Zukunft der Kernkraftsparte
Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie werden nicht nur Meiler stillgelegt, sondern Deutschland verzichtet auch auf einen Technologiebereich, in dem es eine führende Position inne hatte. Aufgrund exzellenter Forschung auf dem Gebiet der Kernenergie und innovativer Technik beim Bau von Kernkraftwerken sind die deutschen Atomkraftwerke die sichersten und modernsten Anlagen in der Welt. Mit Aufgabe der zivilen Atomnutzung verschwindet auch der dazu gehörende Forschungs- und Technikbereich, was ebenfalls auf das Verlustkonto der Energiewende zu buchen ist. Mit dem deutschen Ausstieg aus der Atomenergie ist jedoch nicht das Ende des Atomzeitalters eingeläutet. Weltweit sind gut fünfhundert Atommeiler in Betrieb, ein Achtel davon befindet sich im Bau.
Reste der Kernkrafttechnik
Die deutsche Bundesregierung hat zwar die öffentliche Förderung der Atomforschung komplett gestrichen. Es gibt aber weiterhin Fördermittel aus Brüssel, weil Deutschland Mitglied von „Euratom“ ist. Hiervon profitiert beispielsweise das Institut für Energietechnik an der TU Dresden, das sich mit Kraftwerken der 4. Generation beschäftigt. Dabei handelt es sich um Reaktoren, die sich bei einem Ausfall der externen Stromversorgung eigenständig stabilisieren und eine Kernschmelze naturgesetzlich ausschließen. Zur Notwendigkeit solcher Forschung erklärte der Direktor des Instituts, Professor Antonio Hurtado:
„Wir müssen auch künftig in unserem eigenen Interesse beurteilen können, ob bei Kernkraftwerken in Nachbarstaaten die Sicherheitsstandards eingehalten werden. Die bei einem Unfall freigesetzten radioaktiven Stoffe kennen bekanntlich keine Ländergrenzen. Und wir sind von Staaten mit Kernkraftwerken umgeben: Frankreich, Tschechien, Schweden, die Schweiz.“
In Erlangen beschäftigt der französische Konzern Areva, das führendes Unternehmen für die Errichtung, Modernisierung und Erhaltung von Kernkraftwerken in Europa, insgesamt 3.600 Mitarbeiter, die weiterhin in der Kernkraftsparte tätig sind. Der Sprecher dieser Niederlassung, Ulrich Gräber erklärte zur Situation seiner Branche:
„Ärgerlich ist, dass ausgerechnet hierzulande die sichersten Kernkraftwerke der Welt durch das voreilige Moratorium der Bundesregierung vom Netz genommen wurden.“ - „Einen generellen Trend zum Atomausstieg kann ich nicht erkennen.“ - „Grundsätzliche Entscheidungen gegen die Kernenergie gibt es weder in der Schweiz noch in Großbritannien. Auch in Indien oder China, wo mehr als 60 Prozent aller Kernkraftwerke gebaut werden, wurden die Planungen ebenso wenig abgeändert wie in den USA oder Russland.“ - „Gerade die deutschen Anlagen sind ausnahmslos auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik.“ - „Der aktuelle Druckwasserreaktor der dritten Generation, der „ERP“, ist eine Weiterentwicklung von Kraftwerken, die von der Gesamtauslegung her mit den Reaktortypen wie zum Beispiel Fukushima nicht mehr viel gemeinsam haben.“ - „ERP sind so konstruiert, dass es außerhalb nicht zu einer Freisetzung von Radioaktivität kommen könnte. Zusätzlich werden die erneut erhöhten Richtwerte für Flugzeugabstürze mit berücksichtigt. Moderne Kraftwerke haben auch von vornherein sogenannte Wasserstoff-Rekombinatoren, die die Bildung von Knallgas wie in Fukushima katalytisch verhindern“.
