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Merkels Regierungszeit : CDU ohne Führung
08.02.2020 18:35 (1939 x gelesen)

CDU ohne Führung

Seit Angela Merkel die CDU führt, hat die Partei Probleme mit ihrem konservativen Flügel. Die distanzierende Haltung der Parteispitze zur Werteunion ist dafür nur ein aktuelles Beispiel. Dies unterscheidet Merkel fundamental von früheren Vorsitzenden der Partei, die die Partei immer als eine Union liberaler, sozialer und konservativer Gruppierungen verstanden. Franz-Josef Strauß  formulierte sogar den Grundsatz,  dass es rechts von der CSU keine verfassungsmäßige politische Kraft mehr geben dürfe.

Von diesem Grundsatz haben sich CDU und CSU unter der Führung von Angela Merkel längst verabschiedet. Statt sich um die konservative Anhängerschaft zu kümmern, sucht man seit Jahren im links-liberalen Lager nach neuen Wählern. Das hat die Union für SPD und Grüne koalitionsfähig gemacht, aber gleichzeitig dazu geführt, dass konservative Mitglieder die AfD gründeten. Wohin das letztlich geführt hat, lässt sich an den Ereignissen in Thüringen nach der jüngsten Landtagswahl beobachten.

Landtagswahl in Thüringen

Bei der thüringischen Landtagswahl im Oktober 2019 verlor die rot-rot-grüne Landesregierung unter dem linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow ihre Mehrheit. Die Linke wurde zwar mit 31 % stärkste Partei, die AfD erzielte aber den größten Stimmenzuwachs und wurde mit 23,4 % zweitstärkste Partei. Es folgte die CDU, welche mit 21,7 % der Stimmen der größte Verlierer der Wahl war. Die an der Regierung beteiligten Parteien SPD und Grüne mussten ebenfalls Verluste hinnehmen, sodass die bisherige rot-rot-grüne Landesregierung mit 42 von 90 Sitzen keine Mehrheit im neuen Landtag hat. Der FDP gelang mit 73 Stimmen über der 5-Prozent-Hürde die Rückkehr in den Landtag.

Der Ministerpräsident Bodo Ramelow erklärte nach der Wahl, er wolle trotz des Verlustes der Koalitionsmehrheit mit der Linkspartei für eine Fortsetzung der rot-rot-grünen Koalition kämpfen. SPD und Grüne sprachen sich ebenfalls für die Fortsetzung dieser Koalition aus. CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring schloss demgegenüber Koalitionen mit der AfD und der Linkspartei aus und warb für eine Vier-Parteien-Koalition der Christdemokraten mit SPD, Grünen und FDP. Er warnte gleichzeitig vor einer möglichen Minderheitsregierung unter Ramelow. Der FDP-Landesvorsitzende Thomas Kemmerich schloss Koalitionen mit den Linken und der AfD aus.

Kooperationsverbot der CDU

Im Hinblick auf die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen hatte sich der Bundesvorstand der CDU schon im Sommer 2019 zu der Frage positioniert, ob eine Zusammenarbeit der CDU mit der AfD  möglich sein kann. Präsidium und Bundesvorstand der CDU beschlossen einstimmig, „jegliche Koalition oder ähnliche Formen der Zusammenarbeit mit der AfD“ auszuschließen. In einem Beschluss heißt es, „alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten“ sollten genutzt werden, um diesen Beschluss auf allen Parteiebenen durchzusetzen. Ob sich alle Präsidiums- und Vorstandsmitglieder über die politischen Folgen eines solchen Beschlusses im Klaren waren, wird man nach den Ereignissen bei der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen wohl verneinen müssen.

