Führungswechsel in Europa
Europa erlebte im Juli 2019 einen überraschenden Führungswechsel: Ursula von der Leyen wurde auf Vorschlag des Europäischen Rates zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt. Außerdem verständigten sich die Euro-Staaten darauf, dass Christine Lagarde die nächste Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) sein soll. Damit führen erstmalig zwei Frauen die beiden wichtigsten Institutionen in Europa.
Beide Personalvorschläge stammten vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der sich damit im Europäischen Rat auch durchsetzen konnte. Ohne Chancen war der von Angela Merkel für den Posten des Kommissionspräsidenten vorgesehene Manfred Weber, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP), weil er von Macron als „nicht geeignet“ bezeichnet wurde. Auch Jens Weidmann, der derzeitige Präsidenten der Deutschen Bundesbank und nach allgemeiner Meinung für das Amt des EZB-Präsidenten bestens geeignet, blieb unberücksichtigt, weil Merkel ihn nicht vorgeschlagen hatte.
Lagarde verfügt als frühere Finanzministerin und derzeitige Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF) bereits über internationale Erfahrungen in der Finanz- und Geldpolitik. Demgegenüber muss sich Ursula von der Leyen, die bisher nur in Deutschland als Familien-, Sozial- und Verteidigungsministerin tätig gewesen ist, mit ihrem neuen Amt erst vertraut machen. Denn die Europäische Union (EU) ist in erster Linie eine 28 Staaten umfassende Wirtschaftsgemeinschaft. Es gibt jedoch keinen Zweifel, dass sie für die neue Herausforderung geeignet ist.
Die Frage ist jedoch, in welche Richtung von der Leyen die EU und Lagarde die EZB zukünftig führen werden.
Aus den aktuellen Äußerungen der beiden Präsidentinnen ist zu schließen, dass sie die bisherige Politik der EU und der EZB fortzusetzen und stabilisieren wollen. Grundsätzliche Reformen wird es unter ihrer Regie voraussichtlich nicht geben, wohl aber deutliche Akzentverschiebungen. In jedem Fall wird der französische Einfluss deutlich zunehmen und die Politik der EU und EZB bestimmen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass das deutsche Modell der Sozialen Marktwirtschaft und die deutsche Tradition einer stabilitätsorientierten Notbankpolitik unter Druck kommen werden. Hierfür gibt es bereits jetzt deutliche Anzeichen.
Ursula von der Leyen
Von der Leyen hat in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europaparlament in Straßburg mit den üblichen Mittel gekämpft: Sie versprach vielen vieles. Dabei hat sie sich von klassischen CDU-Positionen weit entfernt, um Sozialdemokraten und Grüne für sich zu gewinnen. Vor allem in der Wirtschaftspolitik ist sie erkennbar weiter nach links gerückt.
Als Kommissionspräsidentin will sie „vollen Gebrauch“ machen von der Flexibilität des Stabilitätspaktes, also das Schuldenmachen der EURO-Staaten erleichtern. „Wo Investitionen und Reformen nötig sind, müssen wir sicherstellen, dass sie auch durchgeführt werden können. Deshalb sollten wir von jeder Flexibilität Gebrauch machen, die der EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt hergibt.“ Wer gegen die Fiskalregeln verstößt, muss auch in Zukunft nicht mit Sanktionen rechnen.
Frau von der Leyen kündigte an, dass amerikanische und chinesische Digitalunternehmen zukünftig stärker besteuert werden sollen, wie es vor allem die Franzosen fordern. Diese Unternehmen sollen künftig nicht nur auf ihre Gewinne am Firmensitz Steuern zahlen, sondern auch dort, wo die Kunden sitzen. Wenn jedoch alle importierenden Staaten auf unterschiedliche Formen "aktiver Markteilnahme" eine solche Digitalsteuer erheben können, wie es die großen Industrieländer (G7) beschlossen haben, triftt eine solche Steuer auch die deutsche Exportindustrie. Die deutsche Regierung hat deshalb diese Steuer auch nie mit derselben Vehemenz gefordert wie jetzt von der Leyen.
Von der Leyen will außerdem in Europa „faire“ Mindestlöhne einführen, wenn auch national angepasste. „In einer sozialen Marktwirtschaft sollte jeder Vollzeitbeschäftigte einen Mindestlohn erhalten, der für einen angemessenen Lebensunterhalt sorgt“, sagte sie. Darüber hinaus trat sie für eine europäische Arbeitslosenversicherung ein, wie sie Finanzminister Olaf Scholz (SPD) ins Spiel gebracht hatte. „Ein europäisches Rückversicherungssystem für Arbeitslosigkeit wird unsere Volkswirtschaften und unsere Bevölkerung in Zeiten externer Schocks unterstützen“, forderte nun auch von der Leyen, obwohl ihre Unionskollegen dagegen sind.
