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Banken- und Finanzkrise : EZB auf riskantem Kurs
02.02.2016 13:06 (4451 x gelesen)

EZB auf riskantem Kurs

Am 22. Januar 2015 beschloss der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB)  das sogenannte „Quantitative Easing“, kurz QE. Nachdem die EZB den Leitzins auf 0,05 Prozent gesenkt hatte, brachte sie mit dem QE-Programm das letzte ihr noch verbliebene Instrument der Geldpolitik zum Einsatz: Die mengenmäßige Lockerung der Geldpolitik  durch den massenhaften Ankauf von Staatspapieren.  „Liegen die Leitzinsen bei null Prozent, bleiben einer Zentralbank nur noch derartige gewaltige Liquidität schaffende Maßnahmen“, kommentierte Jürgen Stark diesen Schritt. 

Mit diesem Programm folgte die EZB als letzte der großen Zentralbanken dem Beispiel der amerikanischen Federal Reserve (Fed) sowie der englischen und der japanischen Zentralbank. Schon seit längerem hatten nicht  nur Finanzmarktakteure, sondern auch angelsächsische Ökonomen und Medien  einen solchen Schritt gefordert.  Andrew Bosomworth, Anlagechef von Pimco,  erklärte dazu: „Die Märkte glauben nach wie vor an die Fähigkeit der Zentralbanken, ökonomisch gewünschte Ergebnisse zu generieren.“

Der Beschluss des EZB-Rates sah vor, dass die Zentralbank bis September 2016 von europäischen Banken monatlich für 60 Milliarden Euro Regierungsanleihen im Volumen von insgesamt 1.140 Milliarden Euro ankauft. Aber schon Anfang Dezember 2015 wurde das Ankaufsprogramm verlängert und auf insgesamt 1,8 Billionen Euro erweitert. Allein dadurch würde sich die Bilanzsumme der Zentralbank auf 3,6 Billionen Euro erhöhen. Das entspricht rund 36 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung der Eurozone und ist deutlich mehr, als selbst die US-Notenbank auf dem Höhepunkt der Krisenpolitik in den Büchern hatte.

Aber auch diese geldpolitische "Bazooka" blieb ohne die erwünschte Wirkung. Deshalb beschloss der EZB-Rat am 10. März 2016 weitere Maßnahmen: Der Leitzins wurde auf null Prozent gesenkt, das Volumen der monatlichen Anleihekäufe auf 80 Milliarden Euro erhöht und der Strafzins für Einlagen bei der EZB auf minus 0,4 Prozent festgesetzt. Der italienische Notenbankchef Ignazio Visco merkte dazu an, die Mittel der EZB seien noch lange nicht ausgeschöpft. Schon wenige Monate später startete die EZB ihr "Corporate Sector Purchase Program", im Jargon CSPP genannt, mit dem Unternehmensanleihen aufgekauft werden. Kaufte die EZB den Banken bisher Staatsanleihen und Pfandbriefe ab, finanziert sie jetzt unmittelbar den Unternehmenssektor - im Zweifelsfall unter Umgehung der Kreditinstitute.      

Mit dem QE-Programm ist das von Mario Draghi im Juli 2012 angekündigt OMT-Programm, das nur für Krisenstaaten bestimmt war,  gegenstandslos geworden. An seine Stelle ist der Kauf von Regierungsanleihen aller Eurostaaten getreten, darunter auch der Kauf von Bundesanleihen. Für den Ankauf solcher Staatsanleihen gilt der Kapitalschlüssel der nationalen Notenbanken bei der EZB. Ein Fünftel der Käufe wird die EZB auf Gemeinschaftsrechnung kaufen, der Rest wird auf getrennte Rechnung der nationalen Notenbanken erworben. Es gibt also nur für einen kleinen Teil des Programms eine Gemeinschaftshaftung.