EU-Förderung von AKWs
Innerhalb der EU liegt es in der Entscheidungsgewalt eines jeden Mitgliedstaates, ob die Kernenergie Teil seines Energiemix sein soll. Von den 13 Staaten mit AKWs in Europa haben nach Fukushima vier den Ausstieg beschlossen, darunter Deutschland. Sechs Staaten haben jedoch erklärt, die Kernenergie behalten oder sogar erstmals einsetzen zu wollen. Längst tobt in Europa ein Glaubenskrieg zwischen Befürwortern und Gegnern der Atomkraft. Österreich etwa hat eine Klage gegen staatliche Subventionen für das britische Atomkraftwerk Hinkley Point eingereicht, weil es Nachteile für andere Stromerzeuger befürchtet.
Der Streit zwischen den Mitgliedstaaten wurde ein öffentliches Thema, als Mitte Mai 2016 ein Papier der EU-Kommission bekannt wurde, wonach beabsichtigt ist, in neue Reaktoren und Nuklear-Technologie zu investieren. Ihren Ursprung haben solche Ideen ganz offensichtlich in der Ratlosigkeit darüber, wie das auf der Weltklimakonferenz von Paris beschlossene 1,5-Grad-Ziel angesichts steigender CO2-Werte erreicht werden kann. Mit der Förderung der Atomkraft hofft Brüssel, wenigstens eine technische Alternative zur Kohlekraft anbieten zu können, der größten CO2-Quelle in Europa.
Die Vorschläge der EU-Kommission sehen vor, dass AKW-Investoren Finanzhilfen erhalten: So soll der sogenannte Juncker-Fonds künftig auch der Finanzierung von Kraftwerken dienen. Zudem will Brüssel Investitionen in neue Technologien anregen: Statt großer Reaktoren sollen zur Ergänzung der regenerativen Energien vermehrt Mini-AKWs gebaut werden. "Europa kann die Technologieführerschaft in der Nuklearenergie nur erhalten, wenn es eine lebendige heimische Nuklearindustrie erhält und entsprechend diversifizierte und gut finanzierte Fähigkeiten zur Forschung", schreiben die Beamten der Europäischen Kommission.
Im Kreis von SPD und Grünen stießen solche Pläne auf breite Ablehnung. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) lehnte die Finanzierung von neuen Atommeilern mit europäischen Mitteln ab. "Es ist schon absurd, darüber nachzudenken, wie man eine der ältesten Technologien, die wir zur Energieerzeugung in Europa nutzen, erneut mit Subventionen ausstatten will", sagte Gabriel. Dies wäre "der völlig falsche Weg". Bundesumweltministerin (SPD) Barbara Hendriks kritisierte die Absichten der EU-Kommission als "eine verrückte und unverantwortliche Idee". Und für den Grünen-Bundestagsabgeordneten Oliver Krische handelte es sich dabei um den "abenteuerlichen Weg, das Rad der Geschichte zurückzudrehen".
Aus dem Bundeskanzleramt gab es zu dem Papier der EU-Kommission keinen Kommentar. Die Verteidiger kamen aus der CDU und CSU: "Wer gegen den Klimawandel kämpfen möchte, der darf keine Technologie ausschließen", sagte Herbert Reul (CDU), Unions-Gruppenchef im EU-Parlament. "Auch die Atomforschung ist ein legitimer Bereich der Energieforschung", ergänzte der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Fuchs. "Wenn Grünen-Politiker aus Deutschland anderen europäischen Staaten die Atomenergie ausreden wollen, dann müssen sie endlich eine Marktperspektive für die Erneuerbaren aufzeigen. Mit 24 Milliarden Euro Erneuerbaren-Subventionen findet die deutsche Energiewende im Ausland keine Nachahmer."
Frankreichs Energiepolitik
Frankreich setzt bei der Stromerzeugung weiterhin auf die Kernkraft. Die französische Regierung hat Anfang November 2017 entschieden, den von den Sozialisten beschlossenen Teilausstieg aus der Nuklearenergie auf ein unbestimmtes Datum in der Zukunft zu verschieben. Der derzeitige Umweltminister Nicolas Hulot teilte offiziell mit, dass der Beschluss der Vorgängerregierung, den Nuklearanteil von heute 75 Prozent bis 2025 auf 50 Prozent zu reduzieren, „unrealistisch“ sei.
