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Politische Reden pp. 2012
15.04.2016 17:48 (2961 x gelesen)

Politische Reden pp. 2012

Der Inhaber dieser Website ist von 1998 bis 2013 in der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) auf Bundes- und Landesebene politisch aktiv gewesen. In dieser Zeit hat er sich in zahlreichen öffentlichen Reden, Interviews, Presseerklärungen und Schreiben zu aktuellen und grundsätzlichen Themen der Wirtschaftspolitik geäußert. In diesen Stellungnahmen wird deutlich, wie sich das wirtschaftspolitische Denken und Handeln seit der Jahrtausendwende verändert hat. Soweit die behandelten Themen heute noch von Interesse sind, werden sie nachfolgend in kurzen Ausschnitten dargestellt.

Obertauerner Begegnung 2012

(vom 18. bis 21. Januar 2012)

Wirtschaft und Politik - Gegner oder Partner

1. Verlust der Freiheit ?

Das bekannteste Buch von F.A. Hayek trägt den Titel "Der Weg in die Knechtschaft". Das Buch ist den Sozialisten in allen Parteien gewidmet. Es beginnt mit dem folgenden Zitat von David Hume: "Es ist selten, dass eine Freiheit irgendwelcher Art mit einem Schlage verloren geht." Dies soll mein Thema sein, und zwar im Verhältnis von Wirtschaft und Politik.

Der Einfluss des Staates in der Wirtschaft ist im Wachsen. Der Staat ist nicht nur mehr Ordnungsgeber, sondern Wirtschaftslenker, sozialer Wohltäter und Dienstleister sowie immer häufiger Macher und Retter. Da der Staatseinfluss die Kehrseite der Wirtschaftsfreiheit ist, bedeutet mehr Staatseinfluss logischerweise weniger Wirtschaftsfreiheit. Dabei findet der Verlust an Freiheit an vielen Stellen und kleinen Schritten häufig unbemerkt statt.

Die heute regierende Klasse sieht darin kein großes Problem. Man ist sich weitgehend einig, dass im Verhältnis zur Wirtschaft das "Primat der Politik" gelten muss. Liberales Denken, das den Staatseinfluss auf das Notwendige begrenzt, ist aus der Mode gekommen. Selbst die wirtschaftliche Vernunft hat es häufig schwer, sich gegenüber politischen Interessen durchzusetzen.

Widerstand gegen diese Entwicklung kommt allenfalls noch aus Teilen der Wirtschaft und ihr nahestehenden Medien. Die Öffentlichkeit stimmt der zunehmenden Politisierung des Wirtschaftslebens jedoch weitgehend zu. Das liegt an einem gespaltenen Freiheitsverständnis: Während gesellschaftlichen Freiheits- und Teilhaberechte hoch geachtet und sorgfältig geschützt werden, stehen wirtschaftliche Freiheitsrechte unter Generalverdacht.  

2. Soziale Marktwirtschaft - quo vadis?

Zur Geschäftsgrundlage der Sozialen Marktwirtschaft gehört die Idee des funktionellen Gleichgewichts zwischen Politik und Wirtschaft. Damit ist gemeint, dass es zwischen den beiden Bereichen vorrangig nicht um Herrschaft und Macht, sondern um ein ausgewogenes und zweckmäßiges Verhältnis geht. Insoweit gehört eine "balance of power" zu den Markenzeichen der Sozialen Marktwirtschaft.

Wirtschaft und Politik sind unterschiedliche, aber komplementäre Lebensbereiche eines Gemeinwesens. Die Wirtschaft hat die Aufgabe, die vielfältigen privaten Bedürfnisse wirtschaftlicher Natur effektiv zu befriedigen. In Marktwirtschaften geschieht dies auf freien und offenen Wettbewerbsmärkten. Demgegenüber beschäftigt sich die Politik mit der Erlangung und Anwendung von Staatsmacht, damit die öffentlichen Angelegenheiten geregelt und erledigt werden. Dieser Weg geht in Demokratien über Wahlen, Parteien und Mehrheiten.

Politik und Wirtschaft haben unzählige Berührungs- und Verbindungspunkte, auch wenn sie in ihren Zielen und Arbeitsweisen unterschiedlich sind. Umso wichtiger ist es, das Verhältnis beider zu ordnen und verlässlich zu gestalten. Damit hat sich insbesondere der Ökonom Walter Eucken beschäftigt. Ich zitiere seinen wichtigsten wirtschaftspolitischen Grundsatz: "Die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses." 

Dieser Grundsatz beinhaltet ein Gebot politischer Selbstbeschränkung. Nach Walter Eucken ist es Aufgabe des Staates, der Wirtschaft den notwendigen Ordnungsrahmen zu geben, er soll sich aber aus der Steuerung der Wirtschaftsprozesse heraushalten und sie den Wirtschaftssubjekten überlassen. Der Politik und der Wirtschaft werden so die Tätigkeiten zugeordnet, die ihrer Funktion entsprechen und für die sie verantwortlich sind

Lenkende Eingriffe des Staates in die Wirtschaft sind nach dieser Grundregel eine störende Intervention. Der Staat überschreitet damit die ihm in der Marktwirtschaft zustehende Kompetenz und stört das Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft. Im Sinne von Hayek maßt sich die Politik dabei ein Wissen an, das sie objektiv und originär nicht hat. Auch insoweit gilt die Volksweisheit: "Schuster bleib bei Deinem Leisten".

Die aktuelle Wirtschaftspolitik hat sich von dieser Grundregel längst verabschiedet. Es begann mit dem Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft aus dem Jahr 1967, mit dem die sogenannte Globalsteuerung eingeführt wurde. Damit sollten bestimmte gesamtwirtschaftliche Ziele ("magisches Dreieck") mit Hilfe der Finanz-, Geld- und Einkommenspolitik erreicht werden. Die Unternehmen und Tarifpartner wurden in diese Globalplanung durch die sogenannte "konzertierte Aktion" miteinbezogen. Seitdem greift die Politik vieler Orts und immer häufiger lenkend in die wirtschaftlichen Prozesse ein. Gründe sind leicht gefunden, und der öffentliche Widerstand ist gering. Dass die Politik dabei immer tiefer in den Kampf der Interessengruppen hineingerät, stört nur noch notorische Ordnungspolitiker.

Die jüngst wieder entbrannte Mindestlohndebatte ist dafür ein typisches Beispiel. Für Mindestlöhne gibt es ein breites Interessenkartell. Gewerkschaften wollen sie zur Absicherung der unteren Tariflöhne, Unternehmer fordern sie zum Schutz vor Billigkonkurrenz, und die Politik polemisiert gegen die sogenannten Aufstocker. Niemand stört, dass Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen dadurch der Weg in den Arbeitsmarkt verbaut wird. In der Öffentlichkeit werden vor allem Niedriglöhne, aber nicht Arbeitslosigkeit problematisiert.

3. Soziale Wohltäter unterwegs

Für Ludwig Erhard war der Markt sozial, er musste durch die Politik nicht sozial gemacht werden. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass Wettbewerbsmärkte am ehestens geeignet sind, die sozialen Probleme zu lösen. Einer von der Politik hoheitlich organisierten Solidarität bedurfte es nach seiner Meinung nicht.

Die deutsche Sozialpolitik ist seit Bismarck allerdings einen anderen Weg gegangen. Die soziale Sicherung wurde kollektiviert und zu einer hoheitlichen Aufgabe gemacht. Zwangsmitgliedschaften, gesetzliche Leistungen und ein  finanzielles Umlageverfahren sind die kennzeichnenden Merkmale dieses Systems. Wer als Mitglied Ansprüche geltend macht, befindet sich nicht auf dem Versicherungsmarkt, sondern in einem Verwaltungsverfahren. Die Steuerung der sozialen Sicherung erfolgt mit planwirtschaftlichen Methoden.