Nach dpa-Informationen war eine erste Fassung des Papiers wegen des Protests ostdeutscher Politiker wie des sächsischen Regierungschefs Michael Kretschmer und des Thüringer CDU-Chefs Mike Mohring verändert worden. Dem Vernehmen nach warnten sie vor allem davor, den Eindruck von Wählerbeschimpfung zu hinterlassen. Es müsse gerade darum gehen, AfD-Wähler wieder zurückzugewinnen. Ziemiak sagte, es hätten sich anschließend alle, einschließlich der Vertreter aus den ostdeutschen Landesverbänden, klar dazu bekannt, dass eine Koalition oder vergleichbare Zusammenarbeit für die CDU nicht in Frage komme. „Darüber gab es nicht ansatzweise eine Diskussion.“

CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte bereits zuvor in der ARD-Sendung „Anne Will“ angekündigt, sie wolle jedes Mittel prüfen, um eine Zusammenarbeit oder Annäherung an die AfD zu verhindern. Die AfD sei „eine Partei, die zumindest in Teilen oder mit Repräsentanten keine klare Linie zu Rechtsextremismus und Rechtsradikalen zieht“.

Ähnlich äußerte sich CSU-Chef Markus Söder. Aus seiner Sicht dürfen weder CSU noch CDU jemals mit der AfD zusammenarbeiten: „Das wäre von schwerem Schaden für die gesamte Union“, sagte er nach einer Sitzung des CSU-Vorstandes in München. Söder zog eine klare rote Linie für Unionspolitiker im Umgang mit der AfD, selbst „jeder Kaffeeplausch in einem Kommunalparlament“ sei abzulehnen. Für CDU und CSU müsse gelten, „keine Spiele, keine Freiräume, keinen kleinen Spalt für die Zusammenarbeit aufzumachen“. Söder reagierte damit auf Äußerungen einzelner CDU-Politiker aus einigen ostdeutschen Bundesländern, die eine Kooperation mit der AfD nicht generell ausschließen wollten.

Innerhalb der Unionsführung war damit alles klar. CDU und CSU hatten sich auf eine strikte Abgrenzung gegenüber der AfD verständigt. Dass dagegen in den ostdeutschen Ländern auf kommunaler Ebene angesichts der Mehrheitsverhältnisse vielfach verstoßen wird, wurde einfach ausgeblendet. Ungeklärt blieb auch, was unter „Zusammenarbeit“ im konkreten Fall zu verstehen war: Musste eine CDU-Fraktion alle parlamentarischen Initiativen der AfD ablehnen oder konnte sie sich der Stimme enthalten? Oder was sollte geschehen, wenn die AfD-Fraktion parlamentarische Initiativen der CDU unterstützte? Und wie sollte sich die CDU-Fraktion verhalten, wenn eine rot-rote Regierung nur mit Hilfe der AfD abgelöst werden konnte?

Der CDU-Vorstand hatte also einen Beschluss gefasst, der vieles offen ließ und für die parlamentarische Praxis unbrauchbar war. Dies fiel bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen nur deshalb nicht auf, weil es dort klare Mehrheiten gab. In Sachsen verfügt die neue Landesregierung aus CDU, SPD und Bündnisgrüne mit Michael Kretschmer (CDU) als Ministerpräsidenten im Landtag über eine klare Mehrheit. In Brandenburg konnte der SPD-Politiker Dietmar Woidke erneut zum Ministerpräsidenten gewählt werden, weil seine Koalition aus SPD, CDU und Bündnisgrünen über 50 Sitze von insgesamt 88 Abgeordneten verfügt. 

Nur in Thüringen klappte es nicht: Die 90 Sitze im Landesparlament verteilen sich mit 29 Sitzen auf die Linke, 22 Sitzen auf die AfD, 21 Sitzen auf die CDU und jeweils 5 Sitzen auf Grüne und FDP. Damit kommt die von dem ehemaligen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow aus Linken, SPD und Grünen angestrebte linke Koalition nur auf 42 von insgesamt 90 Stimmen, hätte also im Landtag keine Mehrheit. Demgegenüber würde eine rechte Koalitionsregierung von AfD, CDU und FDP unter der Führung von Mike Mohring (CDU) im Landtag über eine Mehrheit von 48 Stimmen verfügen. Dem steht jedoch auf Seiten der CDU das Kooperationsverbot gegenüber der AfD im Wege. Auch eine Koalition der Mitte unter Ausschluss von Linken und AfD ist keine Lösung:  CDU, SPD, Grüne und FDP verfügen insgesamt nur über 39 Abgeordnete.

