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Banken- und Finanzkrise : Mario Draghis Erbe
21.10.2019 22:18 (1712 x gelesen)

Mario Draghis Erbe

Am 31. Oktober 2019 endet die achtjährige Amtszeit von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Sein Erbe ist heiß umstritten. Die einen feiern ihn als den Retter des Euro, die anderen werfen ihm vor, vereinbarte Grundregeln der Geldpolitik mutwillig über Bord geworfen zu haben. Sind dieses Lob und diese Vorwürfe berechtigt? Ich meine: Nein!

Erinnern wir uns, dass die infolge des Zusammenbruchs von Lehman Brothers im Jahr 2008 ausgelöste Finanzkrise bereits vorbei war, als Mario Draghi  im Jahr 2011 die EZB übernahm. Auch die Wirtschaft, die infolge der Finanzkrise in  eine Rezession geraten war, befand sich schon wieder im Aufschwung. Es hätte also nahegelegen, die in der Finanz- und Wirtschaftskrise gestartete  Politik des leichten Geldes schrittweise zu beenden.

Mario Draghi hat als Präsident der EZB aber genau das Gegenteil getan und die Geldschleusen weiter geöffnet. Allein auf Grund des im Jahr 2015 gestarteten Anleihekaufprogramms hat die EZB Anleihen im Wert über eine Billion Euro erworben, um Wirtschaft und Staaten mit Liquidität zu versorgen.

Warum hat Mario Draghi dies gemacht? Klärung  kann ein Blick in die Vergangenheit des Euro bringen.

Die sogenannte Eurokrise

Fast ein Jahrzehnt lang hat die Europäische Währungsunion reibungslos funktioniert. Die Inflation war niedrig, und der Euro entwickelte sich zur zweitwichtigsten Reservewährung. Es schien, dass der Euro die Nachfolge der starken D-Mark angetreten hätte. Folglich sanken die Zinsen in den südlichen Ländern Europas auf deutsches Niveau, was als zunehmende Konvergenz der Volkswirtschaften gedeutet wurde. Beispielsweise sanken die Kreditzinsen in Griechenland von 15 bis 20 Prozent vor dem Beitritt auf 5 Prozent nach dem Beitritt.

Die niedrigen Zinsen sorgten vor allem in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal für ein kräftiges, über Kredite finanziertes Wirtschaftswachstum. Das dafür erforderliche Kapital stammte weitgehend aus den Kernländern der Eurozone. Doch die Gelder wurden nur selten produktiv verwendet. Das meiste floss in den privaten und öffentlichen Konsum, in unrentable Immobilien oder nutzlose Infrastrukturvorhaben. Den gewaltigsten Bauboom erlebte Spanien. Dass hier Blasen und Klumpenrisiken entstanden, blieb weitgehend unbeachtet.

Parallel zu diesem künstlichen Wirtschaftsboom verschlechterten sich für die Unternehmen in den südlichen Euroländern die Angebots- und Wettbewerbsbedingungen im Vergleich zu den Euro-Kernländern. Ein wesentlicher Grund dafür waren steigende Löhne und Kosten,  denen keine Verbesserung der Produktivität gegenüberstand. So stiegen die öffentlichen Löhne in Griechenland in den ersten zehn Jahren nach Einführung des Euro um 110 Prozent. Die mit dem Euro verbundene Erwartung, dass es zu einer Angleichung des Südens an den Norden kommen werde, hatte sich als falsch erwiesen.

Die Folgen dieser Entwicklung waren an den Handels- und Leistungsbilanzen innerhalb der Eurozone abzulesen. Den Handelsbilanzüberschüssen der Nordländer standen wachsende Defizite der Südländer gegenüber. Ein Problem für den Bestand der Eurozone wurde darin jedoch nicht gesehen. Solange der Norden die Defizite des Südens mit dem Transfer von Kapital finanzierte, war die Welt für die Europäische Kommission und die EZB in Ordnung. Noch im März 2008 erklärte der damalige EZB-Präsident Jean-Claude Trichet, dass die Eurozone „nicht unter signifikanten wirtschaftlichen Ungleichgewichten leidet“.