Ein gesellschaftliches System, das die Wirtschaft marktwirtschaftlich und die soziale Sicherung staatswirtschaftlich organisiert, befindet sich nicht in einem natürlichen Gleichgewicht. Denn das Soziale ist mit dem Wirtschaftlichen nicht automatisch, sondern nur über die Politik gekoppelt. In einem solchen System bestellen die Politiker die Musik, die Rechnung muss aber die Wirtschaft bezahlen. So kann es nicht wundern, dass die politische Großzügigkeit kaum ein Ende findet. Mehr als ein  Drittel der wirtschaftlichen Wertschöpfung wird heute für Soziales verwendet.

Zwangsläufig gerät die Wirtschaft dabei in eine "dienende" und die Politik in eine "herrschende" Rolle. Die Kostendämpfungspolitik in der gesetzlichen Krankenversicherung bietet dafür ausreichend Anschauungsmaterial. Typisch ist auch der jüngste Vorstoß der Arbeitsministerin, die 4,5 Millionen Selbständigen zwangsweise der gesetzlichen Alterssicherung zuzuführen. Auch der Paternalismus der Politik kennt keine Grenzen mehr.

4. Staatsbetriebe auf dem Vormarsch

Im Bereich der Infrastruktur und der kommunalen Daseinsvorsorge erbringt der Staat notwendige Vorleistungen für die private Wirtschaft. Wenn die Politik darüber entscheidet, ohne sich mit der Wirtschaft abzustimmen oder den Bedarf zu erkennen, sind hemmende Engpässe oder teure Fehlinvestitionen die Folge. Die Staus auf den Bundesautobahnen oder die Endlagersuche für Atommüll sind dafür nur zwei Beispiele.  

Die Fehlleistungen potenzieren sich, wenn Großvorhaben wie der Bahnhof in Stuttgart oder die Landebahn in Frankfurt durch Bürgerproteste lahm gelegt oder verzögert werden. Infrastrukturvorhaben werden dadurch politisiert. Lokale Interessengruppen blockieren Vorhaben,  die regionale oder nationale Bedeutung haben. Demokratische Entscheidungsverfahren und der rechtstaatliche Vollzug werden dadurch in Frage gestellt. Auf einer solchen Grundlage kann die private Wirtschaft nicht planen und arbeiten.

Bei der kommunalen Daseinsvorsorge gibt es ein weiteres Konfliktfeld. Das Stichwort heißt Rekommunalisierung, mit der man die vor einigen Jahren privatisierten Betriebe in die kommunale Zuständigkeit zurückführt. Dies betrifft private Unternehmen aus dem Energiebereich, der Müllentsorgung und Wasserwerke, die wieder zu öffentlichen Unternehmen gemacht werden. Das Risiko trägt aber nicht der kommunale Eigentümer, sondern letztlich der Steuerzahler.

5. Die energiepolitischen Macher

Ein besonders krasses Beispiel für die krakenhafte Ausdehnung der Staatstätigkeit ist die sogenannte Energiewende. In der Sache handelt es sich dabei um eine tiefgreifende Transformation des bestehenden Energiemarktes, an dessen Ende ein völlig veränderter Energiemix ohne Atomstrom und mit 80 % regenerativen Energien stehen soll. Deutschland geht damit einen Sonderweg. Tragende Pfeiler dieser Politik sind der Ausstieg aus der Atomenergie und der Klimaschutz durch Reduzierung von CO2. Andere Ziele wie die Sicherheit der Energieversorgung und wettbewerbsfähige Kosten treten dahinter zurück.

Zur Umsetzung dieses Transformationsprozesses sind inzwischen eine Reihe von Maßnahmen beschlossen worden: die Stilllegung von Atomkraftwerken, Absatz- und Preisgarantien für regenerativen Strom, der Ausbau der Stromnetze und des Kraftwerksparks, Subventionen für Vorhaben der Energieeffizienz und so weiter. Der staatliche Plan ersetzt mehr und mehr den privaten Markt. Heute werden noch ca. 80 % der Strompreise auf Märkten festgelgt, am Ende des Prozesses sind es nur noch 20 %, über die restlichen 80 % entscheidet die Politik.

Die geplante Transformation des Energiemarktes ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Anmaßung von Wissen durch die Politik. Der "Markt als Entdeckungsverfahren" wird durch Planer, Experten und Bürokratie ersetzt. An die Stelle des privaten Unternehmers als Pionier tritt der politische Macher. Er ist Experte in Sachen Energie, er kennt die energetische Zukunft und dreht an Stellschrauben, um die selbst gesetzten Ziele zu erreichen. Dies nennt man Konstrukturismus: Die Wirtschaft ist nach dieser Lehre kein historisch gewachsener, von Menschen geprägter Organismus, sondern eine von Politingenieuren gebaute Machwerk, das wie eine Maschine funktioniert.

Das Ende läßt sich voraussagen: Die Interventionsspirale wird sich immer schneller bewegen, ohne das Ziel jemals als zu erreichen.

6. Die Angst der Euro-Retter

Aufgabe der nationalen Schuldenverwaltungen ist es, für neue und auslaufende Staatsanleihen auf den Finanzmärkten Anleger zu finden. Es geht dabei um erhebliche Summen. Im Euro-Raum müssen in diesem Jahr 800 Milliarden Euro neu platziert werden, zusätzlich werden Bankanleihen in Höhe von 725 Milliarden Euro fällig.

Angesichts dieses Finanzbedarfs ist nachvollziehbar, warum Europas Politiker in Panik verfielen, als zunächst Griechenland und dann weitere Länder wegen Überschuldung ihre Kapitalmarktfähigkeit verloren. Es drohte die Zahlungsunfähigkeit von Mitgliedstaaten der Euro-Zone.

Um dies zu verhindern, wurde auf dem europäischen Gipfeltreffen im Mai 2010 der erste Rettungsschirm beschlossen. Seine Aufgabe ist es, Griechenland und andere Krisenländer die von den Finanzmärkten verweigerte Liquidität zur Verfügung zu stellen. Dem ersten Schritt folgten weitere Gipfeltreffen, weil sich auch die Finanzierungsbedingungen für weitere Euro-Länder verschlechterten. Von Seiten der Euro-Retter wurden Euro-Bonds, ein größerer Rettungsschirm und weitere Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB gefordert. Mit solchen Interventionen sollten die Finanzmärkte beruhigt werden. Das Motiv der Euro-Retter beschreibt Otmar Issing in der FAZ vom 06. Januar 2012 wie folgt: "Die Politik will sich nicht dem Diktat der Finanzmärkte unterwerfen."

Diese Aussage trifft den Kern. Die Politik vertritt die Auffassung, dass nicht Banken, Versicherungen und Fonds als Anleger über die Konditionen einer Anleihe zu entscheiden haben, sondern die Bundesschuldenverwaltung und damit die Politik. Dies erscheint absurd, spiegelt aber das Selbstverständnis der Rettungspolitiker und deren Verständnis von den Finanzmärkten wieder. Danach ist die Funktionsfähigkeit dieser Märkte ein "öffentliches Gut" (Röttgen), über das die Politik mit Hilfe von Interventionen und Reglementierung verfügen kann.

Solche Entscheidungen haben den Charakter der Währungsunion tiefgreifend verändert: Aus der Stabilitätsunion ist eine Schuldenunion geworden. Das Prinzip der Nichthaftung für Fremdschulden ("no bail out") ist durch eine Haftungsgemeinschaft ersetzt worden. Mit immer mehr Schulden sollen überschuldete Staaten gerettet werden.

Ein Ende ist nicht abzusehen, wenn nicht ernsthaft an den Ursachen der Krise gearbeitet wird. Ohne Konsolidierung der Staatshaushalte und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von Krisenländern bleibt uns die Euro-Krise noch länger erhalten.

