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Europäische Krisen : Europäische Populisten
30.07.2019 16:48 (1603 x gelesen)

Europäische Populisten

„In Europa geht ein Gespenst um“ lautete die Schlagzeile in einer 2016 erschienenen Sonderausgabe des Journal of Democracy. Gemeint war die Zunahme populistischer Parteien in Europa. Damals gab es insgesamt 22 solcher Parteien, die man vorsichtig als „Herausforderer der liberalen Demokratie“ bezeichnete.

Glaubt man den deutschen Medien, dann ist die Gruppe populistischer Parteien mit der Wahl von Boris Johnson zum britischen Premierminister weiter gewachsen. Viele sehen ihn in einer Linie mit Trump in Amerika, Orbán in Ungarn oder Salvini in Italien. In der Tat gibt es Gemeinsamkeiten: die überzogene Kritik an der EU, die Missachtung politischer Standards und die Berufung auf die wahren Interessen des „Volkes“.

Doch ist bei der Verwendung des Begriffs „Populismus“  Vorsicht am Platz. Schon Ralf Dahrendorf wusste, dass die „Grenze zwischen Demokratie und Populismus, Wahlkampfdebatte und Demagogie, Diskussion und Verführung  nicht immer leicht zu ziehen ist“.

I

Populisten

Die Duden-Redaktion beschreibt Populismus als eine „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen“. Solche Politik gibt es links wie rechts: Die Rechtspopulisten bedienen heute vor allem die Themen „Zuwanderung“ und „Recht und Ordnung“. Für die Linkspopulisten geht es meistens um den „Kapitalismus“ und die „Globalisierung“.

Jedenfalls ist „Populismus“ ein abwertender Begriff. Das hat viel mit den handelnden Personen und ihren Parteien zu tun: Rechtspopulistische Führer sind oft schillernde  Figuren mit einer schrägen Attraktivität. Ihre Parteien sind lose gefügte Gebilde, voll von ambitionierten Randfiguren, ohne programmatischen Kern und ohne organisatorische Disziplin.

Populistische Gruppen sind zumeist Protestgruppen, die offenbar zum Regieren nicht geeignet sind. Der Vorteil, den sie gegenüber demokratischen Parteien im Wahlkampf  haben, wird bald verspielt, wenn ihr Erfolg sie auf Ministersessel bringt.

Der  Populismus beruht auf dem bewussten Versuch der Vereinfachung von politischen Problemen. Darin liegen sein Reiz und sein Erfolgsrezept: Das Verbrechen nimmt überhand? Wir müssen härter durchgreifen! Es kommen zu viele Asylanten ins Land? Man muss ihnen den Zugang versperren! Der globale Kapitalismus macht uns arm? Man muss seinen Protagonisten die Flügel stutzen! So einfach ist das für Populisten.

Populistische Parteien sind erfolgreich, weil sie einfache Botschaften verkünden. Aber in Wirklichkeit ist es eben nicht so einfach, sondern komplex. Dies hält Ralf Dahrendorf für das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zwischen den klassischen Parteien und den populistischen Gruppen.
 
Donald Trump

Der Mitherausgeber der FAZ, Berthold Kohler, sieht zwischen Boris Johnson und Ronald Trump große Gemeinsamkeiten: „So unterschiedlich Trump und Johnson von Herkunft, Bildung und Werdegang auch sein mögen: Beide verheißen ihren Ländern die Rückkehr zu alter Größe – wenn sie sich nur wieder auf sich selbst verließen und den Rezepten vergangener Stärke folgten. Im Zentrum ihres politischen Angebots steht nicht ein Programm, sondern eine Person, nicht Agenda, sondern Auftritt. Trump und Johnson sind vor allem von einem felsenfest überzeugt: von sich selbst.“

Nach Meinung von Kohler nutzen Politiker dieses Typs „Parteien und Bewegungen hauptsächlich als Aufzüge. Oben angekommen, kümmert sie deren Schicksal allenfalls, wenn sie noch zur Machterhaltung gebraucht werden.“ So hätten die Republikaner in den USA jeglichen Einfluss auf Trump bereits verloren.

Kohler weist zu Recht darauf hin, dass bei einer solchen  „one-man-show“  die Charaktereigenschaften des Präsidenten ein maßgeblicher Faktor der Politik sind. „Trumps Sprunghaftigkeit, Oberflächlichkeit, Prahlerei, Egomanie und sein überaus lockeres Verhältnis zur Wahrheit sind, da es um den mächtigsten Mann der Welt geht, keine zweitrangigen Probleme.“  Die Welt könne nur hoffen, dass die „checks and balances“ der amerikanischen Verfassung ausreichen, um die Unprofessionalität dieses Präsidenten einzuhegen.