Das Abwarten der CDU-Spitze

Wie also sollte die Thüringer CDU-Fraktion mit dieser Situation umgehen: Eine Regierungsbildung war ohne Linke oder AfD nicht möglich. Im Wahlkampf hatte die CDU ihren Wählern versprochen, die Linke bei ihrem Versuch, erneut den Ministerpräsidenten zu stellen, nicht zu unterstützen. Ramelow mit Stimmen der CDU zum Ministerpräsidenten zu wählen, wäre Wählerbetrug gewesen. Dies machte CDU-Landeschef Mike Mohring bereits am Wahlabend deutlich. Schon damals hätten Bundeskanzlerin Angela Merkel oder die  Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer sagen können, wie sich die CDU-Fraktion in Thüringen verhalten sollte.

Doch nichts geschah: Die Bundeskanzlerin und die Parteivorsitzende haben im Präsidium, im Vorstand, gegenüber Parteifreunden und im Beisein von Journalisten immer wieder nur dazu geraten, dass die CDU doch einfach abwarten sollte. Der Ball liege beim Ministerpräsidenten Ramelow; die CDU habe keinen Regierungsauftrag in dem Bundesland und somit auch keinen Grund, aktiv auf andere Parteien zuzugehen. Angesichts der klaren Positionierung von Mike Mohring, dass die CDU-Fraktion zukünftig an einer Regierung beteiligt werden wollte, war dies ein Rat ohne politischen Instinkt.

In der CDU-Führung nahm man Merkels Worte jedoch dankbar auf, man hatte ja auch keinen besseren Plan als abzuwarten. Paul Ziemiak wurde zwar immer wieder vorgeschickt, die Thüringer zu bremsen und zu warnen – doch fehlte ihm die notwendige Durchsetzungskraft. Dabei gab es im Adenauer-Haus längst Szenarien, wie man mit Landesverbänden verfahren will, die mit der AfD oder den Linken paktieren. Doch es blieb bei den Warnungen, und die kamen nicht einmal von der CDU-Chefin, geschweige denn von Merkel. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther spricht nicht von ungefähr davon, dass die CDU in Thüringen „schlicht und ergreifend allein gelassen“ worden ist. Das ist eine herbe Kritik an der CDU-Chefin, aber auch an der Kanzlerin.

Die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP)

Denn nur so ist zu erklären, dass sich bei der Wahl des Ministerpräsidenten im Thüringischen Landtag völlig überraschend der FDP-Politiker Thomas Kemmerich im entscheidenden dritten Wahlgang mit Stimmen von CDU und der AfD gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) durchsetzte. Die Entscheidung fiel denkbar knapp aus: Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Es gab eine Enthaltung. Der parteilose AfD-Kandidat Christoph Kindervater bekam im dritten Wahlgang keine Stimme - auch nicht aus der AfD-Fraktion.

FDP-Bundesvize Wolfgang Kubicki wertete das Ergebnis als großen Erfolg für Kemmerich. "Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Offensichtlich sei die Aussicht auf fünf weitere Jahre Ramelow für die Mehrheit der Abgeordneten im Thüringer Landtag nicht verlockend gewesen. Jetzt gehe es darum, eine vernünftige Politik für Thüringen zu machen, betonte Kubicki. Er rief  CDU, SPD, Linke und Grüne zur Zusammenarbeit auf: "Daran sollten alle demokratischen Kräfte des Landtages mitwirken." Möglich wäre, dass die FDP nun auf CDU und SPD zugeht und ihnen die Bildung einer Minderheitsregierung vorschlägt.