Die Entscheidungen im EZB-Rat sind nicht einstimmig gefallen. So hatte Bundesbank-Präsident Jens Weidmann scharfe öffentliche Kritik an Draghis Strategie des immer billigeren Geldes geübt und vor den steigenden Risiken gewarnt. Ähnlich hatte sich auch EZB-Direktoriumsmitglied Sabine Lautenschläger zu Wort gemeldet: Sie sehe derzeit keinen Anlass, weitere Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft zu ergreifen.  Hans-Werner Sinn, Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, kritisierte: „Das ist illegale und unsolide Staatsfinanzierung durch die Notenpresse.“

Es gab aber auch Zustimmung. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, sprach von einem starken und überzeugenden Signal der EZB für die Preisstabilität. Zufrieden waren auch die europäischen Finanzminister und Euro-Retter: Die EZB nahm den unmittelbaren Druck von ihnen, unpopuläre Entscheidungen treffen zu müssen. Im Norden Europas musste man sich nun nicht mehr um weitere Hilfsgelder bemühen, was politisch riskant zu werden drohte. Und im Süden Europas waren die Regierungen der Aufgabe enthoben, ihre überschuldeten öffentlichen Haushalte zu sanieren und unbeliebte Reformen durchzusetzen. 

Mit dem QE-Programm verabschiedete sich die Europäische Zentralbank jedoch endgültig von einer Zentralbankpolitik nach dem Vorbild der Deutschen Notenbank. Erstes und wichtigstes Ziel der Deutschen Notenbank war es gewesen, für eine stabile Währung zu sorgen und die  Inflation niedrig zu halten. Diesem Ziel musste sich alles unterordnen, auch die Konjunkturpolitik. Staatsfinanzierung unter dem Deckmantel der Geldpolitik war für die Deutsche Notenbank undenkbar.

Demgegenüber erinnert die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank unter Mario Draghi an die Art, wie die Italiener einst ihre Notenbankpolitik betrieben. Im Zentrum dieser Geldpolitik stand nicht die Währungsstabilität, sondern die Stabilisierung und Belebung der Wirtschaft. Man sah auch nichts Verwerfliches darin, den Staat zu finanzieren, wenn die Staatsausgaben anders nicht zu decken waren. Für die Deutsche Bundesbank waren die geldpolitischen Entscheidungen von Mario Draghi deshalb ein tiefer Einschnitt.

Dies wurde besonders deutlich, als der letzten Entscheidung der EZB (Dezember 2015) schon wenige Monate später eine weitere Ausweitung des QE-Programms folgte. Am 10. März 2016 beschloss der EZB-Rat, das Volumen der Anleihekäufe um ein Drittel zu erhöhen. Monatlich sollten nun Schuldtitel im Volumen von 80 Milliarden Euro gekauft werden. Künftig wird die EZB nicht nur Staatsanleihen, sondern auch Schuldtitel von Unternehmen erwerben. Gleichzeitig senkte die EZB den Leitzins auf das historische Tief von null Prozent und den Einlagensatz für Banken auf minus 0,4 Prozent. Als Grund für diese Maßnahmen nannte  Mario Draghi die sich verschlechternde Konjunkturlage und die Gefahr einer Deflation.

Kommentatoren sahen in dieser Entscheidung des EZB-Rates einen "Akt der Verzweiflung". "Draghi geht es mit den Maßnahmen weniger darum, den Euro zu schwächen und damit die Exporte zu steigern. Vielmehr versucht er alles, um die Kreditvergabe in der Euro-Zone zu stimulieren", sagte Erik Nielsen, Chefökonom bei UniCredit. Demgegenüber meinte Thorsten Polleit, Chefvolkswirt bei Degussa Goldhandel, dass die EZB "Euro-Banken und -Staaten mit immer neu geschaffenem Geld zahlungsfähig" halten wolle. Georg Fahrenschon, Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) kritisierte, dass die "Beschlüsse der EZB für immer mehr Menschen in der Euro-Zone zu einer Belastung" werden. Neben Sparern und Kreditwirtschaft seien insbesondere auch Stiftungen, Versicherer, Versorgungssysteme, Sozialversicherungen und Krankenkassen betroffen.  

I
Die Hintergründe

"Whatever it takes"

Die Entscheidung der EZB vom 22. Januar 2015 kam nicht überraschend. Schon am 26. Juli 2012 hatte Mario Draghi nach Abstimmung mit der deutschen und französischen Regierung in der Londoner City angekündigt: „Innerhalb ihres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir – es wird reichen.“  Sechs Wochen nach dieser Rede stellte Mario Draghi das OMT-Programm vor, mit dem selektiv unbegrenzt Staatsanleihen von Krisenstaaten angekauft werden konnten.  Die Wirkung des OMT-Programms war verblüffend. Die Risikoaufschläge für Staatspapiere der Krisenländer gingen zurück, ohne dass das Programm zur Anwendung kommen musste. Mit nur zwei Sätzen war Draghi gelungen, was die diversen Rettungsschirme, insbesondere der ESM, nicht vermocht hatten: Die Finanzmärkte beruhigten sich. Mario Draghi avancierte zum Superstar der Finanzmärkte.