7. Staatsorientierter Zeitgeist

Der Liberalismus als Programm der Politikbegrenzung hat es heute schwer. Staatsorientierte und kollektive Konzepte beherrschen den Zeitgeist und die Politik. Zwischen rechten und linken Parteien bestehen allenfalls graduelle Unterschiede.

Fragt man nach den Gründen, erhält man zwei Antworten:

  1. Die klassische Ordnungspolitik bietet für die komplexen Probleme der heutigen Wirtschaft keine gültigen Antworten mehr.
  2. Die Wähler erwarten von der Politik keine rechten oder linken, sondern pragmatische Lösungen.

Diese Begründung ist nicht neu. Hayek hat im 4. Kapitel seines Buches das folgende Zitat vorangestellt: "Wir waren die Ersten, die erklärt haben, dass die Feiheit des Individuums um so mehr beschränkt werden muss, je komplizierter die Zivilsation wird." Das Zitat stammt von dem italienischen Diktator Benito Mussolini.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Gründung MIT Dissen-Bad Rotenfelde
(4.April 2012)

Die Mehrheit der Deutschen ist mit der „tatsächlichen Demokratie“ unzufrieden. Sie sagen, es geht in unserer Gesellschaft nicht gerecht zu, weil die Märkte die Politik dominieren. So kann man es lesen und in den Talk-Shows hören.

Unser Gemeinwesen wird damit unter Wert gehandelt. Wir müssen uns vor Augen führen, was in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Politik gelungen ist. Was gut ist und was besser gemacht werden kann. Wir dürfen vor allem den linken Skeptikern nicht das Feld überlassen.

I

Wie steht es denn tatsächlich um unsere Demokratie? Ist die Kluft zwischen Politiker und Bürgern tatsächlich so groß, wie die verschiedenen Bürgerproteste vermuten lassen könnten?

Partizipation, mehr unmittelbare Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungen, ist eine populäre Forderung. Wenn man dabei das Gemeinwohl und nicht Sonderinteressen im Auge hat, mag die Forderung legitim sein.

Aber fehlte es denn an Möglichkeiten der Bürger, sich politisch aktiv zu beteiligen? Zehntausende Politiker, die regelmäßig in den Kommunen, im Land und im Bund gewählt werden, beweisen das Gegenteil. Dabei handelt es sich um normale Bürger, wie die Kritiker auch. Wo ist dort die Kluft?

Auf  kommunaler Ebene gibt es sie bestimmt nicht. Denn Kommunalpolitiker haben über örtliche Angelegenheiten zu entscheiden. An Möglichkeiten der Partizipation fehlt es hier nicht, eher an den Personen, die sich daran beteiligen wollen.

Für die Bundesebene und die dort tätigen Politiker trifft die Kritik jedoch eher zu: Leider ist zu beobachten, dass im Berliner Politikbetrieb die Demoskopen an Einfluss gewinnen, während der einfache Bürgern mehr und mehr aus dem Blickfeld gerät. Zudem wächst das Gefühl, dass viele Politiker eher ihre eigenen Interessen als das Wohl der Bürger im Auge haben.  Man darf dabei aber nicht vergessen, dass auf Bundesebene Angelegenheiten entschieden werden, die häufig kompliziert sind und langerfristig wirken. Politik ist das „Bohren dicker Bretter“, wie schon Max Weber wusste. Wer schnelle und konkrete Ergebnisse sehen will, sollte deshalb die Bundesebene meiden.

Anlass zur Sorge gibt ein anderes Problem, nämlich das grundsätzliche Verhältnis von Parlament und Regierung. Nach dem Grundgesetz soll der Bundestag als Repräsentant des Volkes die Regierungstätigkeit überwachen und die Gesetze beschließen. So weit die Verfassung. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Gesetze werden heute in den Ministerien gemacht und dem Bundestag zur Zustimmung vorgelegt. Dieser kann allenfalls noch Modifikationen vornehmen. Der Gesetzgeber steht darüber hinaus unter Zustimmungszwang. Da die Mehrheitsfraktion den/die Kanzler/in in der Regierung stellt, kann sie Gesetzesvorlagen nicht ablehnen, wenn sie die Regierung nicht stürzen will. Der einzelne Abgeordnete ist zudem durch den Fraktionszwang gebunden.

Ein eindrucksvolles Beispiel für diese fragwürdige Machtverschiebung sind die Beschlüsse zu den europäischen Rettungsschirmen. Ausgearbeitet von der Bürokratie in Brüssel und verhandelt zwischen den europäischen Regierungen, hatte der Bundestag keinen nennenswerten Spielraum mehr. Insofern waren die Rettungsschirme in der Tat „alternativlos“. Das Parlament verliert damit seine Rolle, die es als Repräsentant des Volkes in der Politik spielen soll. Dies verursacht zunehmend Unbehagen!

II

Wie steht es in unserer Gesellschaft mit der sozialen Gerechtigkeit? Wird zu wenig für die unteren Schichten getan? Ist der Vorwurf der Entsolidarisierung berechtigt?

Wir wissen aus Umfragen, dass die Deutschen die soziale Sicherheit deutlich höher bewerten als wirtschaftliche Freiheit. Dementsprechend dicht ist das Netz der sozialen Sicherung, das uns gegen die wesentlichen Lebensrisiken abgesichert. Grundlage dieser Einrichtungen ist das Prinzip der Solidarität. Wer Arbeit hat und gesund ist, zahlt zusammen mit seinem Arbeitgeber in das System ein. Empfänger der Leistungen sind  Rentner, Arbeitslose, Kranke und Pflegebedürftige. Solidarität kann wirksamer nicht praktiziert werden.
Auch über das Steuersystem wird gewaltig von oben nach unten umverteilt. Wer viel verdient, zahlt überproportional viel Steuern.  Das oberste Zehntel der Verdiener trägt mehr als die Hälfte der Einkommensteuer, die untere Hälfte der Verdiener weniger als fünf Prozent. Auch das ist gelebte Solidarität.

Der Vorwurf der Entsolidarisierung der Gesellschaft ist deshalb absurd. Im Gegenteil: Die Solidarität der Gutverdienenden in unserem Lande ist groß und verdient Anerkennung. Sie machen es möglich, dass die Renten- und Krankenversicherung aus Steuermitteln bezuschusst werden. Sie finanzieren mit ihren Steuern Familienleistungen, das Bildungswesen und Langzeitarbeitslose. Insgesamt wird in Deutschland ein Drittel des Volkseinkommens für soziale Zwecke verwendet.

Solidarisch ist auch unser Arbeitsmarkt, entgegen allen Unkenrufen. Die Arbeitnehmer genießen in Deutschland – im Vergleich zu anderen Ländern -  einen besonders hohen Kündigungsschutz. Werden sie arbeitslos, erhalten sie Unterstützung  aus der Arbeitslosenversicherung und Hilfe bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz. Rund fünfzig Milliarden sind dies jährlich.

Dass die Hilfen unter dem Prinzip des „Fördern und Fordern“ stehen, der Arbeitslose angebotene Arbeit also nicht einfach ablehnen darf, gehört auch zur Solidarität. Denn richtig verstanden, beruht Solidarität auf Gegenseitigkeit: Dem Anspruch auf Hilfe steht die Verpflichtung gegenüber, alles Zumutbare zur Beseitigung des Hilfszustandes zu tun.

Die Frage ist deshalb nicht: Tun wir zu wenig? Sondern: Tun wir zuviel und helfen wir an der richtigen Stelle? Verspielen wir nicht mit dem hohen Sozialkonsum die Zukunft unserer Kinder, weil für Bildung und Infrastruktur zu wenig übrig bleibt? Diese Debatte zu führen, gehört zu den Kernaufgaben der MIT, auch wenn es der Parteiführung nicht gefällt.

