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Banken- und Finanzkrise : Verfassungsgrenzen der EZB-Politik
08.05.2020 21:52 (1521 x gelesen)

Verfassungsgrenzen der EZB-Politik

Ende 2018 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Europäische Zentralbank (EZB) mit dem Ankauf von Staatsanleihen ihr Mandat nicht überschritten habe. Dieses Urteil provozierte scharfe Kritik aus Deutschland. Denn in seinem Vorlagebeschluss hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG)  von "gewichtigen Gründen" gesprochen, die für eine Kompetenzüberschreitung durch die EZB sprächen.

Die Kläger rügten, der Europäische Gerichtshof sei  "nicht gewillt, die Europäische Zentralbank in die Schranken ihres Mandats zu verweisen". Die Entscheidung führe zu einer "weiteren Umgestaltung der Währungsunion", kritisierte der zu den Klägern gehörende Peter Gauweiler (CSU). Auch der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm warf dem EuGH vor, eine schleichende Aushöhlung nationaler Kompetenzen zu betreiben, die fernab vom Grundgesetz und in einem nicht demokratischen Modus erfolge (FAZ vom 10.Dezember 2019).

In dieser Lage stand das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vor der Aufgabe, über die Verfassungsbeschwerden endgültig zu entscheiden. Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Folgte es dem EuGH, hätte es die Verfassungsbeschwerden als unbegründet zurückzuweisen müssen. Das hätte faktisch eine Demontage des BVerfG bedeutet. Hielte es die Verfassungsbeschwerden trotz des EuGH-Urteils jedoch für begründet, wäre das ein europäischer Eklat zwischen den obersten Gerichten, der Folgen haben könnte.

Das BVerfG hat sich mit dem Urteil vom 5. Mai 2020 für den letzteren Weg entschieden und den Verfassungsbeschwerden stattgegeben.
 

I
Begründung der BVerfG-Entscheidung

Der Präsident des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle sagte zu Beginn der Urteilsverkündung: „Erstmals in der Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können.“ Bundesregierung und Bundestag seien deshalb verpflichtet, der Handhabung des EZB-Aufkaufprogramms entgegenzutreten.

Diese Entscheidung beruht auf folgenden Gründen:

1. Nach stetiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist seine Pflicht, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns  (= Überschreiten der zugewiesenen Kompetenz) der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen. Doch wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Vorrang des europäischen Rechts praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe.

Dass in den Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen. Dies kennzeichnet die Zusammenarbeit in der Europäischen Union, die ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund ist (BVerfGE 140, 317).

2.  Die Auffassung des EuGH, der Beschluss des EZB-Rates über das Staatsanleihekaufprogramm PSPP sei noch kompetenzgemäß, verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar.

Der Ansatz des Gerichtshofs, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht zu lassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung zu verzichten, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats der EZB. Bei dieser Handhabung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV) im Grunde leerlaufen lässt.

Das völlige Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Auswirkungen widerspricht auch der methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung. Das wird der Schnittstellenfunktion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Rückwirkungen, die dieses auf die methodische Kontrolle seiner Einhaltung haben muss, nicht gerecht.

3.  Die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die darauf gestützte Bestimmung des Mandats der EZB überschreiten deshalb das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat. Die Selbstbeschränkung seiner gerichtlichen Prüfung darauf, ob ein „offensichtlicher“ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme „offensichtlich“ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile „offensichtlich“ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen, vermag die auf die Währungspolitik begrenzte Zuständigkeit der EZB nicht einzuhegen. Sie gesteht ihr vielmehr selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterungen zu oder erklärt diese jedenfalls für gerichtlich nicht oder nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat jedoch entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips und die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union.

4.  Da der Senat somit nicht an die Entscheidung des Gerichtshofs gebunden ist, hat er eigenständig zu beurteilen, ob das Eurosystem mit den Beschlüssen zur Errichtung und Durchführung des PSPP noch innerhalb der ihm primärrechtlich eingeräumten Kompetenzen gehandelt hat. Das ist mangels hinreichender Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht der Fall.

Ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen wie das PSPP, das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, setzt insbesondere voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die erforderliche Abwägung des währungspolitischen Ziels mit den mit dem eingesetzten Mittel verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen ergibt sich nicht aus den verfahrensgegenständlichen Beschlüssen. Sie verstoßen deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV und sind von der währungspolitischen Kompetenz der EZB nicht gedeckt.

Die Beschlüsse beschränken sich auf die Feststellung, dass das angestrebte Inflationsziel nicht erreicht sei und weniger belastende Mittel nicht zur Verfügung stünden. Sie enthalten keine Prognose zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms sowie dazu, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den erstrebten währungspolitischen Vorteilen stehen. Es ist nicht ersichtlich, dass der EZB-Rat die im PSPP angelegten und mit ihm unmittelbar verbundenen Folgen erfasst und abgewogen hätte, die dieses aufgrund seines Volumens von über zwei Billionen Euro und einer Laufzeit von mittlerweile mehr als drei Jahren zwangsläufig verursacht. Die negativen Auswirkungen des PSPP nehmen mit wachsendem Umfang und fortschreitender Dauer zu, sodass sich mit der Dauer auch die Anforderungen an eine solche Abwägung erhöhen:

• Das PSPP verbessert die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können; es wirkt sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Es kann insbesondere dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags.
• Das PSPP wirkt sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernimmt, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessert und ihre Bonität erhöht.
• Zu den Folgen des PSPP gehören zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken.
• Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen bleiben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt.
• Schließlich begibt sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln kann.

Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Eine solche Abwägung ist, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ohne die Dokumentation, dass und wie diese Abwägung stattgefunden hat, lässt sich die rechtliche Einhaltung des Mandats der EZB gerichtlich nicht effektiv kontrollieren.

5. Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank ist es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.

II

Politische Reaktionen

Die EZB bemühte sich um Deeskalation. „Keine der beteiligten Institutionen, weder die EZB, noch die Bundesbank oder die Bundesregierung haben ein Interesse daran, dass der Fall eskaliert“, hieß es aus Notenbankkreisen. Die geforderte Erklärung sei technisch leicht zu erstellen. Was das Gericht verlange, falle nur in den Bereich der „Rechenschaftspflichtigkeit“ der Notenbank, die ohnehin bestehe. Im Übrigen sehe man sich vom Europäischen Gerichtshof in dessen Entscheidung aus dem Dezember 2018 insoweit bestätigt, als die EZB die Grenzen ihres Mandats nicht überschritten hat. 

Aus Italien und Frankreich gab es demgegenüber kritische Stimmen. Italiens Regierungschef Giuseppe Conte wetterte in einem Interview: „Es ist nicht die Sache irgendeines Verfassungsgerichts zu entscheiden, was die EZB machen oder nicht machen kann.“ Aus Italien kamen sogar Forderungen, die EU-Kommission sollte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleiten, weil dessen Verfassungsgericht EU-Recht verletze. Dem stimmte Valdis Dombrovskis, der Vize-Exekutivpräsident der EU-Kommission, asdücklich zu: „Der Europäische Gerichtshof kann sich keines ausgreifenden Rechtsaktes („ultra vires“) schuldig machen, wenn er ausschließlich europäisches Recht interpretiert.“ An diese Interpretation seien die nationalen Gerichte gebunden. Die EU prüfe das Urteil der BVerfG und behalte sich weitere Schritte vor.

Der französische Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau kritisierte in der Nationalversammlung indirekt das Bundesverfassungsgericht, indem er auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinwies: „Wie der Europäische Gerichtshof gesagt hat, ist unser Handeln verhältnismäßig zu unserem Mandat. An unserer Entschlossenheit, in Zukunft unser Mandat zu sichern, kann es keinen Zweifel geben.“

Das frühere EZB-Mitglied Benoît Coeré schrieb auf Twitter, es gehe um eine Grundsatzfrage: Manche sähen Europa als eine lockere Gruppe von Staaten mit einigen gemeinsamen Institutionen, andere gleichsam als eine unvollständige Föderation. Das Bundesverfassungsgericht gehöre offenbar in die erste Gruppe  –  der Europäische Gerichtshof und die meisten Mitgliedsstaaten aber in die zweite.

Die Bundesregierung hat sich zu dem Urteil des BVerfG noch nicht abschließend geäußert. In früheren Verlautbarungen hat sie immer wieder betont, sie wolle zu den Entscheidungen der EZB nicht Stellung nehmen, weil diese „unabhängig“ sei. Auf diese Unabhängigkeit hatte sich vor allem Wolfgang Schäuble als Finanzminister berufen, wenn er um eine Stellungsnahme zu den Anlagekäufen gebeten wurde.

Vor dem Europäischen Gerichtshof musste die Bundesregierung jedoch Farbe bekennen. In ihrer Stellungnahme gegenüber dem Europäischen Gerichtshof unterstützte sie offen die Linie der EZB bei ihrer Ankaufspolitik und distanzierte sich damit von der kritischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Nach Meinung der Bundesregierung, vertreten durch ihren Finanzminister, hatte die EZB innerhalb des ihr erteilten Mandats gehandelt.

Inzwischen kann Schäuble das Urteil des BVerfG nachvollziehen: „Unabhängige Institutionen, die nicht demokratisch legitimiert und kontrolliert sind, müssen sich streng auf ihr Mandat begrenzen und dürfen es nicht zu weit auslegen. Das Urteil des Bundesverfassungsgericht ist also nicht ganz einfach zu widerlegen.“ Er sieht jedoch Gefahren für den Fortbestand des Euro: „Es kann gut sein, dass in anderen EU-Mitgliedstaaten nun auch der Bestand des Euro in Frage gestellt wird – weil ja jedes nationale Verfassungsgericht für sich urteilen könne.“

Damit folgt er dann doch wieder der Linie des EuGH, der als Reaktion auf das Urteil des BVerfG erklärt hat: „Um die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu wahren, ist nur der zu diesem Zweck von den Mitgliedstaaten geschaffene EuGH befugt, festzustellen, dass eine Handlung eines Unionsorgans gegen Unionsrecht verstößt.“

Nach der Rechtsauffassung des EuGH sollen seine Entscheidungen in Fragen des Europarechts alle nationalen Gerichte binden, auch das BVerfG. Dies soll selbst dann gelten, wenn die EuGH-Entscheidungen gegen fundamentale Grundsätze des Europarechts verstoßen. Dieser verfehlten Rechtsansicht  mit der Entscheidung vom 5. Mai 2020 widersprochen zu haben, ist das Verdienst des 2. Senats des BVerfG unter dem Vorsitz von Voßkuhle. Der Senat hat damit Rechtsgeschichte im besten Sinne geschrieben.


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