Der Ankündigung mussten jedoch Taten folgen. Trotz extrem niedriger Zinsen (0,05 Prozent seit 2014) erholte sich die Wirtschaft in den europäischen Krisenländern nicht. Die Investitionstätigkeit kam nicht in Gang und die Arbeitslosigkeit blieb hoch.  Auch das Wachstum des gesamten Euroraumes entwickelte sich nur unterdurchschnittlich: Während die US-Wirtschaft seit dem Höhepunkt der Krise mit jährlich 2,1 Prozent wuchs, blieb der Euroraum mit 0,8 Prozent deutlich darunter. Offensichtlich lag und liegt das Problem also nicht beim Zinsniveau. 

So blieb der EZB nur noch die Möglichkeit, die Geldmenge durch Ankauf von Staatspapieren auszuweiten. Damit will die EZB erreichen, dass Finanzinstitute, die viele faule Kredite in ihren Büchern haben, nicht in Zahlungsschwierigkeiten kommen. Gleichzeitig soll das Ankaufsprogramm die Kurse von Staatspapieren sichern, damit das Zinsniveau für Staatsschulden niedrig bleibt. Darüber hinaus haben die Finanzminister die Erwartung, dass die Banken die zusätzliche Liquidität wieder in Staatspapieren anlegen werden. Außerdem hofft die EZB, die Banken veranlassen zu können, die neu gewonnene Liquidität für Kredite an die Wirtschaft und private Haushalte zu verwenden. So soll die Wirtschaft angekurbelt werden. Die Gefahr, dass die Gelder gar nicht den Weg in die Realwirtschaft finden, sondern in der Finanzwirtschaft bleiben oder in Vermögenswerten wie Aktien, Immobilien, Kunstgegenstände etc. anlegt werden, wird von der EZB ausgeblendet.   

Mario Draghi begründete das QE-Programm der EZB mit der Wachstumsschwäche der europäischen Wirtschaft und der Gefahr einer Deflation. Für ihn ist beunruhigend, dass die Inflationsrate bei nahezu null liegt und die Kreditvergabe sowie die Investitionstätigkeit keine Fahrt aufnehmen. Er warnte vor den „exzessiv niedrigen Inflationserwartungen“ und definierte das Inflations-Ziel der EZB mit „nahe unter zwei Prozent“. Diese Begründung ist aber nur das "Feigenblatt", um andere Ziele, wie die Stabilisierung der Finanzmärkte oder die Sicherung der Staatsfinanzierung weiter voranzutreiben.

"Inflation nahe unter 2 Prozent"

Auf den Prüfstand gehört schon die Zwei-Prozentmarke der EZB: Ursprünglich galt das Ziel der Preisstabilität, worunter eine Teuerungsrate von null verstanden wurde. Eine Teuerungsrate von bis zu (nahe) zwei Prozent wurde aufgrund einer statistischen Unschärfe bei der Messung toleriert. Inzwischen ist diese Rate jedoch zum alles entscheidenden Maß für die expansive Ausrichtung der EZB geworden. Die EZB nutzt die Inflationsrate als primäre Zielgröße ihrer Entscheidungen. Dies ist angesichts eines zu eng definierten und fehleranfälligen Inflationskonzeptes äußert problematisch:

Traditionsgemäß orientiert sich die Geldpolitik an den Konsumentenpreisen für Güter und Dienstleistungen, nicht an der Entwicklung der Vermögenspreise. Im Jahr 2017 stiegen die Konsumentenpreise laut Eurostat im Euroraum um etwa 1,5 Prozent. Die Aufwendungen für selbst genutztes Wohneigentum berücksichtigt Eurostat dabei nicht. Unter Einbeziehung dieser Aufwendunden sind die Verbraucherpreise 2017 um insgesamt 3,0 Prozent gestiegen. Schon deswegen ist die expansive Geldpolitik unangemessen und gefährlich.

