Corona-Krise - ohne Ende?
Alle Welt sucht nach dem richtigen Weg aus der Corona-Krise, auch die Bundesregierung. Wie kann man die Bevölkerung vor dem ansteckenden Virus und die Wirtschaft vor dem Kollaps schützen?
Die Bundesregierung hat in Abstimmung mit den Ländern und Kommunen zur Eindämmung der Corona-Krise bisher folgende Maßnahmen auf den Weg gebracht:
• Die Krankenhauskapazitäten wurden aufgestockt, um die Pandemie zu bekämpfen. Inzwischen gibt es mehr Intensivbetten als benötigt werden.
• Umfassende Ausgangssperren, Kontakt- und Veranstaltungsverbote etc. (Lockdown) wurden angeordnet, damit sich der Virus nicht weiter verbreitet. Seitdem hat sich die Infektionsrate vermindert. Gleichzeitig sind große Teile der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens zum Erliegen gekommen.
• Den wirtschaftlichen Kollateralschaden will die Politik mit finanziellen Hilfen (Darlehen, Subventionen, Steuervergünstigungen etc.) ausgleichen bzw. mildern. Gleichwohl ist zu befürchten, dass viele Unternehmen die Corona-Krise nicht überstehen werden.
Die Bundes- und Landesregierungen stehen dabei vor einer schwierigen Abwägungsfrage: Der Lockdown dient dem Gesundheitsschutz, kostet aber nach den Berechnungen des Ifo-Instituts wöchentlich etwa 25 bis 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung. Solche Kosten können nicht dauerhaft durch staatlichen Hilfsprogrammen aufgefangen werden. Schon jetzt gerät der Staat an seine Grenzen. Der Gesundheitsfonds schrumpft massiv. Die Reserven der Bundesagentur für Arbeit reichen höchstens noch bis Ende dieses Jahres.
Die Diskussion um die Sinnhaftigkeit der bisherigen Maßnahmen hat bereits begonnen.
1. Der von der Bundesregierung auf Grund des Infektionsschutzgesetzes angeordnete Lockdown war eine Ad-hoc-Maßnahme, um schnell und wirkungsvoll auf das sich verbreitende Corona-Virus zu reagieren. Es gab dazu im Kanzleramt und dem Gesundheitsministerium weder einen vorbereiteten Plan noch eine Folgenabschätzung. Offen war auch, ob und wann und in welchen Schritten der Lockdown gelockert oder aufgehoben wird. In rechtlicher Hinsicht ging man davon aus, dass die angeordneten Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen seien, um ihren Zweck zu erreichen.
Ziel des Bundeskanzleramtes war es, die Corona-Krise pragmatisch nach dem Muster "Trial and Error" zentral zu steuern und zu kontrolliern. Dabei sollte der Lockdown einheitlich für ganz Deutschand gelten, um einen Flickenteppich von Regelungen zu vermeiden. Auch die Aufhebung oder Lockerung von Verboten sollte einheitlich erfolgen, um die Verbreitung des Virus zu verhindern. Dazu benötigte das Kanzleramt aber das Einverständnis der Landesregierungen, weil die Durchführung des Infektionsschutzes Sache der Bundesländer ist.
Mit dieser Strategie ist Angela Merkel am 6. Mai 2020 in der Schaltkonferenz mit den Ministerpräsidenten der Länder gescheitert. Während das Bundeskanzleramt den Lockdown angesicht der weiterhin bestehenden Infektionsgefahr nur in kleinen Dosen für ganz Deutschland lockern wollte, kündigten einige Ministerpräsidenten an, sie würden darüberhinaus Verbote und Einschränkungen aufheben bzw. lockern. Sie begründeten das mit der gesunkenen Infektionsgefahr und der Notwendigkeit, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben wieder zu beleben.