Die Notwendigkeit der Kooperation betonte auch FDP-Chef Christian Lindner. Kemmerich habe nun zwar große Verantwortung – „aber nicht allein“, sagte er. „Es kann gemeinsame Projekte der Parteien der Mitte für die Menschen in Thüringen geben“, betonte er. „Sollten sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung aber fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig.“

Demgegenüber reagierte die SPD empört auf das Abstimmungsverhalten der CDU-Fraktion im Thüringischen Landtag. Mehrfach war in der SPD von „Dammbruch“ die Rede. "Dass die Liberalen den Strohmann für den Griff der Rechtsextremisten zur Macht geben, ist ein Skandal erster Güte", schrieb SPD-Bundeschef Norbert Walter-Borjans auf Twitter. "Da kann sich niemand in den Berliner Parteizentralen wegschleichen."  Die SPD-Spitze forderte ein sofortiges Eingreifen der Bundes-CDU. „Wir haben dringende Fragen an die CDU und werden diese zügig in einem Koalitionsausschuss klären“, kündigte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken an. Ähnlich äußerten sich auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD).

Linken-Chef Bernd Riexinger sprach von einem "Tabubruch", der weitreichende Folgen haben werde. "Es ist ein schwarzer Tag. Die CDU und FDP haben sich eindeutig als Steigbügelhalter für die AfD betätigt", sagte Riexinger. Die Thüringer Linken-Landeschefin Susanne Hennig-Wellsow warf Kemmerich nach der Wahl als Zeichen ihrer Verachtung den Blumenstrauß vor die Füße. Juso-Chef und SPD-Vize Kevin Kühnert sagte: "Die Masken sind gefallen."

Die AfD wollte die Wahl als bundesweiten Fingerzeig verstanden wissen. AfD-Landeschef Höcke sprach von einem "Neustart der Thüringer Politik". Er hoffe, dass davon aber auch ein Signal ausgehe, das bundesweit beachtet werde.

Die Reaktionen der CDU-Führung

Die CDU in Thüringen wies jede Verantwortung für die Kooperation mit der AfD von sich: Seine Fraktion habe sich in den ersten beiden Wahlgängen enthalten und im dritten den "Kandidaten der Mitte" gewählt, sagte der Thüringer Parteichef Mike Mohring. "Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien."  Mohring betonte, Kemmerich müsse nun klarmachen, dass es keine Koalition mit der AfD und eine klare Abgrenzung nach rechts gebe. Dann sei auch die CDU offen für Gespräche.

Die CDU-Führung in Berlin wollte diese Interpretation jedoch nicht akzeptieren. Annegret Kramp-Karrenbauer warf ihren Parteikollegen in Thüringen vor, gegen die Beschlusslage der Partei verstoßen zu haben. „Das Wahlverhalten im dritten Wahldurchgang geschah gegen den Willen der Bundespartei, das halte ich für falsch“, sagte sie. Dass der von der CDU unterstützte FDP-Politiker Kemmerich auch mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, sei „gegen die Beschlusslage der CDU“ erfolgt. Sie sehe „keine stabile Grundlage für den jetzt gewählten Ministerpräsidenten“. Nun müsse darüber geredet werden, ob es Neuwahlen gebe, sagte Kramp-Karrenbauer.

Auch CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak distanzierte sich ausdrücklich vom Verhalten der CDU in Thüringen. „Die FDP hat mit dem Feuer gespielt und das ganze Land in Brand gesetzt“, sagte Ziemiak. „Umso schlimmer ist, dass offensichtlich auch Abgeordnete der CDU Thüringen in Kauf genommen haben, dass durch ihre Stimmabgabe ein neuer Ministerpräsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke gewählt werden konnte.“ Die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen der AfD „spaltet unser Land“, sagte Ziemiak. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen“. Einstimmig empfahl dies auch das Präsidium der Bundes-CDU.

Angela Merkel war unmittelbar an dem Geschehen nicht beteiligt, weil sie sich zu einem Staatsbesuch in Südafrika aufhielt. Als sie jedoch erfuhr, dass die SPD den Thüringer Wahlvorgang zur Koalitionsfrage machen wollte, meldete sie sich von dort zu Wort: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat, für die CDU und auch für mich. Nämlich, dass keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen“, sagte sie. In Richtung der CDU in Thüringen sprach sie deshalb von einem „Vorgang, der unverzeihlich“ ist. Das Ergebnis müsse wieder rückgängig gemacht werden. Neuwahlen bezeichnete Merkel dabei „als eine Option“. Dass die Angelegenheit geeignet war, ihre Kanzlerschaft zu beenden, schien ihr nach Aussage anwesender Journalisten durchaus bewusst gewesen zu sein.