Außerdem läßt die EZB die Entwicklung der Vermögenspreise unberücksichtigt: Die deutsche Vermögenspreisinflation auf der Basis des  von Thomas Mayer entwickelten Index (FAS vom 19. November 2017) verzeichnete im dritten Quartal 2017 einen Rekordwert von 8,7 Prozent. Angetrieben wurde sie durch Preissteigerungen beim Betriebsvermögen (23 Prozent), bei Aktien (13 Prozent) und Immobilien (8 Prozent). Im Euroraum stiegen die Vermögenspreise im zweiten Quartal 2017 mit einer Jahresrate von 6,4 Prozent.

Die Entscheidungen der EZB beruhen demnach auf einer stark verkürzten und fehlerhaften Grundlage. Die Kaufkraft des Geldes spiegelt sich nicht nur in den Konsumentenpreisen, sondern auch in den Vermögenspreisen. Welche Preise eine expansive Geldpolitik treibt, läßt sich nicht prognostizieren. Verwenden die privaten Haushalte ihr Einkommen für den Kauf einer Immobilie statt für den Kauf eines Autos, bleibt der Konsumentenpreisindex stabil, es steigen aber die Preise für Immobilien.

Die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel findet deshalb, "dass die EZB nicht einseitig nur auf die Verbraucherpreise schauen sollte, sondern auch die Finanzstabilität im Rahmen ihres Mandats der Presistabilität mitberücksichtigen muss".  Dazu müsse sie die Vermögenspreise im Auge behalten, also Aktienkurse und Häuserpreise. Denn erst bei Berücksichtigung der Vermögenspreisentwicklung zeigt sich, wie gefährlich der expansive Kurs der EZB für die Finanzstabilität ist.  

"Deflationsspirale"  

Die EZB hat zudem die "fixe Idee", dass die niedrigen Inflationsraten die Folge einer Nachfrageschwäche sind. Preisänderungen lassen sich jedoch sowohl auf angebotsseitige als auch auf nachfrageseitige Faktoren zurückführen. Langfristig wirken die Globalisierung und Digitalisierung preismindernd, weil sie mit Produktivitätsfortschritten verbunden sind. In den letzten Jahren waren es insbesondere die gefallenen Rohstoffpreise, die den Preisindex nach unten zogen.  Die relativ niedrige Inflationsrate hat demnach vor allem angebotsseitige Ursachen. Holger Steltzner schrieb dazu in der FAZ vom 23. Januar 2015: „Der Preissturz des Rohöls drückt derzeit die Inflation. Ohne diesen Effekt steigen im Euroraum die Verbraucherpreise noch um 0,7 Prozent. Das billige Erdöl ist für Europa kein Problem, sondern ein Segen. Deflation gibt es nicht einmal in Japan.“ Im gleichen Sinn äußerte sich auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann: „Eine für einige Monate unter null liegende Inflationsrate stellt für mich  noch keine Deflation dar. Sicher, die Inflationsraten sind derzeit sehr niedrig, aber das ist stark durch die sinkenden Ölpreise getrieben."

Es besteht auch nicht die Gefahr einer sich selbst verstärkenden Deflationsspirale, wie Marion Draghi behauptet. Jedenfalls nicht bei den Konsumausgaben, die in den meisten Ländern der Euro-Zone relativ stark steigen. Offensichtlich lassen sich die Verbraucher nicht von den niedrigen Inflationsraten abschrecken. Im Gegenteil: Je weniger die Preise steigen, desto mehr Dynamik entwickelt der Konsum. Dafür gibt es einen plausiblen Grund: Niedrigere Preise erhöhen das Realeinkommen, der Wohlstand steigt und die Verbraucher können sich mehr leisten. Ein solche "Deflation" ist unbedenklich, verleiht sie doch der Wirtschaft einen Wachstumsschub.  Anders verhält es sich nur, wenn ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zu steigender Arbeitslosigkeit und sinkendem Einkommen führt. Hier besteht die Gefahr einer sich selbst verstärkenden Abwärtsspirale: Erwarten die Haushalte künftig sinkende Preise, reduzieren sie ihren Konsum. 