Mit einer solchen Entscheidung hatten Experten gerechnet. Die Atomwirtschaft kann in Frankreich mit großer Unterstützung rechnen. Sie zieht sich durch die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes über die Gewerkschaften bis zu den Bürgermeistern vor Ort, die sich um den Verlust von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen sorgen. Daher lässt sich Frankreich auch mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien viel Zeit. „Die Lage ist überhaupt nicht mit Deutschland vergleichbar“, sagt Christian Gollier, Professor an der Toulouse School of Economics. Den Franzosen ist die CO2-Bilanz wichtiger als die diffuse Angst vor der zivilen Atomnutzung.
Die französische Regierung lässt sich bei ihrer Entscheidung davon leiten, dass ein Teilausstieg nur möglich ist, wenn Frankreich eine Erhöhung seiner Kohlendioxidemissionen hinnehmen würde. Denn das Abschalten von Dutzenden Reaktoren erfordere für die energetische Grundversorgung den Bau neuer Gasturbinen und die Aufrechterhaltung der letzten Kohlekraftwerke. Dies ist für die neue Regierung in Paris keine Option. „Das Ziel Nummer Eins der französischen Energiewende lautet, die klimaschädlichen Gase, darunter vor allem das CO2, zu verringern“, berichtet die Energieexpertin Colette Lewiner.
Laut Eurostat stößt Deutschland für die Stromproduktion inzwischen fünfzehn Mal mehr Kohlendioxid aus als Frankreich. Der Grund ist die Abschaltung der Atommeiler, die für die Grundversorgung mit elektrischer Energie durch Gas- und Kohlekraftwerke ersetzt werden müssen. Der blinde Glaube, Windkraftanlagen und Sonnenkollektoren könnten die abgeschalteten Atommeiler ersetzen, ist durch die Wirklichkeit widerlegt. Die französische Regierung hat dies erkannt und zieht daraus die Konsequenz: Sie hält die Kernkraftwerke am Leben und wartet mit der Energiewende, bis die Zeit reif ist. Bis heute gibt es in Frankreich noch keine einzige Offshore-Windturbine, die Strom liefert.
Technischer Generationswechsel
Während sich die Politiker in Deutschland kleinteilig über Staatsgelder streiten, hat sich nahezu unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit ein technischer Generationswechsel vollzogen: Im russischen Kernkraftwerk Nowoworonisch II wurde erstmals in Europa ein Druckwasserreaktor der Generation III+ in Betrieb genommen, dessen Sicherheitsmerkmale die der westeuropäischen Anlagen übertreffen, schreibt die Historikerin für Osteuropa Anna Veronika Wendland in der FAZ vom 28. Juni 2016.
Das Besondere dieser Reaktorengeneration sind neben der höheren Wirtschaftlichkeit vor allem die Sicherheitssysteme, die den aktuellen Anforderungen der EU für neue Anlagen entsprechen. Sie sollen gewährleisten, dass auch bei schwersten Störungen keine Radioaktivität freigesetzt werden - selbst dann nicht, wenn die Stromversorgung komplett ausfällt, wie dies in Fukushima der Fall war.
Während der russische Reaktor bereits läuft, hat sein europäisches Gegenstück, der EPR-Reaktor, der in Frankreich, Finnland und China gebaut wird, große Anlaufschwierigkeiten: Kostenexplosionen, Skandale, Rechtsstreitigkeiten und Bauverzögerungen. Es ist gerade die Umsetzung der innovativen Lösungen in der Kerntechnik, in der die Russen die Europäer, Amerikaner und Japaner abgehängt haben. Auch die Deutschen haben im kerntechnischen Anlagenbau ihre frühere Spitzenposition längst verloren, ohne dass es dazu eine Krisensitzung im Kanzleramt gegeben hat. "Im Unterschied zu Deutschland, wo Tschernobyl und schließlich Fukushima zu einem Umschlagen der Diskurshoheit zugunsten der Kernkraftgegner und zum Ausstiegsbeschluss führten, haben Russland, die Ukraine und die Länder Ostmitteleuropas die großen kerntechnischen Unfälle nicht das Fürchten vor dem Atom gelehrt, sondern im Gegenteil die Krise als Chance genutzt", schreibt Wendland.
