Der Staat als Wohltäter und Retter
(Walter Eucken Institut Freiburg am 6. Mai 2010)
In allen westlichen Ländern wächst die Staatsverschuldung als Folge dynamisch steigender Sozialausgaben. Wie gefährlich diese Entwicklung ist, wenn eine internationale Finanzkrise hinzutritt, zeigt sich am Beispiel Griechenland. Das Land ist zahlungsunfähig und muss von den Euro-Ländern gerettet werden. Dies erfolgt entgegen dem Europäischen Vertragswerk, wonach jedes Land für seine Schulden selbst einzustehen hat (No-Bail-Out-Klausel).
Griechenland ist ein Extremfall, aber alle westlichen Länder befinden sich auf einer ähnlich schiefen Bahn. Dies hat tiefgreifende Folgen für das Staatsverständnis. Vom Garanten der Freiheit wird der Staat zunehmend zum "sozialen Wohltäter" und "Retter in Krisen".
Garant der Freiheit
Zentrales Anliegen des Liberalismus war die Befreiung der Gesellschaft aus den Fängen des Staates. Die Gesellschaft sollte im Rahmen der allgemeinen Gesetze frei von staatlichen Eingriffen sein. Durch verfassungsmäßig verbriefte Grundrechte sollte dieser Schutz vor dem Staat gesichert werden.
In diesen Kontext gehört der staatspolitische Grundsatz von Walter Eucken: "Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates sollte auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein, nicht auf die Lenkung des Wirtschaftsprozesses."
Entsprechend diesem Grundsatz haben Staat und Wirtschaft unterschiedliche Aufgaben und Rollen. Der Staat ist für das Regelwerk und seine hoheitliche Durchsetzung verantwortlich. Über die Spielzüge entscheidet aber die Wirtschaft auf privatrechtlich organisierten Märkten.
Das Grundgesetz hat dieses Staatsverständnis um das Sozialstaatsgebot ergänzt. Weil das Spiel der freien Kräften auf den Märkten vor allem den Starken nützt, soll der Sozialstaat die Schwachen schützen, inden er ihnen soziale Teilhabeansprüche gewährt. Der Staat des Grundgesetzes ist also nicht nur Garant der Freiheit, sondern auch Garant für den gerechten Ausgleich der marktwirtschaftlichen Ergebnisse.
Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist Ausdruck genau dieses Verfassungsverständnisses. Die Soziale Marktwirtschaft verbindet das Prinzip der Freiheit auf den Märkten mit dem Postulat des sozialen Ausgleichs. Für das Grundgesetz gilt allerdings, dass der Verfassungsstaat mehr Freiheit vom Staat als Freiheit durch den Staat gewährt (Paul Kirchhof). Dies ist keine Frage der Priorität, wohl aber der Gewichtung. Das Sozialstaatsgebot darf die Freiheitsgarantie nicht verdrängen.
In der politischen Realität hat die Freiheitsgarantie aber gegenüber dem Sozialstaatsgebot deutlich an Boden verloren. Im Verhältnis von Wirtschafts- und Sozialpolitik, von Eigenverantwortung und Solidarität hat das Soziale meistens obsiegt. Es ist nie gelungen, eine stabile Balance zwischen wirtschaftlicher Vernunft und sozialem Ausgleich herzustellen. Das Ergebnis ist ein Wohlfahrtsstaat, der nur noch mit stetig steigenden Staatsschulden finanziert werden kann.
Die politischen Treiber dieser Entwicklung sind hinlänglich bekannt. Norbert Blüm (CDU): "Wir brauchen einen starken Staat, keinen Nachtwächterstaat. Der Neoliberalismus hatte eine Programm, das hätte auch mein Papagei verkünden können: Deregulierung, Privatisierung, Kostensenkung. Mehr war das nicht." Oder Andrea Nahles (SPD): "Sicher ist, dass wir eine Renaissance von Politik erleben. Vielleicht auch eine Renaissance von sozialer, regulierter Marktwirtschaft. Wir haben jetzt ein paar Argumente mehr, warum ein starker Staat nötig ist."
Der Staat als Wohltäter
Für Ludwig Erhard war klar: "Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch. Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er sozial gemacht werden muss." Grundlage dieser Aussage war sein Verständnis vom Menschen als soziales Wesen, wie es Adam Smith formuliert hatte: "Man mag den Menschen für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal Anderer Anteil zu nehmen."
Neben diesem positiven Menschenbild gab es für Ludwig Erhard zwei Gründe für den Markt als soziale Einrichtung:
- Ordnungs- und sozialpolitische Angelegenheiten sollten eine Einheit bilden.
- Die wirtschaftliche Dynamik freier Märkte machte Sozialpolitik erst möglich.