All diese Argumente beeindrucken die EZB nicht. Anstatt die Wirkung ihrer extrem expansiven Geldpolitik erst einmal abzuwarten, hat sie jüngst die Dosis sogar noch erhöht. Die Begründung dazu hat Peter Praet,  Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, auf der Welt-Währungskonferenz am 23. April 2015 in Berlin geliefert:

„Europa erlebt zwar die Anfänge einer Konjunkturerholung – bei der es sich jedoch noch nicht um eine strukturelle Erholung handelt. Die Wachstumsdynamik  im Euroraum geht seit Ende der 1990er Jahre stetig zurück und liegt unterhalb von 1 Prozent (zum Vergleich: in den USA sind es 2 Prozent). Die Gründe hierfür sind zum einen ein anhaltender Rückgang bei den Investitionen, insbesondere in Maschinen und Anlagen, und zum anderen lange Phasen krisenbedingter struktureller Arbeitslosigkeit.

Ein geringes Wachstumspotential ist aus mehreren Gründen problematisch. Es führt zu einem Teufelskreis, bei dem sich Unternehmen und Haushalte angesichts der gedämpften Erwartungen in ihren Konsum- und Investitionsentscheidungen zurückhalten, was wiederum zu einer Reduzierung des Wachstums beiträgt. Ein fortdauernd niedriges Wachstumspotential bringt zudem einen dauerhaften Verlust an Produktionskapazitäten – und somit von Arbeitsplätzen – mit sich, was soziale Konsequenzen nach sich zieht. Für die Geldpolitik der EZB ergeben sich daraus folgende Konsequenzen:

• Sie muss die Differenz zwischen tatsächlichem Wachstum und theoretischem Zuwachspotential möglichst gering halten.
• Bei rückläufigem Wachstumspotential müssen die Zinssätze auf ein sehr niedriges Niveau gesenkt werden.
• Die Inflation ist in die Nähe der mittelfristigen Zielmarke von 2 Prozent zu bringen.

Dementsprechend hat die EZB gehandelt und den Spielraum für die Senkung der Nominalzinsen für alle Laufzeiten voll ausgeschöpft, um die Konsum- und Investitionsentscheidungen zu beeinflussen. In der zweiten Hälfte 2014 verschlechterten sich jedoch die Inflationserwartungen aufgrund des Verfalls des Ölpreises. Dadurch erhöhte sich das Risiko geringerer Löhne und Gehälter - sogenannter Zweitrundeneffekte -.  Da zur Erreichung des Inflationszieles das Mittel der Leitzinssenkung nicht mehr zur Verfügung stand, ging die EZB zum Kauf von Vermögenswerten über – insbesondere Wertpapieren der öffentlichen Hand. Es kam uns in erster Linie darauf an, ein sehr klares Signal zu senden, dass wir keine Gefährdung der Preisstabilität zulassen würden.“

Kurz gesagt: Es geht der EZB um höheres Wachstum durch die Verankerung der Inflation bei „nahe unter zwei Prozent“. Das Wort „Deflation“ taucht in der Kommunikation der EZB nicht auf,  in der offiziellen Begründung für die mengenmäßige Lockerung der Geldpolitik spielt die aktuelle Preisentwicklung jedoch  eine wichtige Rolle.  Die EZB will die Inflationserwartung hoch halten, um Investitionen und Konsumausgaben anzuregen. Sie verfolgt also nicht nur geldpolitische, sondern auch wirtschaftspolitische Ziele.

"One size fits it all"

Dabei blendet die EZB aus, dass sich die Wirtschaftsräume der EU nicht im Gleichschritt entwickeln, sondern sowohl beim Wachstum als auch bei den Inflationsraten stark auseinander driften. Diese Unterschiede haben in erster Linie strukturelle und angebotsseitige Gründe, so dass das Eurogebiet für eine  zentral gesteuerte  Geldpolitik kein optimaler Währungsraum ist. Gemessen an den wirtschaftlichen Unterschieden ist der Leitzins von Null für Deutschland zu niedrig, für die südlichen Peripherie-Länder aber zu hoch. Richtig ist er möglicherweise für Frankreich.