Mit dem Ausbruch der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 war es jedoch mit dem „Leben auf Pump“ plötzlich vorbei. Entscheidend dafür war, dass sich auf den Kapitalmärkten die Risikoeinschätzung von Staatsanleihen aus den südlichen Euroländern änderte. Man erkannte plötzlich, dass für die Einlösung solcher Papiere nicht die Europäische Union, sondern nur der jeweilige Schuldnerstaat einzustehen hatte. Diese Papiere waren also nicht risikolos, sondern besaßen je nach der Bonität des Schuldnerlandes ein unterschiedliches Risiko.

Diese neue Einschätzung führte zu einer starken Differenzierung bei den Kursen und Zinsen von Staatsanleihen. Die südlichen Länder waren plötzlich mit erheblichen Kursabschlägen bzw. Risikoaufschlägen konfrontiert, weil sie im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftskraft viel zu hoch verschuldet waren. Der bis dahin einheitliche Euro-Finanzmarkt für Staatsanleihen begann sich aufzulösen. Damit begann die so bezeichnete „Euro-Krise“.

Der Begriff „Euro-Krise“ erweckt bis heute in der Öffentlichkeit den Eindruck, als habe es sich um eine Währungskrise gehandelt. Der Euro hat jedoch zu keiner Zeit seine Funktionen als Tausch- und Wertaufbewahrungsmittel eingebüßt. Auch sein Binnen- und Außenwert (Preisstabilität und Wechselkurs) waren  nie in Gefahr. Was als Euro-Krise bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit eine Staatsschuldenkrise bestimmter Staaten des Euro-Gebietes, die durch übermäßiges Schuldenmachen entstanden war.

Demnach ist es unzutreffend, Mario Draghi als Retter des Euro zu feiern. Die von ihm ins Werk gesetzte Politik des leichten Geldes  diente vielmehr dazu, die überschuldeten Staaten im Süden der Eurozone vor dem Konkurs zu retten. Dies ist ihm mit einer Politik des leichten Geldes auch gelungen.


Geldpolitik unter Draghi

Bei der Rettung überschuldeter Euro-Staaten spielte die EZB von Anbeginn an die entscheidende Rolle. Schon unter dem Präsidenten Jean-Claude Trichet hatte sie den Leitzins auf nahezu null abgesenkt. Außerdem hatte die EZB im freien Handel Staatsanleihen gekauft. Darüberhinaus war den Euro-Staaten mit unkonventionellen Finanzierungsmethoden (Target-, ANFA- und ELA-Kredite) Liquidität zur Verfügung gestellt worden. Dies alles geschah mit Zustimmung der wichtigsten Regierungen, aber ohne die Öffentlichkeit zu informieren.

Unter Trichet hatte die EZB auch bereits begonnen, ihre Rolle neu zu definieren. Er verstand die EZB nicht als neutrale Hüterin des Geldes, sondern nach französischer Tradition als eine politische Institution an der Seite der Regierung. Wenn nötig, kaufte sie notleidende Staatspapiere und finanzierte klamme Banken. Neben der Geldwertstabilität wurden so die monetäre Staatsfinanzierung und die Finanzmarktstabilität weitere Ziele der EZB.

Trichet war sich bewusst, dass seine Politik gegen den Maastricht-Vertrag verstieß. Auf einem Sondergipfel der EU-Staaten am 7. Mai 2010 beschlossen deshalb die Staats- und Regierungschefs der Euro-Länder, dass das im Maastricht-Vertrag verankerte Verbot der monetären Staatsfinanzierung und  das Beistandsverbots („no bail out“) faktisch aufgehoben werden. Damit war für die EZB der Weg frei, in beliebiger Höhe Staatsanleihen zu kaufen. Angela Merkel stimmte zu.  