III

Wer die Soziale Marktwirtschaft kritisieren will, spricht vom kapitalistischen System. Viele meinen, nicht nur im linken Lager, hierzu müsse es eine Alternative geben. Die Verhältnisse auf den Finanzmärkten dienen ihnen dabei als Begründung.

Vielfach ist schon zweifelhaft, ob die Kritiker überhaupt wissen, was unter Sozialer Marktwirtschaft zu verstehen ist und wie sie funktioniert. Solche Unwissenheit ist weit verbreitet – auch unter Politikern. Dies ist mehr als verwunderlich! Denn der Sozialen Marktwirtschaft verdanken wir den wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Kriege und unseren heutigen Wohlstand.

Angesichts der allgemeinen Unkenntnis ist es für Kritiker ein Leichtes, die Soziale Marktwirtschaft in der Öffentlichkeit als Zerrbild zu präsentieren und  infrage zu stellen. Dazu gehört die Behauptung, die Marktwirtschaft  sei eine unkontrollierte Veranstaltung, auf der profithungrige Unternehmer darauf aus seien, ihre Kunden und Arbeitnehmer sowie den Staat mit undurchsichtigen Methoden über den Tisch zu ziehen.

Bewusst wird hierbei unterdrückt, dass die Märkte in der Marktwirtschaft grundsätzlich nicht unreguliert sind, sondern einer staatlich gesetzten und kontrollierten Rahmenordnung unterliegen. Aufgabe dieser Rahmenordnung ist es insbesondere, im Interesse der  Kunden den Wettbewerb zwischen den Unternehmen zu sichern. Darüber hinaus ist das Verhältnis der Unternehmen zu den Mitarbeitern, den Konsumenten, der Umwelt und dem Staatswesen durch unzählige Vorschriften heute im detailliert geregelt. Das Problem besteht heute nicht in „zu wenig“, sondern in „zu viel“ Regulierung.

Völlig verzerrt ist auch das von den Kapitalismuskritikern gezeichnete Unternehmerbild. Der Unternehmer – insbesondere der Familienunternehmer – ist genau das Gegenteil des profithungrigen Zockers. Sein vorrangiges Interesse gilt dem Unternehmen mit seinen Mitarbeitern, seinem „Produkt“ und den Kunden, die er von diesem Produkt überzeugen muss. Dies funktioniert nicht mit einer kurzfristigen Strategie der Gewinnmaximierung, sondern nur mit nachhaltiger Arbeit, Zuverlässigkeit und Vertrauen.

Zur Sozialen Marktwirtschaft gibt es nur eine wirkliche Alternative: Die sozialistische Planwirtschaft, die im Jahre 1990 krachend zusammen gebrochen ist. Seitdem führen alle ehemaligen Sowjet-Länder, einschließlich China, ihre Wirtschaft mehr oder weniger nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen. Dies sind Privateigentum an Produktionsmittel, Vertragsfreiheit, Wettbewerb und Haftung. Auf dieser Grundlage weisen diese Länder Wachstumsraten auf, von denen der Westen nur träumen kann. Kritik am marktwirtschaftlichen  oder kapitalistischen System gibt es deshalb dort nicht. Im Gegenteil!

IV

Warum ist es bei uns und anderen westlichen Industrieländern so anders? Ist es die Übersättigung? Oder ist es die Angst vor dem wirtschaftlichen und sozialen Abstieg?

Müller Armack hat die Soziale Marktwirtschaft als eine Ordnung beschrieben, in der die wirtschaftliche Effizienz auf den Märkten mit dem sozialen Ausgleich verbunden ist. Er hat dabei unterstellt, dass die Märkte effizient arbeiten und die Sozialsysteme den sozialen Ausgleich sicherstellen, ohne die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit  zu beeinträchtigen. In dieser Kombination war die Soziale Marktwirtschaft ein äußert erfolgreiches Wirtschaftsmodell.

Dies kann sie aber nicht mehr sein, wenn die Märkte durch staatliche Vorschriften überreguliert oder durch direkte Eingriffe politisch gelenkt werden. Diesen Weg gehen wir zurzeit. Dabei haben wir schon wieder vergessen, welche wirtschaftlichen  Impulse die Liberalisierung von Post, Eisenbahn, Telekommunikation und Energie vor gut zehn Jahren ausgelöst haben. Im Zuge eines allgemeinen Linkstrends machen wir heute auf allen politischen Ebenen die Rolle rückwärts.

Eine Grossbaustelle in diesem Sinne ist insbesondere der Energiemarkt, den wir vor gut zehn Jahren liberalisiert haben. Um die Energiewende umzusetzen, wird dieser Markt heute mit beängstigender  Geschwindigkeit gezielt mit planwirtschaftlichen Mitteln grundlegend transformiert. Für alle Arten erneuerbarer Energien gibt es zurzeit mehr als 4.000 unterschiedliche Fördersätze. Allein bei der Solarenergie kommen jedes Jahr fünfzig neue hinzu. Welche immensen Kosten die damit verbundene Fehlsteuerung verursacht, mag man sich nicht vorstellen. 

Eine  weitere Gefahr für die Soziale Marktwirtschaft besteht außerdem in dem Überdrehen des sozialen Ausgleichs. Die sozialpolitischen Ideen der jetzigen Sozialministerin  zeigen dies nur überdeutlich: Frau von der Leyen verspricht vielen, insbesondere Hartz-IV-Kindern, Zeitarbeitnehmern, Alleinerziehenden, Niedriglöhnern und armen Rentnern, eine bessere und gerechtere Welt. Wer die Rechnung dafür bezahlen soll, lässt sie aber offen. Natürlich werden es die Unternehmen und die Jungen in der Gesellschaft sein. Und sicher ist auch, dass zusätzlicher Sozialkonsum zulasten von Investitionen in die Zukunft geht.

Es kann auf  Erden keine absolute Gerechtigkeit geben.  Wer dies -  aus welchen Gründen auch immer -  trotzdem versucht, der hat das rechte Maß aus dem Auge verloren. Schon Horaz, Satire I, wusste: „Es gibt ein Maß in den Dingen, es gibt letztlich feste Grenzen, jenseits deren das Richtige nicht bestehen kann.“ Wir sollten als Bürger die Politiker daran erinnern!

Gastbeitrag "DIE WELT"

(13. Juni 2012)

Energiewende - markt- oder planwirtschaftlich?

Vor genau einem Jahr hat die Bundesregierung den Einstieg ins Zeitalter der erneuerbaren Energien beschlossen. Nun droht die ökologische Energiewende zu kippen. Zwar wachsen Solar- und Windkraft aufgrund ihrer Privilegierung rasant weiter, beim Ausbau der Netze hapert es aber so gewaltig, dass öffentlich bereits über die Verstaatlichung der Netze nachgedacht wird. Inzwischen haben die Länder für sich eigene Energieentwicklungspläne gemacht, die nicht zueinander passen: Der Norden investiert in Windstrom, um ihn in den Süden zu verkaufen; der Süden seinerseits will autark bleiben und setzt auf Solarstrom. Wind und Sonne sind allerdings vom Wetter abhängig, so dass nach Abschaltung der Atomkraftwerke konventionelle Kraftwerke gebaut werden müssen. Und hier streiken die Erzeuger.

Neue Gas- und Kohlekraftwerke werden derzeit in Deutschland weder geplant noch gebaut, weil sie nicht mehr profitabel betrieben werden können. Grund ist der Einspeisevorrang für den Ökostrom, der die Betriebsstundenzahl konventioneller Anlagen dramatisch sinken lässt. Selbst der Betrieb vorhandener Anlagen rechnet sich nicht mehr, und der Bundesnetzagentur ist die Stilllegung solcher Anlagen bereits gemeldet worden: Für die Versorgungssicherheit eine gefährliche Entwicklung.