Doch das Verstörende für Kohler ist, dass auch die amerikanische Verfassung nicht verhindern kann, „dass Trumps zahlreiche Anhänger ihn genau so lieben, wie er ist. Sie jubeln, wenn er lächelnd lügt, wenn er sich als Sexist und Rassist erweist, wenn er die Medien ´Feinde des amerikanischen Volkes´ nennt und wenn er durch den Porzellanladen der internationalen Politik trampelt …“

Im gleichen Fahrwasser sieht Berthold Kohler auch Boris Johnson, der „auf seinem langen Marsch in die Downing Street politisch und privat tun und lassen (konnte), was er wollte – nichts davon wurde ihm so verübelt, dass es ihn aus der Bahn geworfen hätte. Auch in seinem Fall wurde Chuzpe belohnt, nicht Seriosität.“

Spätestens an dieser Stelle hätte Kohler die Rolle der Medien bei dem Aufstieg dieser beiden Populisten problematisieren müssen. Trump und Johnson sind nicht Unfälle der Geschichte, sondern Produkte einer Medienlandschaft, die solche Typen braucht und sie vermarktet. Beide konnten nur deshalb an die  Spitze ihrer Staaten gelangen, weil sie von den Medien hofiert und populär gemacht wurden.  
 
Boris Johnson

Bei Boris Johnson handelt es sich um eine sehr englische Version des modernen Volkstribuns. Geboren in New York, aufgewachsen in Brüssel, ehemals Bürgermeister von London, bewegt sich Johnson persönlich und kulturell im liberalen Milieu. In seiner Partei steht er in der Mitte, in gesellschaftspolitischen Fragen eher links.

Johnson gehört laut Medienberichten (Buchsteiner in FAZ vom 24. Juli 2019) dem Teil der englischen Oberschicht an, welche die eigene Nation immer noch für die Krönung der Zivilisation hält. Er liebt das traditionelle Bild des polyglotten Briten und verehrt Churchill. In der Migration sieht er einen Gewinn, keine Bedrohung. Die Idee des Freihandels ist seine Überzeugung.

Johnson ist nicht „mad“, schreibt Buchsteiner, irrwitzig ist nur die Lage des Landes – drei Jahre nach dem Referendum. Johnson weiß, dass sein politisches Schicksal, wie das seiner Vorgänger, von der Lösung der Europa-Frage abhängt.  David Cameron stürzte über die Idee, sie über ein Referendum zu klären;  Theresa May über den Versuch, das Ergebnis des Referendums in Verhandlungen mit der EU umzusetzen. Wenn es Johnson nicht gelingt, die Brexit-Blockade aufzulösen, könnte er das gleiche Schicksal erleiden.
 
Das Amt des Premiers verdankt Johnson der Europawahl, in der die „Brexit Party“ von Nigel Farage mehr als dreimal so viele Stimmen erhielt wie die Konservativen. Die Tories brauchten einem Retter und entschieden sich für Boris Johnson mit dem Auftrag, den Brexit zu „erledigen“. Johnson soll das Land am 31. Oktober – mit oder ohne Deal – aus der EU führen. Selbst eine beträchtliche Zahl von konservativen Abgeordneten will dies aber nicht.

Johnson betrachtet den Brexit (laut Buchsteiner) mittlerweise als Heilmittel für die Konservative Partei. Er will damit dreierlei erreichen: 1. Die „Brexit Party“ soll durch die kurzfristige Durchführung des Brexit überflüssig werden. 2. Die in der Brexit-Frage gespaltenen Konservativen sollen wieder geeint werden. 3. Labour soll von der Macht fern gehalten werden. Der Brexit, so glaubt Johnson, werde dem Land die politische Stabilität zurückbringen. Die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile hält er für vertretbar.

Johnson ist bereit, notfalls ohne Vertrag die EU zu verlassen. Ob er dabei vom Parlament gestoppt werden kann, weiß zur Zeit niemand. Dafür müssten ihn die eigenen Leute mit einem Misstrauensvotum stürzen. Viele Tories würde dann jedoch  Gefahr laufen, ihr Mandat zu verlieren.

