steuerhinterziehung kann sich wie eine ansteckende Krankheit ausbreiten. Haben Steuerzahler den Verdacht, dass die „anderen“ sich um ihre Steuerpflicht drücken oder dass man nur die richtige Beratung braucht, um Steuern zu vermeiden, kann Steuerhinterziehung sich in der Bevölkerung ausbreiten. Gegenseitiges Misstrauen gefährdet so die letzte Bastion der Steuerehrlichkeit. „Verkürzt gesagt: Steuerpolitik, Steuergesetzgebung und Steuerverwaltung produzieren die zu ihnen passenden Steuerbürger.“ (Hanno Beck und Aloys Prinz)
Derzeit wird von der Steuerverwaltung der Eindruck vermittelt, als ob der Kampf gegen Steuersünder jedes Mittel heiligt. Dazu gehört beispielsweise der heimliche Ankauf von gestohlenen Bankdaten oder die öffentliche Brandmarkung von prominenten Personen, denen Steuerhinterziehung vorgeworfen wird. Keine Frage: Steuerhinterziehung ist Betrug am Fiskus, der bestraft werden muss. In einem Rechtsstaat gelten dafür aber geschriebene und selbstverständliche Regeln, die in Vergessenheit zu geraten scheinen.
In diese Rubrik gehören aktuell auch Pläne des Bundesfinanzministeriums, Steuerberater gesetzlich zu verpflichten, dem Finanzamt Steuersparmodelle zu melden, die sie ihren Mandanten empfehlen. Schon 2007 hatte der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück einen solchen Anlauf gestartet, der aber an rechtlichen Bedenken gescheitert war. Das von Wolfgang Schäuble beauftragte Max-Planck-Institut ist nun aber zu dem Ergebnis gekommen, dass die früheren Bedenken "weitgehend nicht stichhaltig " sind. Die geplante Auskunftspflicht für Steuerberater soll deshalb möglichst schnell beschlossen werden. Für den Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer, Ekkehart Schäfer, ist es jedoch eine "Absurdität", dass Steuerpflichtige dem Staat vorab melden sollen, wie sie legal Steuern sparen wollen. Schließlich sei der Gesetzgeber für "schlechte Gesetze" verantwortlich. Gebe es im gesetzlichen Rahmen Spielräume, in denen Steuerpflichtige ihre Gestaltungsfreiheit übermäßig ausnutzen, sei es Aufgabe des Gesetzgebers, diese Lücken zu schließen.
Mitte 2017 legte die Europäische Kommission hierzu einen Richtlinienvorschlag vor, wonach künftig grenzüberschreitende Steuersparmodelle, die als "potentiell aggressiv" eingestuft werden und Steuerverluste verursachen können, innerhalb von fünf Tagen unaufgefordert den nationalen Steuerbehörden zu melden sind. Wer sich nicht daran hält, muss mit Strafen rechnen. Die Mitgliedstaaten können für Berufe, die nach nationalem Recht einer Verschwiegenheitspflicht unterliegen, Ausnahmen vorsehen. Wenn ein Anwalt oder Steuerberater die Auskunft nicht erteilen darf, soll er diese auf seinen Mandanten übertragen können. In Deutschland arbeitet inzwischen eine Bund-Länder-Gruppe an der Umsetzung dieser Richtlinie in nationales Recht. Laut Auskunft der Finanzverwaltung sollen die Arbeiten im Oktiober 2017 abgeschlossen sein. "Bund und Länder wollen deutlich über den Vorstoß aus Brüssel hinausgehen", befürchtet der Deutsche Sterberaterverband.
Die Gesetzesinitiative zielt auf die Bekämpfung der gestaltenden Steuervermeidung ab, die sich innerhalb des geltenden Steuerrechts bewegt. Mit Hilfe der Meldepflicht sollen die Finanzbehörden möglichst früh auf unerwünschte Gestaltungen aufmerksam gemacht werden, um darauf schnell reagieren zu können. Letztendlich stellen sich die Finanzbehörden damit ein Armutszeugnis aus, weil sie offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, die Anwendungsmöglichkeiten der von ihnen geschaffenen Gesetze zu überblicken. Das Max-Planck-Institut fordert deshalb konsequent, dass mit der Einführung einer Anzeigepflicht auch die Planungssicherheit für die Steuerpflichtigen und ihre Berater verbessert werden muss. "Denn legitim ist nicht nur das Interesse des Gesetzgebers daran, über aus seiner Sicht unerwünschte Gestaltungsmöglichkeiten frühzeitig informiert zu werden; ebenso legitim ist das Interesse der Steuerpflichtigen daran, unter weitgehender Rechtssicherheit planen zu können", heißt es in dem Rechtsgutachten.
„Die schlechte Steuermoral von „Reichen“ und „Unternehmen“ zu skandalisieren und nach mehr Kontrollen zu rufen, ist einfach, aber wenig hilfreich. Skandale in Sachen Steuerhinterziehung und Steuerverschwendung sollten dazu genutzt werden, die Steuer- und Ausgabenpolitik, die Steuergesetzgebung und das Gebaren der Finanzverwaltung zu reformieren; dann hätten sie etwas Gutes“, schreiben Hanno Beck und Aloys Prinz.