Was Jean-Claude Trichet begonnen hatte, vollendete Mario Draghi. Vor dem Hintergrund einer sich zuspitzenden Lage auf den Finanzmärkten sagte er am 26. Juli 2012 in London: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ Draghis Ankündigung war keine spontane Äußerung, sondern mit der deutschen und französischen Regierung abgestimmt worden. Mario Draghi sollte die südlichen Eurostaaten aus ihrer finanziellen Not befreien.

Sechs Wochen nach seiner Rede stellte Draghi der Öffentlichkeit das OMT-Programm vor, mit dem unbegrenzt Staatsanleihen von Euroländern gekauft werden konnten. Die Wirkungen dieses Programms waren verblüffend. Die Risikoaufschläge für Staatspapiere der Krisenstaaten gingen massiv zurück, ohne dass dieses Programm zur Anwendung kommen musste. Der Euro-Club mit seinen 17 Mitgliedern schien (vorerst) gerettet. Marion Draghi avancierte zum Superstar der Finanzmärkte.

Mit der Rolle der EZB als „weißer Ritter“ verminderte sich jedoch der Druck auf die Krisenstaaten, ihre Haushalte zu konsolidieren und  ihre Wachstumsschwäche durch Strukturreformen zu beheben. Es war deshalb absehbar, dass Staaten mit hoher Verschuldung und mit niedrigem Wachstum erneut Finanzierungsprobleme bekommen würden.

Um so etwas auszuschließen, beschloss die EZB am 22. Januar 2015 ein weiteres Kaufprogramm für Anleihen über mindestens 1,14 Billion Euro (Quantitative Easing, kurz QE). Der Beschluss sah vor, dass monatlich öffentliche und private Anleihen im Volumen von 60 Mrd. Euro angekauft wurden. Zufrieden mit solchen Plänen zeigten sich die Rettungspolitiker, weil sie keine unpopulären Entscheidungen  treffen mussten.

Das QE-Programm bewirkte, dass sich die Kurse für südeuropäische Staatspapiere stabilisierten und die Zinsen niedrig blieben. Gleichzeitig wurden die Banken in die Lage versetzt, mit der zusätzlichen Liquidität neue Staatsanleihen zu kaufen. Nach Berechnungen der DZ-Bank entlastete der „Draghi-Effekt“ die Staatshaushalte in einem Jahrzehnt insgesamt mit mehr als einer Billion Euro. Davon entfielen rund 670 Mrd. Euro auf Italien.


Kritik an der unkonventionellen Geldpolitik

Mario Draghi hat für seine Geldpolitik in Deutschland viel Kritik einstecken müssen. Dafür gibt es gute Gründe:

Erstens:
Draghi verwandelte die EZB in eine politische Institution, die ihre Macht stetig erweiterte und damit zum einem starken Partner der Politik wurde. Dies könnte auf lange Sicht ihre Unabhängigkeit gefährden. Die Anzahl ehemaliger Finanzminister im Direktorium und Rat dürfte ein Indiz dafür sein. 

Zweitens:
Die zusätzliche Zeit, die die EZB hochverschuldeten Euroländern mit ihrer  Geldpolitik für politische Reformen verschaffte, wurde nicht oder nur teilweise genutzt. Denn mit  der Politik des leichten Geldes wurde der Reformdruck für Politiker und Unternehmer geringer. Die EZB  selbst hat kaum Möglichkeiten, solche Reformen einzufordern. 

Drittens:
Draghis Geldpolitik war von Keynes geprägt. Seine Wachstumspolitik vertraute einem monetären Transmissionsmechanismus, der über steigende Preise an den Vermögensmärkten (Aktien, Grundstücke) zu mehr Beschäftigung und Wachstum führt. Die damit verbundenen Änderungen in der Einkommens- und Vermögensverteilung (Sparer verlieren; Grundstückseigentümer und Aktionäre gewinnen) nahm er in Kauf.

