Europäische Integration
In Fragen der europäischen Integration und der Wirtschaftspolitik bestanden zwischen Deutschland und Frankreich in der Nachkriegszeit gravierende Unterschiede. Beide Länder standen zwar vor der gleichen Aufgabe: Sie mussten ihre kriegszerstörte Wirtschaft wiederaufbauen. Auf dem Weg dahin wählten sie aber verschiedene Wege. Deutschland entschied sich unter Ludwig Erhard für die „Soziale Marktwirtschaft“. Demgegenüber ging Frankreich mit der von Jean Monnet konzipierten „planification francaise“ den Weg der gelenkten Wirtschaft. Diese historischen Unterschiede wirken bis heute fort und prägen insbesondere die Vorstellungen der Deutschen und Franzosen über die europäische Integration.
Ludwig Erhard verstand unter Wirtschaftspolitik in erster Linie Ordnungspolitik, d.h. die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Beim Wiederaufbau setzte er auf die Dynamik freier Unternehmer und überließ die Steuerung der Wirtschaft weitgehend den Märkten. So viel Freiheit wie möglich, so viel Regulierung wie nötig, war das ungeschriebene Leitmotiv der Wirtschaftspolitik in Deutschland.
Demgegenüber standen der Staat und seine Gestaltungsmacht in Frankreich immer im Vordergrund der Wirtschaftspolitik. Es war deshalb selbstverständlich, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg nicht den Unternehmen und Märkten überlassen, sondern staatlich geplant wurde. Zweck der von Jean Monnet organisierten Wirtschaftsplanung war es, die französische Wirtschaft regional und branchenmäßig mit Hilfe eines „plan activ“ zu steuern. Tiefgreifender konnten die wirtschaftspolitischen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich nicht sein.
Schäubles Grexit-Papier
Am Morgen des 13. Juli 2015 meldete der belgische Ministerpräsident über Twitter: „Agreement“. Die Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone hatten sich in einer Marathon-Sitzung über die Eckpunkte eines dritten Hilfspakets für Griechenland geeinigt. Der Deutsche Bundestag stimmte den Ergebnissen des Gipfeltreffens zu, so dass der Weg für konkrete Vertragsverhandlungen frei war. Voraussetzung für die Zustimmung des Bundestages war aber die Beteiligung des IWF an dem Hilfspaket für Griechenland.
Im Ergebnis verständigten sich die Euro-Länder darauf, dass der Rettungsfonds ESM den Griechen weitere Finanzhilfen über insgesamt 90 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wird, um den Staatskonkurs abzuwenden. Etwa 54 Milliarden Euro wurden benötigt, um die Tilgungs- und Zinsverpflichtungen gegenüber der EZB und dem IWF in den nächsten drei Jahren zu erfüllen. Hinzu kamen 25 Milliarden Euro, mit denen die griechischen Banken vor dem Zusammenbruch geschützt werden sollten. Mit weiteren 11 Milliarden Euro sollte der griechische Staat seine offenen Rechnungen, die Löhne und Renten bezahlen.
Merkels Verzicht auf die Euro-Regeln
Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 deutete wenig darauf hin, dass Griechenland zum nächsten Problemfall werden könnte. Auf das Land entfielen nur 2,0 Prozent der Wirtschaftsleistung Europas. Griechische Banken besaßen auch kaum Schrottpapiere aus den USA. Nur die Rating-Agenturen waren vorsichtiger. Anfang 2009 stuften sie das Land wegen steigender Staatsverschuldung und steigender Zinsen um eine Note auf A- herunter. Politischer Handlungsbedarf wurde daraus aber noch nicht abgeleitet.