Was Boris Johnson von Theresa May unterscheidet, ist die Bereitschaft zum politischen Risiko. Von vielen Seiten wird dem neuen Premierminister vorausgesagt, dass er mit seiner Strategie scheitern wird, schon an den eigenen Leuten und sicher an der EU-Kommission. Die Lage in Großbritannien lässt aber einen anderen Weg nicht zu.  In der Tat:  Nicht Johnson ist „mad“, sondern irrwitzig ist die Lage des Landes.

II

Ursachen für Populismus

Der Politologe Francis Fukuyama (FAZ vom 9. November 2017)  nennt vier Ursachen für den wachsenden Populismus: 

• Eine Ursache sieht er in den Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung: die internationale Arbeitsteilung hat zwar insgesamt zu mehr Wohlstand geführt, aber auch viele zu Verlierern gemacht.
• Als zweite Ursache für den gewachsenen Populismus nennt  Fukuyama Fehlentwicklungen in den etablierten Demokratien hin zu autokratischen Entscheidungsverfahren.
• Die dritte Ursache des Populismus hat  nach seiner Meinung eine kulturelle Dimension: die Bedrohung des persönlichen Status und der nationalen Identität sind ein guter Nährboden für populistische Stömungen.
• Und schließlich nennt Fukuyama die sozialen Medien als Treiber des Populismus: „Wir dachten, dass Internet, Digitalisierung und soziale Medien ein gutes Instrument sind, um die Demokratie zu stärken.“  Diese Techniken bieten jedoch auch den Populisten die Möglichkeit, ihre Ansichten in Filterblasen populär zu machen.

Nach den Untersuchungen der Harvard-Politologen Levitsky/Ziblatt (WamS vom 5. August 2018) nimmt in den westlichen Demokratien die Zahl der Wähler zu, die autoritäre Rhetorik und einfache Lösungen gut finden. In vielen Ländern gelingt es Demagogen und Populisten inzwischen, etwa 30 bis 35 Prozent der Wähler hinter sich zu bringen. Ihr Erfolg hat jedoch viel  mit den jeweiligen Parteistrukturen und den regierenden Personen zu tun. 
 
Deutschland bescheinigen die Harvard-Politologen, dass die Union mit dem Strauß-Diktum, wonach es rechts von der Union keine demokratische Partei geben darf, lange Zeit erfolgreich gewesen ist. Die CDU habe sich jedoch inzwischen von ihrer klassischen Kernwählerschaft entkoppelt, so dass die AfD zu einer ernsthaften Bedrohung für die Union werden konnte.

Demokratische Defizite

Populisten verdanken ihren Erfolg in den westlichen Demokratien nicht zuletzt einer tiefgreifenden Machtverschiebung von den gewählten Parlamenten hin zu den Regierungen mit dem dahinter stehenden Apparat von Bürokraten und Sachverständigen. Wichtige Entscheidungen werden nicht mehr auf der Basis von Mehrheiten in den Parlamenten getroffen, sondern die Demokratie ist zu einem System mutiert, in dem Eliten und Bürokraten mehr Kontrolle  und Macht ausüben als die Wähler und deren Vertreter in den Parlamenten.

„Wir werden regiert, ohne dass man mit dem Finger auf Verantwortliche zeigen könnte, die das bewerkstelligen“, schreibt Ralf Dahrendorf. „Die Diffusion der Macht reicht vom Globalen bis zum Lokalen. Das bedeutet, dass vielerorts  institutionelle Lücken entstanden sind, Räume, für die wir keine demokratischen Einrichtungen haben. Das sind Orte, an denen der Bazillus des Populismus gedeiht.“

Überall hat die Exekutive Wege gefunden, um parlamentarische Hürden zu umgehen oder zu vermeiden. Verbunden ist  dies häufig mit einem direkten Appell der Regierungen an „das Volk“, meist in Gestalt von Fernsehzuschauern. 
Aber auch die großen politischen Parteien sind an dieser Machtverschiebung nicht unschuldig. Diese erleichterte es ihnen, offensichtliche Wünsche und Sorgen der Wähler zu ignorieren oder sich über diese hinwegzusetzen.

Der Erfolg populistischer Bewegungen ist daher nach Dahrendorf immer auch ein Zeugnis für die Schwäche von Parlamenten. „Dem schleichenden Autoritarismus moderner Demokratien“ müsse deshalb mit einer Revitalisierung des Parlamentarismus entgegen gewirkt werden.