Rettungsversuche

Unmittelbar nach Bekanntwerden dieser Aussagen begann das mediale Trommelfeuer gegen  die Wahl von Kemmerich (FDP) mit dem Ziel, die abgewählte rot-rot-grüne Landesregierung  unter dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow wieder zu installieren. In allen Talkshows der öffentlich-rechtlichen Sender wurde der Wahlvorgang in Thüringen skandalisiert, weil Kemmerich mit den Stimmen der AfD gewählt worden war.

Dieser Proteststurm blieb nicht ohne Erfolg: Wolfgang Kubicki, der zunächst von einem „großartigen Erfolg“ gesprochen hatte, ruderte zurück und sprach sich für Neuwahlen aus. Christian Lindner reiste nach Erfurt, um Kemmerich zu überzeugen, dass er zurücktreten müsse. Notfalls werde man alle Möglichkeiten der Parteisatzung ausschöpfen. Der FDP-Fraktion empfahl er die Auflösung des Landtages, womit sich diese einverstanden erklärte. Kemmerich sagte nach dem Gespräch, er werde seinen Posten räumen und den Weg für Neuwahlen frei machen. Aber auch Lindner selbst geriet unter Druck, weil er die Wahl von Kemmerich nicht rechtzeitig verhindert hatte.

Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer reiste ebenfalls nach Erfurt, um die dortige CDU-Fraktion ins Gebet zu nehmen. Im Gegensatz zu Lindner hatte sie jedoch keinen Erfolg: Die dortige CDU-Fraktion weigerte sich, den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Davon ließ sie sich auch nicht abbringen, als Kramp-Karrenbauer mit der Rückendeckung der Kanzlerin auf mögliche „Konsequenzen“ hinwies. So könnte die Partei als Ordnungsmaßnahme einzelnen Rebellen ihre Parteiämter aberkennen. Ohne Ergebnis reiste die CDU-Parteivorsitzende nach Berlin zurück.

Führungsversagen

Wie fundamental die Führungskrise in der CDU inzwischen ist, lassen auch Wortmeldungen aus den Parteigliederungen erkennen.

Der JU-Chef Tilman Kuban und der Chef der CDU-Mittelstandsunion Carsten Linnemann erklärten öffentlich, dass die CDU-Führungsspitze für die Thüringer Vorgänge mitverantwortlich ist: „Statt die Dinge laufen zu lassen, hätte die Parteispitze gut daran getan, Führung zu zeigen“, so Kuban und Linnemann. „Sie hätten die einzelnen Szenarien mit der CDU Thüringen gemeinsam vor der Wahl durchspielen und Konsequenzen aufzeigen müssen statt nach der Wahl.“ Beide wandten sich auch gegen die Forderung nach Neuwahlen: „Der Ruf nach Neuwahlen ist falsch und wird die Ränder rechts wie links stärken“ sagten die beiden CDU-Politiker. „Wir können nicht solange wählen, bis uns das Ergebnis passt.“ Als Alternative schlugen sie die Bildung einer Expertenregierung mit einem parteiunabhängigen Ministerpräsidenten vor.

Spätesten jetzt sollte die Bundeskanzlerin eigentlich einsehen, dass sie einen fatalen Fehler gemacht hat, als sie den Parteikollegen nach der Landtagswahl in Thüringen empfahl, die Dinge laufen zu lassen und auf Bodo Ramelow zu warten. Dabei verkannte sie wie auch Annegret Kramp-Karrenbauer, dass die von Mike Mohring geführte CDU-Fraktion die feste Absicht hatte, an der nächsten Regierung in Thüringen mitzuwirken. Dies nicht erkannt und die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) nicht verhindert zu haben, war ein eklatanter Führungsfehler, der der CDU erheblich geschadet hat.

Dass Angela Merkel jedoch zu einer solchen Einsicht nicht bereit oder fähig ist, zeigt ihre jüngste Entscheidung, Christian Hirte (CDU), den Ostbeauftragten der Bundesregierung, zu entlassen, weil er sich über die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) gefreut hat. So hatte es die SPD-Spitze gefordert.