Erst als der griechische Finanzminister im Oktober 2009 ein Haushaltsdefizit von 12 Prozent und mehr ankündigte, rückte Griechenland wieder auf die Tagesordnung. Es gab Warnungen aus Bankenkreisen. Die Rating-Agenturen setzten das Land auf die Note B herab. Hilfen für Griechenland waren aber weiterhin kein Thema. Wolfgang Schäuble erklärte der BILD: „Die Griechen haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Wir Deutschen können nicht für Griechenlands Probleme zahlen.“
Angela Merkel weigerte sich ebenfalls, Griechenland finanzielle Hilfe in Aussicht zu stellen. Als sie in einem ARD-Interview gefragt wurde, ob es Finanzhilfen für Griechenland geben wird, antwortete sie: "Das ist ausdrücklich nicht der Fall." Selbst die EZB wollte hart bleiben. EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark sagte noch Anfang 2010: „Die Märkte täuschen sich, wenn sie davon ausgehen, dass andere Mitgliedsstaaten in die Brieftasche greifen, um Griechenland zu helfen.
Das gescheiterte „Europrojekt“
Der Euro ist ein europäisches Projekt, mit dem in erster Linie politische Ziele verbunden waren. Frankreich wollte mit dem Euro die Dominanz der D-Mark beseitigen. Deutschland hatte das Ziel, mit einer einheitlichen Währung die europäische Integration unumkehrbar zu machen.
Wirtschaftliche Sachgesetzlichkeiten mussten hinter den politischen Zielen zurücktreten. Unbeachtet blieb die Kritik der Euroskeptiker, dass das Eurogebiet wegen fundamentaler gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und staatlicher Unterschiede in den Mitgliedsländern kein optimaler Währungsraum ist. Die Befürworter des Euro setzten sich auch über die Zweifel hinweg, dass die traditionellen Weichwährungsländer im Süden Europas durch die gemeinsame Währung zu einer soliden Finanz- und Wirtschaftspolitik finden würden.
Die verfehlte Rettungsstrategie
Mit dem ESM haben die EU-Staaten einen dauerhaften Stabilitätsmechanismus zur Finanzierung notleidender Staaten im Euro-Raum geschaffen. In dem dazu neu gefassten Artikel 136 Absatz 3 AEUV sind die Voraussetzungen für seine Aktivierung festgelgt worden. Danach darf der ESM nur tätig werden, "wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen".
Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben sich im Juli 2015 darauf verständigt, dass der ESM den Griechen weitere Finanzhilfen über insgesamt 90 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wird, um den Staatskonkurs abzuwenden. Hierzu wurde zwischen der sog. Troika (Vertreter der EU, EZB und IWF) und der griechischen Regierung ein „memorandum of understanding“ unterzeichnet, in dem die erforderlichen Auflagen für die Gewährung der Finanzhilfen festgelegt wurden.
Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die Finanzhilfen an Griechenland rechtlich zulässig, wirtschaftlich sinnvoll und politisch zweckmäßig sind.
Der politische Euro
Die Einführung des Euro war von Anfang an ein politisches Projekt, mit dem die Beteiligten unterschiedliche Ziele verbanden. Frankreich hatte nationale Ziele: Es ging es darum, die starke Deutsche Mark, die in Europa faktisch als Leitwährung fungierte, durch eine europäische Währung und die Deutsche Notenbank durch eine Europäischen Zentralbank (EZB) zu ersetzen. Damit sollte der verloren gegangene französische Einfluss auf die Geld- und Währungspolitik wieder hergestellt werden.
Demgegenüber verfolgte Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Einführung des Euro das Ziel, die europäische Integration mit Hilfe einer Währungsunion voranzutreiben und unumkehrbar machen. „Der Weg zur Europäischen Einheit ist unumkehrbar. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die ein Ausbrechen oder einen Rückfall in früheres nationalstaatliches Denken mit all seinen schlimmen Konsequenzen unmöglich macht“, sagte er im Dezember 1991 nach Abschluss der Verhandlungen in Maastricht über die Einführung des Euro. Sein Ziel war ein vereinigtes Europa, das man sich als einen europäischen Bundesstaat vorstellte. "Deshalb hatte ich keinen Zweifel daran, dass die Politische Union in allen Bereichen rasch an Substanz gewinnen und in einigen Jahren insgesamt in einem klaren Gemeinschaftsrahmen stehen würde", schrieb Helmut Kohl später in seinen Erinnerungen.