Das gilt auch für die Regierung von Angela Merkel, die große Richtungsentscheidungen ohne Beteiligung des Deutschen Bundestages  getroffen hat. Dazu nur vier Beispiele:  

1.   Anfang dieses Jahrtausends erlebten die Deutschen eine Angela Merkel, die sich vehement für marktwirtschaftliche Reformen in Deutschland aussprach und dazu von ihrer Partei das „Leipziger Programm“ beschließen ließ. Als sich dann 2005 der Wind drehte, drehte sich Angela Merkel mit. Vom Leipziger Programm ist nicht nur nichts umgesetzt worden, sondern Angela Merkel hat  auch die Reformen ihres Vorgängers peu á peu wieder rückgängig gemacht. Eine Generaldebatte im Bundestag hat es dazu nie gegeben. Aus der früheren Reformkandidatin ist inzwischen die Lieblingskanzlerin des DGB geworden.

2.   Im Rahmen der Euro-Rettung 2010 hat Angela Merkel das Parlament in ähnlicher Weise umgegangen: Als Griechenland wegen seiner Schuldenpolitik Schwierigkeiten bekam, weigerte sich die Bundesregierung anfangs, dem Land zu helfen. Der Maastricht-Vertrag verbot solche Hilfen. In einer von Panik geleiteten Runde der europäischen Regierungs- und Staatschefs stimmte Merkel dann jedoch der Einrichtung eines Rettungsschirms über 500 Milliarden Euro zu. Dem Bundestag erklärte sie nachträglich, mit dem Euro habe sie Europa gerettet. Ihre damalige Politik führte dazu, dass die AfD gegründet wurde. 

3.   Ein weiteres Beispiel ist die von Merkel 2011 orchestrierte Energiewende: Jahrelang hatte Angela Merkel gepredigt, dass die Energiewende ohne eine Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke nicht sinnvoll sei. Kaum war diese beschlossen, erfolgte sechs Monate später aus Anlass der Fukushima-Katastrophe  eine 180-Grad-Wendung. Aus Angst vor der Wahlniederlage in Baden-Württemberg setzte sie im Alleingang einen völlig unvorbereiteten Atom-Ausstieg durch. Wiederum wurde der Bundestag nicht gefragt, sondern durfte im Nachhinein wegen angeblicher „Alternativlosigkeit“ die dafür erforderlichen Gesetze erlassen.

4.   Auch in der Flüchtlingspolitik vollzog Merkel einen grundsätzlichen Positionswechsel: Als Oppositionspolitikerin lehnte sie ein rot-grünes Zuwanderungsgesetzes ab mit dem Argument, erst müssten die integriert werden, die schon da sind. Als sie 2015 in einer Fernsehsendung mit den Tränen eines Flüchtlingsmädchens konfrontiert wurde und angeblich wie eine „Eiskönigin“ (Der Stern) reagierte, änderte sie ihre Politik, stellte persönliche Gefühle über sachliche Bedenken und öffnete die Grenzen. Auch dieses Mal war der Bundestag nicht beteiligt.


Wenn der Populismus im Sinne der Duden-Redaktion eine „von Opportunismus geprägte Politik ist, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen“, dann handelte es sich in den vorgenannten   Fällen um Beispiele einer populistischen Politik. Merkels Entscheidungen waren  von Opportunismus geprägt und sie wandte sich direkt an die Wähler, um diese mit auf Stimmung zielenden Argumenten (Europa retten – alternativlos – Willkommenskultur) für sich zu gewinnen. Der Deutsche Bundestag wurde erst eingeschaltet, als die öffentliche Messe bereits gesungen war. 

Angela Merkel hat ihren Regierungsstil selbst als „lernendes System“ bezeichnet. Zu diesem System gehört vor allem das Erkennen von Trends in der Bevölkerung, die sie durch Umfragen laufend ermitteln lässt. Die professionelle Demoskopie ist für Merkel der Kompass, an dem sie ihre Politik ausrichtet. Wenn sich die Stimmung in der Bevölkerung änderte, änderte Merkel auch ihre Politik einschließlich Begründung.

Persönliche Gefühle und  Meinungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Jedenfalls ist sich Robin Alexander (NGZ Online) sicher: „Unsere Gefühle sind zur Politik geworden und der Bürger bekommt genau das, was er bestellt“.
 
Jürgen Habermas hat diese Regierungsmethode schon 2011 als „opportunistisches Drehbuch einer demoskopiegeleiteten Machtpragmatik, die sich aller normativen Bindungen entledigt hat“, scharf kritisiert. Indem die Kanzlerin politische Standpunkte variabel machte, nahm sie der demokratischen Debatte die festen Pole, die sie braucht. Der Diskurs ist unpolitischer und affektgetriebener geworden, ein für Populisten günstiger Nährboden.


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