Angela Merkel hatte solche Absichten in einer internen Runde als "Öffnungsdiskussionsorgien" disqualifiziert. Auch in der gemeinsamen Konferenz mit den Ministerpräsidenten gab sich Merkel dem Vernehmen nach wenig Mühe, ihre Verärgerung zu verbergen. Zermürbt vom Druck der Länder in der Debatte über eine Aufweichung der Kontaktbeschränkungen erklärte sie genervt, sie sei "kurz davor aufzugeben". Gemeint war die Durchsetzung einheitlicher Regeln. Die Autorität der Kanzlerin reichte nicht mehr aus, um die 16 Ministerpräsidenten zur Einheit zu zwingen.
2. Die Absichten der Länder kommen den Plänen der Wirtschaftsverbände entgegen, die schon seit längerem von der Politik fordern, die Kontakt- und Ausgangssperren zu lockern, um den wirtschaftlichen Absturz ins Bodenlose zu verhindern und die Unternehmen wieder in Schwung zu bringen. Davon erhofft man sich vor allem eine Belebung der Betriebe mit intensivem Kundenkontakt sowie der diesen Betrieben vorgelagerten Produktions- und Dienstleistungsbereiche.
Soweit Unternehmen auf Grund behördlicher Anordnungen schließen mussten, fehlt ihnen jeglicher Umsatz bei fortlaufenden Kosten. Betroffen sind vor allem der Einzelhandel, das Gastgewerbe oder der Tourismus. Laut Sachverständigenrat machen die betroffenen Bereiche knapp 7 Prozent der Bruttowertschöpfung und etwa 12 Prozent der Beschäftigung aus.
Nachfragerückgänge gibt es aber auch in der Industrie, wo es keine behördlichen Schließungen gibt. Dort wird weniger produziert, weil entweder die Nachfrage fehlt (Die Kunden halten sich mit Investitionen zurück; die Exportnachfrage ist zurückgegangen) oder weil angebotsseitige Hemmnisse zu Einschränkungen der Produktion führen (Es fehlen die erforderlichen Vorleistungen; die Mitarbeiter sind freigestellt; die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der Europäischen Union ist eingeschränkt etc.). Weltweit kommt es dadurch zu Unterbrechungen der globalen Lieferketten, zu Produktionsengpässen und zu Produktionsausfällen.
Aus diesem Grund hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung vorgeschlagen, der Wirtschaft generell statt eines sektoralen Lockdowns „klare Regeln vorzugeben, die helfen, die Virusausbreitung einzudämmen“. Die Regeln „könnten etwa Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, einen Mindestabstand zwischen Personen oder eine maximale Personenzahl pro Quadratmeter, notwendige Schutzbekleidung oder Hygienevorschriften umfassen.“ Solche Regeln hält der Sachverständigenrat für effektiver „als die behördliche Öffnung und Schließung von Unternehmen und Wirtschaftsbereichen“.
Unternehmen und Einrichtungen könnten nach dem Vorschlag des Sachverständigenrates wieder öffnen, wenn sie die Regeln einhalten. Hierzu empfiehlt der Sachverständigenrat der Bundesregierung, sich von einer Expertenkommission mit Vertretern vieler Disziplinen beraten zu lassen. Über eine Lockerungsstrategie sollte die Bundesregierung zudem nach Meinung des Sachverständigenrates nicht im nationalen Alleingang entscheiden. Schon wegen der internationalen Arbeitsteilung und globaler Absatzmärkte empfiehlt er eine internationale Koordinierung, insbesondere innerhab der EU.
3. Bund und Länder sind mit ihren Entscheidungen von Mitte April (zur Corona-Krise) den Vorschlägen des Sachverständigenrates nicht gefolgt. Dafür steht exemplarisch die 800-Quadratmeter-Grenze, die der Einzelhandel einhalten muss, wenn er wieder öffnen will. Große Möbel-, Sport- und Textilgeschäfte bleiben also weiterhin geschlossen. "Die Politik will verhindern, dass die Leute in die Stadt gehen. Das ist wahrscheinlich gelungen", sagte der Präsident des Handelsverbandes Textil. Auch der Handelsverband HDE kritisiert diese Maßnahme, weil die 800-Quadratmeter-Grenze mitten durch die Innenstädte verläuft und eine solche Differenzierung unverhältnismäßig ist.