Breiten Raum in ihrer Rede nahm die Klimapolitik ein, eine deutliche Reverenz an die Grünen. Europa müsse bis 2050 „der erste klimaneutrale“ Kontinent werden, sagte von der Leyen. Dieses Ziel wolle sie in einem „europäischen Klimagesetz“ festschreiben. Gleichzeitig kündigte sie an, das bisherige Ziel einer CO2-Reduktion von 40 Prozent bis 2030 zu verschärfen. Ihr Ziel sei eine Senkung „um 50, wenn nicht 55 Prozent“. Um dieses Ziel zu erreichen, wolle sie die Europäische Investitionsbank (EIB) teilweise in eine „Klimabank“ umgestalten, die in den nächsten zehn Jahren eine Billion Euro für Klimainvestitionen locker machen soll.
Von der Leyen sagte zwar, sie sei „stolz auf unsere einzigartige europäische soziale Marktwirtschaft“, doch gibt es begründete Zweifel, ob ihr wirklich an offenen Märkten und am Wettbewerb als dem tragendem Prinzip der Europäischen Union liegt. Von der Leyen gehört dem Sozialflügel der CDU an. Schon als Familien- und Arbeitsministerin hat sie stärker als nötig auf staatliches Engagement gesetzt: Höhere Transferleistungen (Elterngeld), steuerfinanzierte Kinderbetreuung, strikteres Arbeitsrecht.
Die deutsche Wirtschaft reagierte gespalten auf die Antrittsrede der neuen Kommissionspräsidentin. Einerseits lobten sie ihre Eignung für dieses Amt: „Sie ist bestens für dieses Amt qualifiziert und geeignet“, sagte der Freiburger Ökonom Lars Feld, Mitglied des Sachverständigenrates. Andererseits hofft man aber, dass ihre Versprechungen auf Widerstand bei den Staats- und Regierungschefs stoßen. „Das ist gut so, vor allem wenn es um eine europäische Arbeitslosenrückversicherung oder einen europäischen Mindestlohn geht. Beides wäre wirtschaftlich schädlich“, sagte Feld.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sah in der Wahl der neuen Kommissionspräsidentin ein positives Signal für die Handlungsfähigkeit Europas. Sein Hauptgeschäftsführer Joachim Lang mahnte aber, dass Europa dann auch nach vorn gebracht werden müsste. „Die EU braucht eine zukunftsgerichtete Industriestrategie. Es geht darum, unsere Basis zu stärken, um Wachstum und Wohlstand dauerhaft zu sichern.“. Verschärfte Ziele in der Klimapolitik – Klimaneutralität bis 2050 – seien dafür nicht der richtige Weg.
Der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr, listete auf, welche Aufgaben Frau von der Leyen in ihrer Antrittsrede nicht angesprochen hatte, die aber dringlich gelöst werden müssten. Vor allem forderte er von der designierten EU-Kommissionspräsidentin eine Vertiefung des Binnenmarktes. Dessen Größe sei „der stärkste Trumpf, mit dem die EU in multilateralen Verhandlungen stechen kann“, sagte Felbermayr. Dazu sei aber innerhalb der Union Integrationsarbeit gefragt: „Es gilt, einen neuen Konsens zwischen dem freihandelsskeptischen Frankreich und dem exportorientierten Deutschland zu finden.“ Außerdem müsse die EU eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Großbritannien, der Schweiz und der Türkei anstreben. Einen EU-Mindestlohn lehnte auch Felbermayr als zu zentralistisch ab.
Christine Lagarde
Mit der Nominierung von Christine Lagarde zur künftigen Präsidentin der Europäischen Zentralbank bricht auch in der europäischen Geld- und Finanzpolitik eine neue Epoche an. Auch bei ihr wird man davon ausgehen müssen, dass sie die von Mario Draghi verfolgte Politik des ultra-leichten Geldes nicht ändern wird. Dabei wird sie sich aber stark an französische Gewohnheiten anlehnen und regulatorischen Kontrollen ein größeres Gewicht geben.
Lagarde gehört zu den Politikern, die sich in der Vergangenheit immer wieder zur Stimulierung von Konjunktur und Wachstum für eine expansive Geld- und Fiskalpolitik ausgesprochen haben. Sie wird deshalb die Zinsen niedrig halten und nicht vor einer Neuauflage des 2018 beendeten Anleihe-Kaufprogramms der EZB zurückschrecken. Es ist auch durchaus möglich, dass die EZB bei einem neuen Ankaufsprogramm nicht nur Staats- und Unternehmensanleihen kaufen wird, sondern auch andere Anlageklassen dazukommen, von Bankkrediten bis Aktien-ETFs.