Der Kern des Problems ist die ordnungspolitische Unverträglichkeit zweier Systeme der Stromversorgung.

Seit der Liberalisierung des Energiemarktes in den neunziger Jahren gibt es in Deutschland einen Strommarkt, auf dem der Strompreis durch Angebot und Nachfrage festgelegt wird. Es sind also nicht nur mehr wenige Erzeuger, sondern die Mehrheit der Verbraucher, die mit ihrer Nachfrage den Strompreis bestimmen. Die Preisbildung folgt dabei den jeweiligen Betriebskosten der Kraftwerke, die zur Deckung der Nachfrage herangezogen werden. Nutznießer dieses Preisbildungssystems ist der Verbraucher, weil nur die kostengünstigen Erzeuger zum Zug kommen.

Demgegenüber gelten für Ökostrom nicht die Regeln des Strommarktes, sondern das Subventionssystem des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Danach haben die Erzeuger von Ökostrom gegenüber den konventionellen Erzeugern einen Vorrang bei der Einspeisung ins Stromnetz. Außerdem erhalten sie für gelieferten Strom feste und sehr hohe Einspeisevergütungen für einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Dies ist ein planwirtschaftliches Subventionssystem mit dem Ziel, die konventionellen Energien durch erneuerbare Energien zu ersetzen.

Die Verdrängung der konventionellen Energien ist also geplant und beeinflusst zwangläufig die Produktions- und Investitionsplanungen der Erzeuger. Kraftwerke sind kapitalintensiv und langlebig. Ohne Planungssicherheit kann darin nicht investiert werden. Die Energiewende wird damit unter den derzeitigen Bedingungen zu einer Bedrohung für die sichere Energieversorgung.

Politische Planspiele, die das Problem mit sogenannten "Kapazitätsmärkten" lösen wollen, gehen allerdings in die falsche Richtung. Gemeint sind damit staatliche Finanzhilfen für konventionelle Stromerzeuger, damit sie ihre unrentablen Anlagen nicht abschalten, sondern in Reserve halten. Die Kosten dafür sollen über die Stromrechnung auf den Verbraucher abgewälzt werden. In der Sache handelt es sich nicht um einen neuen Markt, sondern um den Versuch, die negativen Effekte des subventionierten Ökostroms mit weiteren Subventionen zu kurieren. Die Interventions- und Subventionsspirale würde sich damit nur immer weiter drehen.

Die Lösung kann nicht heißen, den Strommarkt fit für den Ökostrom zu machen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Ökostrom muss fit für den Strommarkt gemacht werden. Dies bedeutet, dass die Privilegien für den Ökostrom - und daran gibt es keinen Zweifel - grundsätzlich auf den Prüfstand gehören. Zu einer marktwirtschaftlichen Lösung gehören insbesondere folgende Änderungen:

  • Erstens die Abschaffung des Einspeisevorrangs für Ökostrom. Die Alternative ist ein Quotensystem, das die Stromversorger verpflichtet, eine bestimmte Menge Strom aus alternativen Energien zu beziehen. Dies würde für Wettbewerb zwischen den erneuerbaren Energien sorgen, weil die Versorger nur den für sie günstigen Strom einkaufen werden.
  • Zweitens die Abschmelzung der überhöhten Einspeisevergütungen. Ursprünglich sollten sie die höheren Herstellungskosten für Ökostrom ausgleichen; inzwischen ist das Vergütungssystem aber zu einem politischen Instrument der Energiewende deformiert worden. Zur Entpolitisierung sollte die Festsetzung der inzwischen über 4.000 Einspeisevergütungen der Bundesnetzagentur übertragen werden.
  • Drittens gehört dazu, dass sich die Politik von unrealistischen Planvorgaben trennt. Nach der politischen Zielstellung soll der Beitrag der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung von 35 Prozent im Jahr 2020 auf 50 Prozent im Jahr 2030 und auf 80 Prozent im Jahr 2050 ansteigen. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel für die "Anmaßung von Wissen" von Politikern, die meinen, Experten und Planbürokratie könnten den "Markt als Entdeckungsverfahren" ersetzen.

Dem Bundespräsidenten Joachim Gauck ist zu danken, dass er in seiner Rede zur Eröffnung der Umwelt 2012 zu diesem Irrtum der Energiewende klar Stellung bezogen hat: "Ich bin überzeugt: Es gibt keinen besseren Nährboden für unsere Ideen und Problemlösungen als unsere offene Gesellschaft mit offenen Märkten und freiem und fairen Wettbewerb." Und er hat hinzugefügt: "Es wird uns nicht gelingen allein mir planwirtschaftlichen Verordnungen. Wohl auch nicht mit einem Übermaß an Subventionen."

Interview mit der Leipziger Volkszeitung

am 14. August 2012 (auszugsweise)

Leipziger Volkszeitung:   Angela Merkel ist, mit weitem Abstand, die bei den Bürgern beliebteste Politikerin. Sie gelten als Kritiker des Merkel-Systems. Ist die Politik der CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlerin verbesserungsfähig?

Schlarmann:   Ihre Politik ist optimierbar, ihr Machtsystem nicht. Im Klartext: Ich sehe erhebliche Mängel, aber es gibt derzeit zu Angela Merkel und der kleinen Gruppe, die sie berät, keine personelle Alternative.

Leipziger Volkszeitung:   Gibt es ein System Merkel, an dem die CDU leidet?

Schlarmann:   Es gibt ein System Merkel. Das wird nicht schon auf dem nächsten Parteitag zur Diskussion stehen. Aber bei der nächsten Bundestagswahl wird sich zeigen, ob Angela Merkel für die Union noch ausreichend Stimmen mobilisieren kann.

Leipziger Volkszeitung:   Sie haben Zweifel?

Schlarmann:   Ich habe erhebliche Zweifel daran. Es geht seit vielen Wahlen abwärts.

Leipziger Volkszeitung:   Das Verhältnis zwischen Union und FDP ist zerrüttet. Welchen Anteil daran trägt die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende?

Schlarmann:   Frau Merkel trägt daran einen sehr erheblichen Anteil, weil sie die Grundlage der letzten Bundestagswahl verlassen hat. Es gab damals eine klare bürgerliche Mehrheit mit einem erheblichen FDP-Stimmenanteil. Darüber hat sich die Union natürlich geärgert. Die Menschen wollten aber keine Verlängerung der großen Koalition. Frau Merkel hat das, was die Wähler wollten, auch in den Koalitionsvertrag mit der FDP hineingeschrieben. Die liberale Handschrift ist darin deutlich zu erkennen ...

Leipziger Volkszeitung:   Und dann kam der Angriff auf die FDP?

Schhlarmann:   Mit dem Jahreswechsel gab es einen fundamentalen Bruch. Die von Merkel geführte CDU-Spitze entschied, dass man der FDP in dieser Koalitionsregierung keinen Stich mehr lassen will. Seitdem läßt man die FDP auflaufen.

Leipziger Volkszeitung:   Die FDP hat mit dem spätrömisch-dekadenten Westerwelle aber auch das Ihrige dazu getan.

Schlarmann:   Das hat nur gezeigt, dass auch die FDP mit dem Wahlsieg nicht richtig umgehen konnte. Sie hat den Weg aus der Opposition in die Regierung nicht gefunden.

Leipziger Volkszeitung:   Auf einen schwachen Westerwelle traf dann also eine verräterische Angela Merkel?

Schlarmann:   Frau Merkel hat bei Abschluss des Koalitionsvertrages sicher nicht die Absicht gehabt, sich an der FDP zu rächen. Der Druck kam später, nicht zuletzt aus dem Sozialflügel. ...

Leipziger Volkszeitung:   Aber Fakt ist: Es gibt keinen internen namhaften Herausforderer?