Ein zwangsläufige Folge dieser Unterschiede ist der permanente Streit der großen EU-Länder über die "richtige" EZB-Politik. Ein bezeichnendes Beispiel dafür war die scharfe Reaktion italienischer Medien auf einen Vortrag, den Bundesbankpräsident Jens Weidmann Ende April 2016  in Rom hielt. Während aus römischer Sicht die Geldpolitik der EZB die Konjunkturprobleme Italiens lösen soll, plädierte Weidmann für eine Selbstbeschränkung der EZB auf enge geldpolitische Ziele. Während sich die Italiener ein größeres Haushaltsdefizit wünschten, sagte Weidmann, dass mit Verschuldung kein zusätzliches Wachstum zu erzielen sei. Während Italiens Regierung eine europäische Einlagensicherung für alle Banken haben will, auch diejenigen mit vielen Staatspapieren, sah Weidmann darin eine verdeckte Garantie für die Staatsschulden. Während Italiens Schatzminister auf einer Aufteilung der Risiken unter den Ländern der Währungsunion bestand, warnte Weidmann vor der darin liegenden Gefahr zu noch mehr risikoreichem Fehlverhalten.

Italienische Medien sahen in dem Vortrag von Jens Weidmann eine "Attacke der Bundesbank" auf Italien (La Stampa) bzw. einen "wirtschaftlichen und finanziellen Rassismus" (Forza Italia). Kritisiert wurde zudem  der Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands, der für Europas Wirtschaft weitaus schädlicher sei als "etwas Haushaltsdefizit". Deutschland wurde als der große Egoist in der Währungsunion bezeichnet. Die deutsche Kritik an der Niedrigzinspolitik der EZB blieb allerdings unerwähnt. Denn die Italiener sind überwiegend Hausbesitzer, die von den niedrigen Zinsen profitieren.

II
Die Erfahrungen mit QE

Beispiel USA und Großbritannien

Die Befürworter des QE-Programms verweisen auf die positiven Erfahrungen, die damit in den USA und Großbritannien gemacht wurden. Als Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise begann die US-Notenbank (Fed) schon im Nobember 2008 mit dem kontinuierlichen Ankauf von Staats- und Hypothekenanleihen. In der ersten, bis zum Juni 2010 laufenden Phase wurden Wertpapierkäufe in Höhe von 2,1 Billion Dollar getätigt. Heute (Anfang 2015) hält die Fed insgesamt Staatsanleihen im Wert von 2,5 Billion Dollar und Hypothekenanleihen von 1,7 Billion Dollar, wodurch sich ihre Bilanzsumme gegenüber 2006 um das Fünffache verlängert hat . Die Fed besitzt aber im Unterschied zur EZB nur Wertpapiere guter Bonität.

Auch Großbritannien setzte während der Weltfinanzkrise auf QE: Erstmals kündigte die Bank von England im Frühjahr 2009 an, am Finanzmarkt britische Staatsanleihen im Volumen von 200 Milliarden Pfund  kaufen zu wollen. In einer zweiten Welle erwarb sie bis zum Sommer 2012 weitere Staatspapiere im Wert von 175 Milliarden Pfund. Damit ist die Notenbank, deren Bilanzsumme sich gegenüber 2006 ebenfalls um das Fünffache verlängert hat, der mit Abstand größte Gläubiger des Staates geworden: Rund ein Drittel aller britischen Staatsanleihen liegen bei der Bank von England.

 Die USA und Großbritannien sind inzwischen beim Wirtschaftswachstum Spitzenreiter unter den großen Industrienationen. Erstaunlich ist vor allem die Konjunkturwende in Großbritannien. Nach Jahren der Stagnation setzte 2013 ein Aufschwung ein, der bis heute trägt. Ist QE also doch ein Erfolgsrezept, das auch der Eurozone helfen kann?

Namhafte Ökonomen argumentieren, es sei nicht bewiesen, dass die Ergebnisse in den USA und Großbritannien auf das QE-Programm zurückzuführen sind. Denn niemand wisse, wie sich die Wirtschaft in diesen Ländern ohne QE entwickelt hätte. Das Wirtschaftswachstum in den USA und Großbritannien beruhe auf besonderen Faktoren, die es weder in Japan noch in der Eurozone gebe. Dabei wird insbesondere auf folgende Unterschiede hingewiesen:

• In den USA und Großbritannien besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Unternehmensfinanzierung und dem Kapitalmarkt. Beispielsweise werden in den USA fast 70 Prozent der unternehmerischen Investitionen über den Kapitalmarkt finanziert, während die Investitionsfinanzierung in Europa und Japan weitgehend durch Bankdarlehn erfolgt.
• In den angelsächsischen Ländern konnte die expansive Geldpolitik stimulierend wirken, weil sie auf einen flexiblen Arbeitsmarkt aufsetzen konnte. Solche flexiblen und wettbewerbsfähigen Strukturen gibt es weder in Japan noch in Kontinentaleuropa, so dass eine expansive Geldpolitik nur ein Strohfeuer auslösen kann.
• Die geldpolitischen Maßnahmen der amerikanischen und englischen Notenbank nach Ausbruch der Krise kamen „schnell und mächtig“. Außerdem gab es noch einen Spielraum für Zinssenkungen. Demgegenüber reagierte die EZB erst sechs Jahre nach der Krise und ohne die Möglichkeit einer weiteren Zinssenkung.