Darüberhinaus hat das Präsidium der CDU einstimmig einen Beschluss gefasst, in dem SPD und Grüne aufgefordert werden, für das Amt des Thüringischen Ministerpräsidenten einen Kandidaten zu präsentieren, der "das Land nicht spaltet, sondern das Land eint". Mit einer solchen Person wolle man dann zusammenarbeiten. Nach dem Verständnis der SPD und den Mehrheitsverhältnissen im Landtag kommt dafür nur ein Kandidat der Linken infrage, nämlich Bodo Ramelow. Vieles deutet inzwischen darauf hin, dass die CDU-Spitze das auch so sieht. 

Bisher galt in der CDU der allseits verkündete Grundsatz, dass es sich sowohl bei der AfD als auch den Linken um extreme Parteien handelt, mit denen eine Zusammenarbeit nicht möglich ist. Doch schon länger lässt sich beobachten, dass die Brandmauer der CDU nach links Risse bekommen hat. Das Argument lautet, man dürfe Personen wie Bodo Ramelow und Björn Höcke nicht gleichsetzen. In diesem Sinne sollen sich auch CDU-Präsidiumsmitglieder geäußert haben. 

Der Beschluss des Präsidiums bestätigt Zweifel, ob das bisher geltende Gebot der Äquidistanz zu allen extremen Parteien weiterhin gültig sein soll. Zunächst heißt es klar und eindeutig: "Von der CDU gibt es keine Stimmen für einen Kandidaten der AfD oder der Linkspartei." Aber dann folgt die weitere Feststellung: "Von der CDU gibt es keine Stimmen für einen Kandidaten, der auf Stimmen der AfD angewiesen ist." Fehlt da nicht die Linke, die Erbin der SED?

Doch damit war das Drama noch nicht zu Ende:

Verzicht auf Kanzlerkandidatur

Am 10 Februar 2020 teilte Annegret Kramp-Karrenbauer dem Präsidium der CDU, also dem engsten Führungskreis um Angela Merkel, überraschend mit, dass sie nicht mehr für eine Kanzlerkandidatur zur Verfügung steht. Sie begründete dies damit,  dass die Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz die Partei geschwächt habe. „Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur müssen am Ende aber aus meiner Sicht in einer Hand liegen.“ Sie wolle solange im Amt bleiben, bis ein Parteitag endgültig über den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur entschieden habe. 

Diese Begründung richtete sich gegen Angela Merkel, die bis zum Ende der Legislaturperiode gern Bundeskanzlerin bleiben möchte. Teilnehmer der Sitzungen berichteten, dass die Ankündigung von Kramp-Karrenbauer die Präsidiumsmitglieder sprachlos gemacht habe. Auch in der anschließenden Vorstandssitzung habe Merkel um ihre Fassung ringen müssen. Dies ist nachvollziehbar, weil mit dem Rücktritt von Kramp-Karrenbauer Merkels Plan,  wie sie ihre Nachfolge regeln und ihr politisches  Erbe sichern wollte, obsolet geworden ist.

Die Parteivorsitzende ist sicherlich auch daran gescheitert, dass es ihr nicht gelungen ist, sich in der Partei und der Öffentlichkeit als geeignete Kandidatin für die Kanzlerschaft zu präsentieren. Dafür ist aber nicht zuletzt auch Merkel verantwortlich. Wiederholt hat sie die Vorsitzende in Stich gelassen, letztmalig bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Mit ihrem Diktum von einem Vorgang, der „unverzeihlich“ sei, und mit ihrer klaren Präferenz für Bodo Ramelow als Ministerpräsident hat sie Kramp-Karrenbauers Bemühungen um eine allseits vertretbare Lösung konterkariert.

In der Partei herrscht allgemeine Ratlosigkeit, wie es weiter gehen soll. „Aber wir, die Führung der CDU insgesamt, tragen natürlich alle Verantwortung für diese Entwicklung“, sagte Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther. Dem ist nichts hinzu zu fügen.


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