„Die Finanzmärkte werden von Christine Lagarde begeistert sein“, sagte Gabriel Felbermayr voraus. „Sie wird vermutlich die Notenbankpolitik von Draghi fortsetzen, ich würde von ihr keine Neuausrichtung der Zinspolitik erwarten. Das wird auch bedeuten, dass sie auf die Sorgen in nordeuropäischen Euro-Staaten wie Deutschland, Österreich und Finnland nicht so Rücksicht nehmen wird, wie es angezeigt wäre.“
Für Sparer und Anleger heiß das: Sparguthaben und festverzinsliche Anleihen werden nach Abzug der Inflation noch jahrelang ein Minusgeschäft bleiben. Gleichzeitig dürfte das billige Geld die Aktien- und Immobilienmärkte weiter in die Höhe treiben. Profiteure dieser Politik sind private Schuldner und die hoch verschuldeten Staaten sowie die Aktienbesitzer und Eigentümer von Immobilien.
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Lagarde ist vor allem Finanzpolitikerin, keine Geldpolitikerin. Sie wird bei der EZB nicht nur darauf achten, dass die Inflation niedrig bleibt – die eigentliche Aufgabe der Notenbank -, sondern auch die Bedürfnisse der EU-Finanzminister im Auge haben. Finanz- und Geldpolitik werden unter ihr weiter zusammenwachsen. „Wenn unter ihrer Führung die EZB noch stärker über Wertpapierkäufe zum Kreditgeber für Staaten wird, profitieren davon … vor allem die hoch verschuldeten Schwergewichte Italien und Frankreich“, sagte Thomas Mayer, Chef der Denkfabrik Flossbach.
Für Banken, Versicherungen und andere Finanzunternehmen werden mit der dauerhaften Null-Zinspolitik noch härtere Zeiten anbrechen. Viele Institute leiden bereits jetzt unter den niedrigen Zinsen, die erheblich auf ihre Gewinne drücken. Zudem leidet die Ertragskraft der europäischen Finanzinstitute überdurchschnittlich unter den strengeren Regeln, die seit der Finanzkrise in Kraft getreten sind.
Lagarde wird nicht nur die Niedrigzinspolitik fortführen, sondern auch den Banken genauer auf die Finger schauen als ihr Vorgänger Mario Draghi. „Lagarde wird das Thema Finanzstabilität entschiedener angehen als Draghi“, sagte Gabriel Felbermayr voraus. Schließlich hat Lagarde zuvor den IWF geführt, der sich als Hüter der internationalen Finanzmarktstabilität versteht. Mit den entsprechenden Themen ist sie vertraut, und unter ihr wird die EZB genauer auf gefährliche Entwicklungen in Finanzbereich achten.
Der IWF unter Lagarde
Unter der Führung von Lagarde hat der IWF immer wieder die Haushalts- und Wirtschaftspolitik der deutschen Bundesregierung heftig kritisiert. Es sind insbesondere die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft, die den IWF stören, weil den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen die Leistungsbilanzdefizite anderer Länder gegenüber stehen. Um solche Ungleichgewichte zu vermeiden, darf es Deutschland nach Meinung des IWF mit dem Sparen nicht übertreiben. Vielmehr müsste die Binnennachfrage durch staatliche Konjunkturprogramme gestärkt werden, um die Importe anzukurbeln.
Jüngst rügten die Ökonomen des IWF sogar die großen deutschen Familienunternehmen, deren Exporterfolge für die ungleiche Vermögensverteilung in Deutschland verantwortlich sein sollen. „Deutschlands Erfolg auf globalen Exportmärkten muss vor dem Hintergrund seiner hohen Vermögensungleichheit betrachtet werden, um die Treiber hinter dem Anstieg der privaten Ersparnisse und der Zunahme des Leistungsbilanzüberschusses zu verstehen“, schreiben die Ökonomen des IWF.
Der IWF gibt der Bundesregierung auch klare Empfehlungen, wie sie gegen diese Entwicklung vorgehen kann. Deutschland brauche höhere Steuern auf Vermögen. Vor allem müsste die Erbschafts- und Schenkungssteuer höher sein, verlangt der IWF. Sie trage bisher nichts dazu bei, der Vermögenskonzentration bei wenigen Familien entgegenzuwirken.
Solche Vorwürfe des IWF lassen aufhorchen, weil sie mit Wissen und Zustimmung der zukünftigen Präsidentin der EZB veröffentlicht worden sind. Nach Auffassung von Brun-Hagen Hennerkes , dem Vorsitzenden der Stiftung Familienunternehmen, ist die Analyse des IWF „grob falsch“. Es seien gerade die Familienunternehmen, die der Ungleichheit entgegenwirkten, indem sie knapp 60 Prozent der Arbeitsplätze schaffen. Im Übrigen müsse die Vermögenskonzentration vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die großen Familienunternehmen langfristig und generationsübergreifend wirtschaften. Dies sei kein Nachteil, wie der IWF fälschlicherweise glaube, sondern sichere die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Lagarde wird also einiges zu klären haben, wenn sie im November dieses Jahres ihre Tätigkeit in Frankfurt als Präsidentin der EZB aufnimmt. Sie hat es dann vor Ort mit einer Unternehmenslandschaft zu tun, die weit überwiegend aus Familienunternehmen besteht.