Wegen solcher strukturellen Unterschiede lassen sich die in den USA und Großbritannien mit QE gemachten Erfahrungen nicht auf die Eurozone übertragen. Martin Feldstein, Chef-Wirtschaftsberater von Präsident Ronald Reagan, sagte dazu: "Die unkonventionelle Geldpolitik hat einen großen Schub gegeben - aber ich glaube nicht, dass sie in Europa funktionieren wird. Bei uns hat der Ankauf all dieser Wertpapiere durch die Fed zum einen die Zinsen gedrückt, zum anderen einen großen Vermögenseffekt gebracht. Der Aktienmarkt ist 2013 um rund 30 Prozent gestiegen, die Häuserpreise haben sich erholt. Dadurch haben sich die privaten Haushalte reicher gefühlt und folglich mehr für Konsum ausgegeben. Das hat die Wirtschaft angekurbelt" (FAZ vom 3. Nov. 2015). 

Beispiel Japan

Eher  passt für die Eurozone das Beispiel Japan, weil die dortigen Probleme denen in Europa ähneln. Die Bank von Japan bekämpft seit über 25 Jahren die anhaltende Krise mit einer Politik des billigen Geldes, unterstützt von massiven Konjunkturprogrammen der Regierung. Die Ergebnisse sind deprimierend:  Die japanischen Unternehmen investieren nicht, sondern bringen ihr Geld ins Ausland. Und die privaten Haushalte konsumieren weniger, weil das reale Lohnniveau seit der Finanzkrise um etwa ein halbes Prozent pro Jahr gesunken ist.

Um diese Abwärtsspirale zu stoppen, hat die japanische Regierung eine Reihe  keynesianischer Konjunkturprogramme aufgelegt. Zusätzlich wurden die Subventionen für die sozialen Sicherungssysteme und den regionalen Finanzausgleich ausgeweitet, um frustrierten Wähler zu beruhigen. Die Staatsverschuldung ist dadurch auf auf 245 Prozent des BIP gestiegen. Ein Viertel des Regierungshaushalts ist inzwischen durch den Schuldendienst gebunden, so dass die Zentralbank genötigt ist, immer mehr Staatsanleihen zu kaufen. Die Käufer dieser Papiere sind größtenteils Japaner, die darin ihre Altervorsorge sehen. 

Wie es um Japan bestellt ist, beschreiben die Ökonomen der „Jenaer Allianz“  folgendermaßen: „In Japan, wo lange vor Europa die Finanzmarktblase platzte, zeigt sich, dass eine Politik des billigen Geldes keine nachhaltige Lösung bietet. Der Wohlstand verfällt dort seit nun mehr als 20 Jahren. Die Zentralbank hält Zombiebanken und Zombieunternehmen mit geringer Produktivität am Leben.“

Seit 2013 hat Ministerpräsident Shinzo Abe von der Liberaldemokratischen Partei (LDP) die bisherige Politik nochmals deutlich forciert. Mit einem Programm der „drei Pfeile“-  auch Abenomics genannt -  will er das Land aus der Krise führen. Dazu gehören:

• Der massive Ankauf von Staatspapieren durch die Notenbank (QE) mit dem Ziel, die Inflationsrate auf zwei Prozent zu erhöhen. 
• Kreditfinanzierte Infrastrukturausgaben des staatlichen Bereichs mit dem Ziel eines Wirtschaftswachstums von drei Prozent und eines Überschusses im staatlichen Primärhaushalt.
•  Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und den Gütermärkten, um den Wettbewerb zu fördern.