Russen und Ukrainer verstehen die Ingenieurnation Deutschland nicht mehr und vermuten, dass bei der Energiewende-Entscheidung wohl die "Politik" über die Experten für Versorgungsnetze und Kraftwerkstechnik obsiegt habe. "Ein Land, das es sich leisten kann, seine Hauptstadt zu verlegen, kann sich vielleicht auch leisten, die besten Kernkraftwerke der Welt abzuschaffen", zitiert Wendland einen russischen Atomingenieur, "aber ich bin überzeugt: früher oder später werden die Deutschen zur Kerntechnik zurückkehren. Vielleicht nicht zur Kerntechnik in ihrer heutigen Form. Aber sie werden zurückkehren. Und wir brauchen sie."
Demo für die Atomkraft
Auf dem Münchener Marienplatz hat jüngst (Oktober 2018) eine Demonstration stattgefunden, die die Rückkehr zur Kernenergie zum Ziel hatte, berichtet Daniel Wetzel in der WamS vom 21. Oktober 2018. Organisiert wurde die Veranstaltung vom US-Amerikaner Michael Shellenberger, Präsident des Instituts „Environmental Progress“ und regelmäßiger Gastautor der größten US-Zeitungen. Mit der Demonstration wollte Shellenberger „auf die Tatsache hinweisen, dass, wann immer ein Atomkraftwerk geschlossen wird, es meistens durch fossile Energie ersetzt wird, weil Wind und Sonne so unzuverlässig sind“.
Zu den Unterstützern von Shellenberger gehören rund ein Dutzend Umwelt- und Proatomkraftgruppen aus dem In- und Ausland. Diese Gruppen gehen davon aus, dass für Umwelt und Klimaschutz auch Kernenergie und Gentechnik dienlich sein können, und der von vielen Ökogruppen propagierte Technikverzicht nicht hilfreich ist. „Deutschland hat 580 Milliarden US-Dollar für Wind- und Solarkraft ausgegeben, ohne seine CO2-Emissionen seit 2009 zu verringern“, schrieb Shellenberger im „Forbes“-Magazin. „Hätte Deutschland diese 580 Milliarden stattdessen in Atomkraft investiert, hätte das alle fossilen Kraftstoffe im Energie- und Verkehrsektor ersetzen können.“
Bestätigt fühlen sich die Atomkraftbefürworter durch den jüngst veröffentlichten Bericht des Weltklimarats der Vereinten Nationen (IPCC) zum 1,5-Grad-Ziel. Fast alle Modellrechnungen in diesem Bericht gehen davon aus, dass sich die weltweite Atomstromproduktion bis 2030 um mindestens 60 Prozent erhöhen muss, damit die Klimaerwärmung das 1,5-Grad-Ziel nicht übersteigt. „Dabei fällt auf, dass die Nutzung der Kernenergie besonders in den Szenarien hoch ausfällt, in denen in geringerem Umfang einschneidende Eingriffe in die Lebensführung und Lebensqualität unterstellt werden“, stellt das Deutasche Atomforum, eine Lobby der Kernkraftbetreiber, fest.
Für illusorisch ist ein solches Szenario aus Sicht des IPCC nicht, wobei die Klimaexperten auf das Beispiel Frankreich verweisen, das seine 56 Atomkraftwerke in weniger als 25 Jahren errichtet hat. Gebremst werde der Ausbau der Nuklearenergie heute jedoch durch gesellschaftliche Ängste vor Verstrahlung und Unfällen. „Vergleichende Risikoanalysen zeigen allerdings, dass die Gesundheitsrisiken pro produzierter Energieeinheit niedrig sind und der Flächenbedarf geringer ist als der anderer Energiequellen“, stellt der Weltklimarat demgegenüber fest.
Die Einstellung der Menschen zur Atomkraft hängt nach der Feststellung des Weltklimarats davon ab, „ wie die politischen Debatten um technologische Wahlmöglichkeiten und die Auswirkungen auf die Umwelt gemanagt werden“. Nur so sei es zu erklären, warum nach dem Fukushima-Unfall „fünf Länder den Atomausstieg beschlossen oder beschleunigten, während 30 Länder an der Kernkraft festhielten, von denen 13 auch neue Nuklearkapazitäten errichten: Etwa China, Indien und Großbritannien.“