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Europäische Krisen : Kreditfinanziertes Wachstum in Südeuropa
08.09.2015 21:11 (3096 x gelesen)

Kreditfinanziertes Wachstum in Südeuropa

Die Europäische Währungsunion funktionierte fast ein Jahrzehnt reibungslos. Die Euro-Skeptiker unter den Wirtschafts- und Finanzexperten schienen widerlegt. Die Inflation war niedrig, und die Europäische Zentralbank gewann zunehmend an Bedeutung und Vertrauen. Der Euro entwickelte sich zur zweitwichtigsten Reservewährung, und der europäische Finanzmarkt wuchs mehr und mehr zusammen. Es schien sich zu bewahrheiten, dass der Euro die Nachfolge der starken D-Mark angetreten hatte. Dementsprechend sanken die Zinsen in den südlichen Ländern Europas auf  deutsches Niveau, was als zunehmende Konvergenz der Volkswirtschaften gedeutet wurde. Für die Politik gab es viel zu feiern, vor allem in Zeiten, in denen die jeweiligen Regierungschefs der Euro-Länder die  EU-Ratspräsidentschaft inne hatten. Das heraufziehende Gewitter wollte niemand sehen.

Die niedrigen Zinssätze sorgten vor allem in  Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, den sog GISP-Ländern, für ein kräftiges, von der Nachfrage getriebenes Wirtschaftswachstum.  Die Kreditzinsen, die in Griechenland vor dem Eurobeitritt zwischen 15 und 20 Prozent gelegen hatten, sanken nach dem Beitritt auf 5 Prozent. Private und öffentliche Kreditnehmer nutzten diese Gelegenheit, um sich großzügig mit billigen Krediten einzudecken. Das dafür erforderliche Kapital stammte weitgehend aus den Kernländern der Eurozone. In den GISP-Ländern wurden die Gelder aber nur selten produktiv verwendet. Das meiste floss in den privaten und öffentlichen Konsum, in unrentable Immobilien oder nutzlose Infrastrukturvorhaben. Den gewaltigsten Bauboom erlebte Spanien. Dass hier Blasen und Klumpenrisiken entstanden, blieb weitgehend unbeachtet.

Parallel zu diesem künstlichen Wirtschaftsboom verschlechterten sich für die Unternehmen in den GISP- Ländern die Angebots- und Wettbewerbsbedingungen im Vergleich zu den Euro-Kernländern. Ein wesentlicher Grund dafür waren steigende Löhne und Kosten, ohne dass sich die Produktivität entsprechend verbesserte. In den ersten zehn Jahren der Währungsunion kletterten  z.B. die öffentlichen Löhne in Griechenland  um 110 Prozent, in Spanien um 50 Prozent, in Frankreich um 30 Prozent, aber in Deutschland nur um 13 Prozent.  Während die Reallöhne in Deutschland sanken, stiegen sie in allen anderen Euro-Ländern.

Die Unternehmen in den GISP-Ländern verloren dadurch gegenüber den europäischen Kernländern immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit. Man blieb bei den traditionellen Strukturen und Denkweisen und verzichte auf  überfällige Reformen. Die  wirtschaftskulturellen  und kollektiven Mentalitäten zeigten sich gegen Veränderungen deutlich resistenter,  als die Befürworter einer schnellen Einführung des Euro angenommen hatten. Die Erwartung, dass eine einheitliche Währung automatisch auch zu einer realwirtschaftlichen Konvergenz und einer Angleichung des Südens an den Norden führen würde, stellte sich als falsch heraus.

Die Folgen waren an den Handels- und Leistungsbilanzen der einzelnen Länder in der Euro-Zone abzulesen. Zwischen 2000 und 2007 lag das durchschnittliche jährliche Defizit der griechischen und portugiesischen Handelsbilanz bei 8.4 und 9,4 Prozent des jeweiligen  Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dem standen  Handelsbilanzüberschüsse von  Deutschland in Höhe von 3,2 Prozent und  den Niederlanden  in Höhe von 5,4 Prozent gegenüber. „Die Spreizung der Leistungsbilanzdefizite innerhalb des Euro-Raums hat seit Mitte der neunziger Jahre stetig zugenommen und ist jetzt auf einem Allzeithoch“, berichtete die EU-Kommission Anfang 2009. Im Klartext bedeutete dies, dass der Süden über seine Verhältnisse lebte. Die Menschen dort konsumierten und importierten mehr, als sie produzierten und exportierten.

Vor Einführung des Euro reagierten die GISP-Länder auf  die Defizite in ihren Leistungsbilanzen mit der Abwertung ihrer nationalen Währungen, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Seit der Einführung des Euro war dies jedoch nicht mehr möglich. Jetzt schlugen die Folgen abnehmender Wettbewerbsfähigkeit unmittelbar auf die Unternehmen durch. Sie mussten die Produktion drosseln oder einstellen, Mitarbeiter entlassen oder sich ein anderes Betätigungsfeld suchen. Der griechische Wirtschaftsminister beschrieb die Entwicklung in seinem Land folgendermaßen: „Das ist das eigentliche Desaster dieses Landes, dass jene, die etwas produzierten, ihre Betriebe schlossen und Importfirmen gründeten, weil sich damit mehr verdienen ließ.“
 

Die wachsenden Ungleichgewichte in den Handels- und Leistungsbilanzen der Euro-Länder wurden im ersten Jahrzehnt des Bestehens der Eurozone nicht als Bedrohung des Euro wahrgenommen. Man nahm zur Kenntnis, dass Deutschland und die Niederlande  Überschüsse erzielten,  während Griechenland, Portugal und Spanien Defizite auswiesen. Solange der Norden die Defizite des Südens mit dem Transfer von Kapital finanzierte, war die Welt für die Europäische Kommission und die EZB in Ordnung. Die damit verbundenen Probleme und Risiken wurden ignoriert oder verharmlost.

Noch im März 2008 erklärte der EZB-Präsident  Jean-Claude Trichet, dass die Eurozone „nicht unter signifikanten wirtschaftlichen Ungleichgewichten leidet“. Dabei vergaß er aber zu erwähnen, dass die EZB bereits im Herbst 2007 begonnen hatte, „den Banken so viel Geld zu geben, wie sie haben wollten, ohne Grenzen“. Gleichzeitig verschwieg er, dass die EZB die Außenhandelsdefizite der GISP-Länder unbemerkt von der Öffentlichkeit mit Hilfe der Target II-Salden, d.h. über zinslose Verrechnungskonten der nationalen Zentralbanken, finanziert hatte. Auf dem Höhepunkt der Krise beliefen sich die Target-Kredite auf mehr als 1.000 Milliarden Euro. Von Beginn an waren „billige Kredite der Kitt, der das Euro-Währungsgebiet während des ersten Jahrzehnts seiner Existenz zusammenhielt“ (Thomas Mayer).


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