Viertens:
Draghi hat das Ziel der Preisstabilität durch das Erreichen eines Inflationsziels von nahezu zwei Prozent ersetzt. Die vertragliche Verpflichtung der EZB besteht jedoch in der „Gewährleistung von Preisstabilität“ und  nicht  im Erreichen eines von der EZB definierten Inflationsziels. Die von Draghi immer wieder beschworene Deflationsgefahr bei Unterschreiten des Inflationsziels hat  es in Wirklichkeit nie gegeben. Diese Begründung  diente  offensichtlich dazu,  den eigentlichen Zweck seiner Geldpolitik zu verschleiern. Zumal der als Zielmarke dienende Verbraucherpreisindex über die Wertentwicklung bei Grundstücken und sonstigen Vermögenswerten nichts aussagte.

Fünftens:
Der eigentliche Erfolgsmaßstab der EZB unter Draghi waren die Entwicklung auf den Kapitalmärkten und das Wirtschaftswachstum und nicht die Geldwertstabilität im traditionellen deutschen Verständnis. Es war die Nähe zu den Kapitalmärkten, die dem ehemaligen Investmentbanker Draghi nach Aussage von Insidern besonders wichtig war. Das Entstehen spekulativer Blasen hat er in Kauf genommen.

Sechstens:
Draghis Geldpolitik war durch unkonventionelle Maßnahmen geprägt. Dazu gehörten Ankaufprogramme für Vermögensgüter (zumeist Anleihen),  negative Leitzinsen, große und meist langfristige Kreditprogramme für Geschäftsbanken sowie  Informationen über die künftige Geldpolitik („Forward Guidance). Die damit verbundenen langfristigen Risiken (Verzicht auf politische Reformen, Verlust an Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft, faule Kredite der Banken) wurden konsequent ausgeblendet.

Siebtens:
In der Zeit von Draghi traten strategische Überlegungen gegenüber einem taktischen Management in den Hintergrund (Jürgen Callies, MEAG). Draghi ging es vor allem um eine situative Unterstützung der Kapitalmärkte und um die Refinanzierung für Staaten und Unternehmen zu günstigen Bedingungen. Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft wurde dadurch aber nicht verbessert.

Achtens:
Draghi hat aber anders als die US-Notenbank Fed die Zinswende nicht geschafft, gar nicht erst versucht. Seine erste Entscheidung als EZB-Präsident bestand darin, die Leitzinserhöhungen seines Vorgängers wieder zurückzudrehen. Er hat auch 2018 die Wertpapierkäufe nur in ihrer Ausweitung beendet, aber nicht zurückgeführt.

Neuntens:

Draghi pflegte einen autoritären Führungsstil, wozu insbesondere  "einsame" Entscheidungen gehörten. Jüngstes Beispiel: Nachdem er im Juni  2018 angekündigt hatte, das umstrittene Anleihekaufprogramm Ende 2018 zu beenden, ließ er im September 2019 - als kurz vor seinem Amtsende - gegen massiven Widerstand im EZB-Rat beschließen, die umstrittenen Anleihekäufe ohne zeitliche Begrenzun wieder aufzunehmen. 

Zehntens:

Intern hinterlässt Draghi einen Scherbenhaufen. Der EZB-Rat ist in der Frage der unbegrenzten Wiederaufnahme der Anleihekäufe tief gespalten. Gleich mehrere nationale Notenbankchefs distanzierten sich öffentlich von den im September beschlossenen Maßnahmen. Zudem nahm Sabine Lautenschläger, die deutsche Vertreterin im EZB-Direktorium, diese Beschlüsse zum Anlass, ihren Rücktritt zu erklären.  

Fazit:

Im Ergebnis kann man der EZB unter der Führung von Mario Draghi positive, schnell wirkende  Ergebnisse nicht absprechen. Die Erfolge in der Gegenwart wurden aber mit unkalkulierbaren Lasten für die Zukunft erkauft. Es ist also ein erheblich belastetes Erbe, das Mario Draghi seiner Nachfolgerin übergibt.
 

  


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