Gleichzeitig hat das Bundeskabinett jedoch auf Vorschlag von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil zusätzlich einen Katalog von Regeln beschlossen, die Unternehmen beachten müssen, wenn sie produzieren oder wirtschaftlich tätig sein wollen. Der sogenannte "Sars-CoV-2 Arbeitsschutzstandard" umfasst zehn Maßnahmen gegen Infektionsrisiken in Geschäften, Fabriken, Büros und auf Baustellen. Seine Grundregeln gelten bundeseinheitlich für alle Branchen. Die Umsetzung wird von den Berufsgenossenschaften begleitet und überwacht - und falls nötig mit Bußgeldern und Betriebsschließungen durchgesetzt.
So müssen die Betriebe für jeden Arbeitsplatz ein Mindestabstand von 1,5 Metern zu allen Personen sicherstellen. Wo das technisch nicht möglich ist, sind Plexiglasscheiben wie in Supermärkten aufzubauen. Falls auch das für den Arbeitsablauf nicht praktikabel ist, müssen Schutzmasken benutzt werden. Für Büroarbeit gilt zudem, dass sie "nach Möglichkeit im Homeoffice auszuführen" ist. "Das ist die Latte, die jeder überspringen muss, wenn er seinen Betrieb aufmachen will", sagte Stefan Hussy von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Bundesregierung verfolgt also eine Doppelstrategie: Um das Infektionsrisiko zu minimieren, fordert sie den strengen Lockdown und beschließt gleichzeitig ein umfängliches Regelwerk. Eine schlüssige, nachvollziehbare und akzeptable Anti-Corona-Strategie, die auch die Belastung der Wirtschaft im Auge hat, sieht anders aus. Carsten Linnemann (CDU), Chef der Mittelstandsunion, forderte deshalb zu Recht eine klare Entscheidung der Bundesregierung: "Wir brauchen keine weiteren Verbote, sondern klare Abstands- und Hygienregeln, die für jeden nachvollziehbar sind."
Nachdem nun die Länder die Lockerung des Lockdowns in die Hand genommen haben, besteht die Chance, das bestehende Regelwerk differenziert und praxisnah anzuwenden. Die Aufhebung der 800-Quadratmeter-Grenze ist dafür ein erstes Beispiel. Zu begrüßen ist auch die gemeinsame Notbremse, auf die sich die Länder verständigt haben: "Deshalb werden die Länder sicherstellen, dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden umgesetzt wird."
4. Für das bei den Ländern angesiedelte Konzept zur Bekämpfung der Corona-Krise sollte darüberhinaus folgendes Prinzip gelten: In der Corona-Krise ist die Wirtschaft nicht Täter, sondern Opfer von Ereignissen außerhalb ihres Einflussbereichs. Das unterscheidet diese Krise von der Finanzkrise 2008, die auf dem Platzen der amerikanischen Immobilienblase, also auf einem „endogenen Schock“, beruhte, den die Finanzwirtschaft voraussehen konnte. Demgegenüber handelt es sich bei der Corona-Krise für die Wirtschaft um einen „exogenen Schock“, für den die Politik mitverantwortlich ist, weil sie es versäumt hat, darauf rechtzeitig zu reagieren.
Daraus folgt für eine angemessene und verhältnismäßige Corona-Strategie der Regierung, dass sie die Wirtschaft nur belasten darf, soweit dies unbedingt notwendig ist. Gibt es zur Bekämpfung der Pandemie mehrere Alternativen, muss sie diejenige wählen, die die Wirtschaft am wenigsten belastet. Daran orientiert sich der Vorschlag des Sachverständigenrates, den Lockdown soweit wie möglich aufzuheben und durch ein generelles Regelwerk zu ersetzen.