Die Sozialpolitik in Deutschland ist allerdings einen anderen Weg gegangen. Statt auf den sozialen Markt hat sie auf den sozialen Staat gesetzt. Vorbild war die Bismarcksche Sozialpolitik. Der Staat sollte der Garant für den sozialen Ausgleich sein. Die Instrumente sind öffentliche Zwangsversicherungen und Sozialtransfers. Ludwig Erhard hat vor dieser Entwicklung gewarnt: "Solche Wohltaten muss das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat seinen Bürgern mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat..." Seine Mahnungen blieben unbeachtet. Die Gründe sind:
- eine verteilungsorientierte Wirtschaftsgesinnung,
- der Parteienwettbewerb um soziale Wohltaten,
- die Verzahnung zwischen Sozialwirtschaft und Politik.
Die Entwicklung zum Wohlfahrtstaat hat tiefgreifende Folgen für Staat und Gesellschaft:
- Die Vorsorge gegen zentrale Lebensrisiken und deren Finanzierung wurde Aufgabe der Politik.
- Die Eigenverantwortung wurde durch kollektive Zwangsversicherungen ersetzt.
- Private Vorsorge und Familienfürsorge wurden überflüssig.
- Die Annäherung von Arbeitseinkommen und Sozialtransfers veränderte die Arbeitsmotivation.
Der Wohlfahrtstaat macht die Menschen abhängig vom Staat. Röpke hat dies drastisch formuliert: "Der Mensch wird zu gehorsamen Haustier im großen Staatsstall erniedrigt, eingepfercht, gefüttert und bewacht von der Regierung."
Der Staat als Retter
Krisen werden von den Menschen gewöhnlich als Bedrohung empfunden. Für die Politik sind Krisen der Gesellschaft oder der Wirtschaft allerdings auch Chancen. Politiker können Handlungsfähigkeit und Führungskraft unter Beweis stellen.
Die Finanzkrise 2008 war eine solche Chance für die Politik - und sie hat sie genutzt. In wenigen Tagen wurde ein Bankenrettungsschirm über 500 Milliarden Euro beschlossen, ein Haftungsvolumen in Höhe des Steueraufkommens eines Jahres. Das Paket bestand aus Garantien, Krediten und Eigenkapitalhilfen, also aus Prozess steuernden Maßnahmen. Sie wurden damit gerechtfertigt, dass die Finanzkrise durch Versagen der Märkte und unmäßiges Gewinnstreben entstanden sei. Um die Funktionsfähigkeit der Märkte wiederherzustellen, sei das massive Eingreifen des Staates notwendig und ohne Alternative.
Was dabei zu kurz kam, war die Tatsache, dass wesentliche Ursachen in staatlicher Verantwortung gelegen haben. Ohne
- eine Politik des leichten Geldes der Notenbanken,
- die staatliche Förderung von Wohnungsbaukrediten an Sozialschwache in den USA,
- den Abbau von Regulierungen für Eigenkapital und Verbriefungen
hätte es eine solche Krise nicht gegeben.
Den Bankenrettungsschirmen liegt der Glaube zugrunde, dass ordnungspolitische Fehler durch Prozess steuernde Maßnahmen geheilt werden können. Dies ist ein fundamentaler Irrtum. Ordnungspolitische Versäumnisse lassen sich nur mit ordnungspolitischen Korrekturen heilen. Bis heute ist es allerdings nicht gelungen, den internationalen Finanzmärkten einen stabilen Ordnungsrahmen zu geben. Grund sind vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen über den Regelungsbedarf zwischen Europa und den USA.
Auch in der Konjunkturkrise 2009 hat sich der Staat als Retter mit diversen Konjunkturprogrammen beteiligt. Die Grundlage hierfür ist mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 gelegt worden. Die Versöhnung zwischen dem Freiburger Imperativ und der Keynesschen Botschaft gilt aber nur für die sogenannte Globalsteuerung, nicht für lenkende oder steuernde Eingriffe in einzelne Märkte, wie z.B. die Abwrackprämie und auch das Kurzarbeitergeld, die bedenkenlos mitbeschlossen wurden. Für den Retter zählen Ergebnisse, nicht Ordnungsprinzipien.
Ausblick
Als sozialer Wohltäter und Retter in Krisen greift der Staat tief in gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse ein. Der Staat verliert dadurch zunehmend seine ordnende und Freiheit sichernde Funktion.
Mi der Übernahme privater Risiken relativiert er das Haftungsprinzip und trägt dadurch zum Entstehen von Krisen bei. Gleichzeitig verliert er durch die wachsenden Leistungsverpflichtungen seine Handlungsfähigkeit. Er sollte sich deshalb auf seine Kernaufgaben konzentrieren. Marktwirtschaften brauchen einen starken Staat.