Davon sind die ersten beiden "Pfeile" (ultrabilliges Notenbankgeld und kreditfinanzierte Konjunkturprogramme) zügig auf den Weg gebracht worden, nicht aber der dritte "Pfeils" (marktwirtschaftliche Strukturreformen). Das Ergebnis der Abenomics ist deshalb relativ ernüchternd. Die Gefahr einer die Wirtschaft lähmenden Deflation ist immer noch nicht gebannt. Außerdem stagniert das Wirtschaftswachstum. Und von einem Schub an Strukturreformen ist wenig zu spüren. IWF-Experten kommen daher zu dem lapidaren Befund: "Die Ziele sind außer Reichweite." Dabei liegt es nicht am Zinsniveau oder an zu geringen Staatsausgaben, dass sich die Wirtschaft nicht erholt. Wie in Europa sind es auch in Japan die nicht bereinigten Strukturprobleme, die für den Krisenzustand  ursächlich sind.

Japan ist ein "konsensorientiertes" Land. Die politische Herrschaft funktioniert seit Jahrzehnten im Dreiecksverhältnis aus Regierung, Bürokratie und Wirtschaftsverbänden. Bis auf kurze Zeiten eines  „Interregnums“ ist die 1955 gegründete Liberaldemokratische Partei (LDP) -  eine Partei mit einer Vielzahl unterschiedlicher Machtzentren -  ununterbrochen an der Macht. Dementsprechend stark ist die Abneigung gegen Veränderungen. "Staatstragend" in diesem Sinne sind auch die führenden Medien. Bei jedem Ministerium gibt es einen privilegierten Pressezirkel, über den die Medienvertreter informiert wird. Öffentliche Diskussionen über notwendige Reformen finden deshalb in Japan nicht statt.

Japan ist darüber hinaus eine "geschlossene Gesellschaft", die sich gegenüber ausländischen Einflüssen weitgehend abschottet. Ein erheblicher Teil der japanischen Wirtschaft wird immer noch durch Handelsschranken und hohe Zölle vor Konkurrenz aus dem Ausland geschützt. Die Unternehmen sind zwar innovativ und technisch kreativ, Erfahrungen im Ausland und Fremdsprachenkenntnisse spielen aber für die Karriere junger Leute nur eine untergeordnete Rolle. Besonders heikel ist für die homogene japanische Gesellschaft das Thema Einwanderung: Von 5.000 Asylsuchenden hat Japan 2015 nur elf Flüchtlingen Asyl gewährt.

Außerdem hat Japan mit einer schnell alternden Bevölkerung ein demographisches Problem: Nicht nur die Bevölkerung sinkt, sondern auch die Zahl der arbeitsfähigen Menschen. Weil die gesellschaftliche Haltung mehr Zuwanderung nicht zulässt, setzt der japanische Staat darauf, mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen. "Mit diesem Wandel kommt Japan allerdings kaum zurecht - weil er an gesellschaftlichen Tabus und Konventionen rüttelt" (Tobias Kaiser in DIE WELT vom 4. Januar 2015). Japans Wirtschaft und Gesellschaft ist "traditionell" geprägt. Unternehmen gehen davon aus, dass Frauen den Betrieb nach der Heirat oder der Geburt eines Kindes wieder verlassen. Deshalb werden sie in der Regel für Tätigkeiten eingesetzt, aus denen sie sich kaum weiterentwickeln können. Zudem erwarten die Unternehmen von ihren Mitarbeitern einen sehr hohen Einsatz, der mit einer Teilzeit kaum vereinbar ist.

Ausnahmen gibt es bei kleinen und mittleren Unternehmen, weil diese flexibler sind und weniger zahlen. Junge Absolventen wollen jedoch in der Regel wegen der besseren Bezahlung und Versorgung in Großunternehmen arbeiten. Sie suchen eine lebenslange Vollzeitbeschäftigung, wie sie es von ihren Eltern kannten. Diese Zeiten sind jedoch längst vorbei. Seit der Finanzkrise hat sich der Anteil der Beschäftigten mit prekären Beschäftigungsformen von 20 Prozent auf knapp 40 Prozent erhöht. Betroffen sind immer mehr junge Menschen.

Die von Shinzo Abe versprochenen Strukturreformen, die den Wettbewerb stärken und das Land öffnen sollten, sind an den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Japan gescheitert.  Insofern gleicht Japan dem Süden Europas, der sich wirtschaftlich nicht erholt, weil die notwendigen Strukturreformen aus politischen und gesellschaftlichen Gründen nicht umgesetzt werden.


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