Schlarmann:   In der Tat, es gibt keinen. Unter den jetzigen Verhältnissen kann auch ein potentieller Nachfolger nicht reüssieren. Das ist unmöglich. ... Was oben politisch und programmatisch gesagt wird, kommt unten als Anweisung an. In einem derart durchorganisierten System kann nicht viel nachwachsen. Schauen sie sich die ehemalige zweite Ebene der Union an. Von den möglichen Herausforderern, die vor zwei Jahren noch da waren, hat keiner politisch überlebt.

Leipziger Volkszeitung:   Ist Frau Merkel von lauter Schwächlingen umgeben?

Schlarmann:   Das liegt am System Merkel. Wer sich auf Landesebene für die Bundespolitik vorbereiten wollte, ist weg. ... Zwei große Bundesländer, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, sind inzwischen fest in Oppositionshand.

Leipziger Volkszeitung:   Dort kennt man ja kaum noch die CDU-Anführer.

Schlarmann:   Damit wissen Sie, dass man dort auf absehbare Zeit nicht allzu viel gewinnen kann. Die Macht in der CDU von heute konzentriert sich auf das Kanzleramt. Alle Minister sind von der Kanzlerin unmittelbar abhängig. Frau Merkel kann sie ernennen und entlassen, wie sie möchte. Das haben wir bei Norbert Röttgen erlebt. Karriere macht nur der, der auf der Linie von Frau Merkel liegt.

Leipziger Volkszeitung:   Programmatisch ist dafür für wahre Konservative die Hölle los?

Schlarmann:   Programmatisch wird die CDU zurzeit wieder mit einem Wohlfühl-Programm für den nächsten Bundesparteitag ruhiggestellt. Die richtig harten Themen, Beispiel Energie, Beispiel Europa, werden mit ihren problematischen Fakten nicht behandelt. Prinzipielle Bedenken werden am Rande mitbearbeitet, allenfalls. Es gibt keinerlei grundsätzliche Debatte mehr, weil alles in Frau Merkels CDU als alternativlos angeboten wird. Das ist wie in der Mensa, die täglich nur ein Gericht anbietet. Wem das nicht schmeckt, muss draußen bleiben.

Leipziger Volkszeitung:   Dann gibt es nur eine Perspektive: Erst wenn das System Merkel an der Wahlurne explodiert, kann es besser werden?

Schlarmann:   Dies hat Angela Merkel in der Hand. Aus der Partei heraus wird sich nichts mehr tun. Die CDU hat sich an das System Merkel gewöhnt. Solange man noch hier und dort an der Regierung beteiligt ist, ist man mit dem System auch zufrieden. Es gibt ja immer noch die große Koalition als Rückzug. Darauf wird sowieso von vielen hingearbeitet.

Mittelstandsdialog der MIT Niedersachsen zur Landtagswahl 2013
(am 27. November 2012 in Hannover)

I

Am 20. Januar 2013 wird in Niedersachsen der neue Landtag gewählt. Die Wahl entscheidet, wer in Niedersachsen zukünftig regiert. Der Mittelstand will die Fortsetzung der  schwarz-gelben Koalitionsregierung unter der Führung von David McAllister. Hierfür werben wir. Eine rot-grüne Regierung muss verhindert werden. Nicht nur in Niedersachsen, sondern auch im Bund. Wer in Berlin eine schwarz-gelbe Regierung will, muss McAllister unterstützen.  Denn die Wahl in Niedersachsen wird ein wichtiges Signal für den Ausgang der Bundestagswahl im Herbst des nächsten Jahres sein.

Die Sozialdemokraten und die Grünen wollen die nächste Bundestagswahl in der Mitte der Gesellschaft gewinnen. Das jedenfalls signalisiert die Auswahl der Spitzenkandidaten. Mit  Peer Steinbrück wollen die Sozialdemokraten ihre Wirtschafts- und Finanzkompetenz unter Beweis stellen, die mancher bei den christlichen Demokraten vermisst. Katrin Göring-Eckardt hat die Aufgabe, den Grünen das Image einer bildungsbürgerlichen Partei zu geben. Doch wer nicht nur die äußere Hülle sieht, sondern auf den Inhalt blickt, erkennt sehr schnell, dass Rot-Grün auf  linkem Kurs unterwegs ist.

II

Dass die Roten ein geradezu blindes Vertrauen Vater Staat haben, weiß  man. Dass aber auch die Grünen von derselben Leidenschaft besessen sind, wollen viele, auch bürgerliche Kreise,  nicht wahrhaben. Immer wieder ist die Rede von einem hohen Anteil Selbständiger unter den grünen Parteimitgliedern, ja, sie hätten im Grunde dieselbe Wählerklientel wie die Liberalen. Doch die Politik der Grünen, wie sie Mitte November auf ihrer Delegiertenkonferenz in Hannover formuliert worden ist, deckt dies nicht. Wie die Sozialdemokraten wollen die Grünen die Steuern kräftig erhöhen, über die Sozialkassen mehr umverteilen und massiv in die Wirtschaft eingreifen. Rote und Grüne sind und bleiben auch im bürgerlichen Gewand linke Parteien.

Bei den Grünen ist Katrin Göring-Eckardt für das Bild und Jürgen Trittin für den Inhalt zuständig.  Es überrascht deshalb nicht, dass die Grünen ähnliche Steuerpläne wie die Sozialdemokraten haben. Beide reden von der öffentlichen Armut und dem privaten Reichtum und der Notwendigkeit, dies zu ändern.

- Der Spitzensteuersatz soll drastisch auf 49 Prozent angehoben werden. Aus diesem Grund blockieren die Linken im Bundesrat das Gesetz der Regierung zur Abmilderung der kalten Progression. Dabei hat die SPD mal eine ganz andere Politik verfolgt. So erklärte Sigmar Gabriel früher, es sei richtig, dass die rot-grüne Bundesregierung  „konsequenterweise auch den Spitzensteuersatz“ gesenkt habe. (WamS, 14.05.2000). Heute will der Kandidat Steinbrück hoch auf 49 Prozent. Mit Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer steigt die Belastung dann auf 56 Prozent.

- Außerdem soll die Vermögenssteuer wieder eingeführt werden. Über zehn Jahre wollen die Grünen damit 100 Milliarden Euro einnehmen. Dies wird viele kleinere und mittlere Unternehmen massiv in ihrer Substanz belasten. Der Verwaltungsaufwand dürfte dabei den Steuerertrag deutlich übersteigen, was  auch Peer Steinbrück weiß. Noch im letzten Jahr sagte er: „Ich sehe wohl, dass es angesichts der steigenden Vermögen eines Eingriffs bedarf, gebe meiner Partei aber zu bedenken, dass das handwerklich sehr kompliziert  ist. Denn die Steuer ist eine Substanzsteuer, die auch an die Substanz kleiner und mittlerer Unternehmen geht. Und die wollen wir ja nicht schädigen.“ (Tagesspiegel, 13.11.2011) Nun wohl doch! Das spricht für das Maß an Beinfreiheit, das sich der Kandidat von seiner Partei ausbedungen hat.

- Dies gilt auch für die geplante Erhöhung der Abgeltungssteuer für Kapitalerträge. Dass die Steuer heute bei 25 Prozent liegt, hat nicht zuletzt der frühere Finanzminister Steinbrück umgesetzt. Sein Argument lautete:„Besser 25 Prozent auf X als 42 Prozent von nix.“ Inzwischen ist Steinbrück auf Genossen-Kurs eingeschwenkt und sagt: „Kapitaleinkünfte (müssen) mit einem deutlich höheren Satz besteuert werden als den derzeit geltenden 25 Prozent“. (Süddeutsche Zeitung, 11.08.2012)

- Außerdem sollen die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer  nach Plänen des zukünftigen Finanzministers Trittin, dem Wolf im Schafspelz, verdoppelt werden. Dies zielt direkt auf den Mittelstand, weil dafür die bestehenden Verschonungsregeln für die Unternehmensnachfolge abgeschafft oder eingeschränkt werden müssen. Das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht bietet dafür den passenden Anlass.

Steinbrück hat sich eine klare Zielmarke gesetzt: 30 Milliarden Euro  mehr durch neue und  höhere Steuern. Belastet werden Einkommen über 60.000 Euro pro Jahr, Haus und Hof sowie Vermögensbesitzer und Unternehmer, insbesondere der Mittelstand. Der Kommentar des DIHK-Hauptgeschäftsführers, Martin Wansleben: “Die Steuererhöhungspläne der SPD sind falsch. Sie gehen zulasten von Eigenkapital, Investitionen und Arbeitsplätzen in Deutschland.“(Handelsblatt, 10.10.2012)          

III

Der beherzte Griff in die Taschen der Bürger erscheint auch nötig angesichts der rot-grünen Ausgabenphantasien:

- Bei der Rente gerieren sich SPD und Grüne noch viel fürsorglicher als die Regierungskoalition. Geht es nach der Opposition, werden weitaus mehr Menschen eine aus Steuermitteln aufgestockte Alterssicherung beanspruchen können, als dies die Regierung in ihrem Kampf gegen Alterarmut für nötig hält. Die Unterschiede zwischen einer beitragsfinanzierten Rente und einer steuerfinanzierten Grundsicherung verschwinden dadurch immer mehr. Der sozialpolitische Zweck heiligt nahezu jedes Mittel!

- Darüber hinaus durchlöchert die SPD auf Druck der Gewerkschaften immer stärker die Rente mit 67. Die jetzige Arbeitsgeneration möchte trotz fehlenden Nachwuchses frühzeitig in den Ruhestand wechseln, natürlich zulasten der Jüngeren. Dies beweist, wie weit sich die beiden Oppositionsparteien von ihrem einstigen Reformkurs entfernt haben.

- Dies gilt insbesondere für die Arbeitsmarktpolitik. Die Grünen wollen Langzeitarbeitslosen deutlich mehr Geld geben und den Jobcentern alle Sanktionsmöglichkeiten nehmen.

- Die Sozialdemokraten sagen auch der Zeitarbeit und anderen flexiblen Arbeitsformen auf Druck der Gewerkschaften den Kampf an. Und beide Parteien wollen den flächendeckenden Mindestlohn.

Alle diese Maßnahmen mögen von den Sozialromantikern gut gemeint sein. Im Ergebnis würden sie dem Beschäftigungsaufschwung der letzten Jahre ein jähes Ende bereiten und gerade für Geringqualifizierte die Chancen auf einen Job vernichten. Hierfür will man dann mit Milliardensummen einen subventionierten zweiten Arbeitsmarkt aufbauen. Alles schon einmal gehabt! Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind keine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt – das hat die Vergangenheit gezeigt – sie schönen nur die Statistik.

Solche Parteien gehören nicht an die Regierung! Rot-Grün hat offenbar vergessen, warum die Regierung Schröder einst die Hartz-Kommission eingesetzt hatte, um nach Wegen aus der Massenarbeitslosigkeit zu suchen. Deutschland war damals mit fünf Millionen Arbeitslosen der „kranke Mann“ in Europa. Dass jetzt, wo der Erfolg der damals beschlossenen Liberalisierung des Arbeitsmarktes die ganze Welt mit Neid nach Deutschland blicken lässt, das Rad just von den damaligen Reformparteien zurückgedreht werden soll, erscheint geradezu absurd.

Angesichts der anstehenden Herausforderungen in der europäischen Schuldenkrise, den Problemen mit der Energiewende und der Überalterung der Bevölkerung ist ein solcher politische Kehrtwende geradezu verantwortungslos. Sozialdemokraten und insbesondere den Grünen fehlt die Reife für die Übernahme von Regierungsämtern.

IV

Dies heißt aber nicht, dass der Wähler zu dem gleichen Urteil kommt. Die wirtschafts- und sozialpolitische Kehrtwende, die Sozialdemokraten und Grüne in der Opposition vollzogen haben, entspricht durchaus dem Zeitgeist. In der deutschen Gesellschaft ist die Skepsis gegenüber einer liberalen wirtschaftsfreundlichen Politik in den letzten Jahren stetig gewachsen. An die Stelle ist die Erwartung an den Staat getreten, dass er die Probleme löst und umfassenden Schutz gewährt.

Auf dieser Welle surfen insbesondere die linken Parteien und insbesondere die Grünen. Die Wahrheit gebietet aber, darauf hinzuweisen, dass es auch in der Union starke Kräfte gibt, die mit roten oder grünen Surfbrettern unterwegs sind, um den Anschluss an die sogenannte Moderne nicht zu verpassen. Dabei wird dann gern übersehen, dass ein solcher Modernisierungskurs als Verstärker für den jeweiligen Zeitgeist wirkt, zu dem es dann  keine Alternative zu geben scheint. Nur soviel zur Profildebatte in der Union. Wir sollten uns an Goethe orientieren, der schon wusste, dass der Zeitgeist regelmäßig der Geist der Herrschenden ist.

Wie sich die Parteien des Zeitgeistes bedienen können, zeigt die  geplante Wahlkampfstrategie der Grünen. Nachdem das Motto „Atomkraft? Nein danke!“ an Strahlkraft verloren hat, ist man auf der Suche nach einem neuen Wahlkampfthema, das inzwischen gefunden wurde. Es ist  die Agrarwende, unter der man den Widerstand gegen Intensivtierhaltung und die industrielle Fleischerzeugung versteht. Laut der ehemaligen Landwirtschaftsministerin Künast soll dies ein „Alleinstellungsmerkmal“ der Grünen werden.

Den politischen Anlass bietet die Novelle des Tierschutzgesetzes, die auf der Tagesordnung des Bundestages steht. Dabei trifft man auf eine postindustrielle Gesellschaft, die landwirtschaftliche Produktion nicht aus eigenem Erleben, sondern nur noch aus dem Fernsehen kennt. Im vorpolitischen Raum soll es bereits zweihundert Bürgerinitiativen geben, die gegen Agrarfabriken und industrielle Fleischerzeugung zu Felde ziehen, wie aus grünen Kreisen berichtet wird.

Verräterisch ist dabei die Sprache: Frau Künast spricht nicht von „Landwirten oder Bauern“,  sondern von „Investoren und Agrarunternehmen“, die den ländlichen Raum in Besitz nehmen und die Bodenpreise verderben. Mit solchen Gegensätzen - traditionell gegen industriell,  Familienbauernhof gegen Massentierhaltung  -  hofft Frau Künast, auch manchen Bauern von der Union weg hin zu den Grünen zu treiben. Die Gewinne der Grünen auf dem Lande bei den jüngsten Wahlen in Baden-Württemberg werden damit erklärt.

Eine solche Wahlkampfstrategie ist unverantwortlich, weil sie Wirtschaftsbetriebe und Arbeitsplätze vernichten kann. In einem Agrarland wie Niedersachsen mit großen Agrarbetrieben, die sich zumeist in Familienbesitz befinden, muss die Union deshalb deutlich Stellung beziehen.

V

Deutschland steht vor großen Herausforderungen: in Europa, auf dem Energiemarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen. Lösbar sind die Probleme nur mit einer starken Wirtschaft, in der der Mittelstand eine maßgebliche Rolle spielt. Über 95 Prozent aller Unternehmen sind Familienunternehmen. Diese gilt es zu fördern, was Sozialdemokraten schwer fallt. 

Deutschland ist ein Industrieland. Wir exportieren technische Güter und nicht Finanzdienstleistungen. Wir müssen die Industrie deshalb schützen und  für eine moderne Infrastruktur  sorgen. Mit Grünen, die sich damit rühmen, dass es unter Rot-Grün in Niedersachsen keinen einzigen Kilometer Autobahn gegeben hat, ist dies nicht zu machen.

Deutschland wirtschaftlicher Erfolg beruht auf dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehören Eigenverantwortung und unternehmerische Freiheit. Die Linken wollen das genaue Gegenteil: kollektive Verantwortung und zentrale Steuerung der Wirtschaft. Alles nach dem Motto: Das Primat gehört der Politik.

Eine solche Politik dient nicht dem Wohl des deutschen Volkes! Hieran sollte sich jeder bei seiner Wahl orientieren!

Katholische Akademie in Berlin e.V.
Wirtschaftsethisches Forum am 28. November 2012

Anders wachsen? Politische Optionen
Statement

I
Wachstumskritik

Im Lexikon Soziale Marktwirtschaft beginnt das Kapitel Wachstum folgendermaßen:

„Unter wirtschaftlichem Wachstum versteht man die Zunahme des Realeinkommens pro Kopf der Bevölkerung; das Realeinkommen wird hierbei zweckmäßigerweise durch das reale Bruttoinlandsprodukt gemessen. Infolge dieses Wachstums verbessert sich dir Versorgung der Menschen mit Gütern und Dienstleistungen“.

Es sind Aussagen wie diese, die auf Kritik stoßen:

- Bemängelt wird die Unvollständigkeit dieses Einkommensbegriffs, weil nicht- monetäre Leistungen wie die Hausarbeit und das Ehrenamt nicht erfasst werden.

- Besonders wird kritisiert, dass die sogenannten externen Erträge und Kosten im BIP nicht oder nur unvollständig abgebildet werden. Hierbei konzentriert man sich vor allem auf Klima- und Umweltschäden sowie den Verbrauch beschränkter Ressourcen.

- Schließlich wird gefordert, dass das BIP durch einen wie auch immer gearteten Glück-Index ersetzt werden sollte, der auch die gesellschaftlichen Verhältnisse bewertet. Dies ist Gegenstand einer wachsenden Glücksforschung. Relevante Ergebnisse lassen allerdings auf sich warten.   

- Ein wesentlicher Mangel wird meines Erachtens zu wenig beachtet. An der Veränderung des BIP allein ist nicht zu  erkennen ist, ob es sich dabei um ein kurzfristiges quantitatives Wachstum, stimuliert durch staatliche Konjunkturprogramme,  oder um ein nachhaltiges qualitatives Wachstum handelt, das durch Verbesserung des Produktionspotentials entstanden ist.

Wachstumskritiker wie Meinhard Miegel ziehen aus der Kritik am Wachstum den folgenden Schluss: „Wir können auch anders sein.“ Der Mensch müsse nicht seinen Konsum immer weiter steigern, um zufrieden zu sein. Doch genau auf dieses Prinzip des grenzenlosen Wachstums sei das westliche Wirtschaftsmodell aufgebaut. Aus der Wachstumskritik wird damit eine Systmkritik.

II
Enquete-Kommission

Miegel ist einer der Sachverständigen, die vom Bundestag in die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ berufen wurden. Dass die Union ihn benannt hat, zeigt, dass die Kritik am Modell der Sozialen Marktwirtschaft auch bei Konservativen hoffähig geworden ist.

Der Auftrag an die Enquete-Kommission geht nicht dahin – und das sollte klar gestellt
werden - , eine Blaupause für ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu entwickeln. Laut Entschließungsantrag soll die Kommission

- den Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft ermitteln,

- einen ganzheitlichen Wohlstands- oder Fortschrittsindikator entwickeln und

- die Möglichkeiten und Grenzen der Entkoppelung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und technischen Fortschritt ausloten.

Ich glaube, dass Ludwig Erhard mit einem solchen Auftrag gut leben könnte. Bekannt ist seine Aussage: „Wohlstand ist eine Grundlage, aber kein Leitbild für die Lebensgestaltung.“

Noch konkreter wird er in seinem Buch „Wohlstand für alle“ Seite 232 f). Ich zitiere:

„Mir wird des Öfteren die Frage gestellt, zu welchem letzten Ziel denn die von mir verfolgte Wirtschaftspolitik führen soll.

Meine Antwort ist klar und eindeutig: Ich glaube nicht, dass es sich bei der wirtschaftlichen Zielsetzung der Gegenwart (1957) gleichsam um ewige Gesetze handelt. Wir werden mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen, oder ob es nicht sinnvoller ist, unter Verzichtsleistung auf diesen „Fortschritt“ mehr Freizeit, mehr Besinnung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen.“

Offenbar ist für uns jetzt die Zeit gekommen, dass wir uns auch anderen Zielen als dem materiellen Wohlstand zuwenden können. Dies heißt aber nicht, dass wir den Milliarden von Menschen in Schwellen- und Entwicklungsländern, die sich gerade erst aus bitterer Armut befreien, ein Ende des Wachstums predigen dürfen. Eine solche Forderung wäre  arrogant und auch unsozial.

III
Stellenwert des Wachstums

Auch für uns ist der Verzicht auf Wachstum keine realistische politische Alternative. Entscheidend ist der Stellenwert, den eine Gesellschaft dem Wachstum innerhalb des Spektrums sinnvoller politischer Ziele geben will. Hier wird man zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

Häufig wird  fälschlicherweise  unterstellt, dass sich die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit einseitig und exzessiv am Wachstumsziel orientiert hat.  Genau das Gegenteil ist der Fall, wie insbesondere das „ Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“  aus dem Jahr 1967 zeigt, Dessen § 1 lautet:

„Bund und Länder haben bei ihren wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“

Dieses magische Viereck hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Man vergegenwärtige sich nur die zu lösenden Probleme in der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise.

Mit einem ähnlichen Bild hat übrigens Meinhard Miegel im Dezember 2011 in einer Studie seines Denkwerk Zukunft ein „Wohlstandsquartett“ präsentiert hat, um den Wohlstand umfassender als mit der klassischen Wachstumsgröße BIP darzustellen Neben dem Wachstum umfasst das Quartett

- die Einkommensverteilung
- den gesellschaftlichen Zusammenhalt und
- den Ressourcenverbrauch

als Zielgrößen. Warum sollte man das magische Viereck nicht um solche Zielstellungen erweitern? Dies bedeutet aber nicht den Verzicht auf die Kennziffer des BIP, sondern dessen Ergänzung und Bereicherung.

IV
Glück-Index

Illusionär ist die Vorstellung, das BIP könne durch einen Glück-Index ersetzt werden, wie ihn zum Beispiel das Land Bhutan kennt. Hier befragt der König seine Untertanen regelmäßig, ob sie zufrieden und gesund sind, ob sie genug Geld fürs Leben haben – was nicht viel ist – und ob sie täglich beten.

Gegen einen solchen staatlichen Glückspaternalismus sollte sich eine freiheitliche Gesellschaft verwahren.  Glück ist ein Zustand, für den die Politik in einer freien Gesellschaft mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung  keine Zuständigkeit hat.

Abschließend eine persönliche Prognose und Warnung:

Ziele im politischen Raum, mit denen sich die führenden Parteien identifizieren,  drängen nach politischer Umsetzung. Insofern ist die Arbeit der Enquete-Kommission von erheblicher politischer Relevanz.

Aufgabe der Kommission ist es vor allem, den Stellenwert des Wachstumszieles innerhalb des gesamten politischen Zielbündels festzulegen. Schon damit ist entschieden, ob die marktwirtschaftliche Ordnung gestärkt oder beschädigt wird.

Wir sollten nicht zulassen, dass eine „andere Wachstumspolitik“ dazu benutzt wird, die für ein liberales Gemeinwesen konstitutive Trennlinie zwischen Politik und Wirtschaft weiter zulasten der Freiheit zu verschieben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


 


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