Braun- und Steinkohle
und der "Energiewende-Traum"
Der von Klimaschützern bemühte Traum von der Energiewende ging ungefähr so: „Deutschland steigt aus der Nuklearenergie aus und setzt stattdessen auf erneuerbare Energien, vor allem auf Sonne und Wind. Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, springen flexible und saubere Gaskraftwerke ein. So verschwindet neben dem gefährlichen Atomstrom auch der schmutzige Kohlestrom. Die Luft wird sauberer und Deutschland glänzt als Vorreiter beim Klimaschutz.“
So dachten SPD und Grüne, als sie im Jahr 2000 das EEG und etwas später den Atomausstieg beschlossen. Und so waren die Ideen, als CDU und CSU im Jahr 2011 Angela Merkel bei der Umsetzung des beschleunigten Atomausstiegs folgten. Inzwischen ist dieser Traum von der Energiewende jedoch geplatzt.
I
Die Kernkraftwerke werden zwar verschwinden, weil es der Gesetzgeber so beschlossen hat. Es gibt auch auf Grund der großzügigen Förderung immer mehr Anlagen, die Sonnen- und Windstrom erzeugen können. Wenn es aber aus Gründen des Wetters oder der Tageszeit zuwenig Ökostrom gibt, springen nicht die emissionsarmen Gaskraftwerke ein, sondern Braun- und Steinkohlekraftwerke. Die Luft wird dadurch immer schmutziger und Deutschland verfehlt seine selbst gesetzten und ehrgeizigen Ziele beim Klimaschutz.
Warum ist dies so? Und warum ist dieses „Energiewende-Paradox“ (Patrick Graichen) nicht früher erkannt worden? Um die Paradoxie zu verstehen, muss man die Funktionsweise des Strommarktes und seine technischen und ökonomischen Besonderheiten kennen. Dass man erst so spät darauf gekommen ist, erklärt sich daraus, dass Klima- und Energiepolitik in Deutschland primär mit ökologischen Argumenten gemacht wird.
Die Funktionsweise des Strommarktes ist schnell erklärt: Der Preis für Strom bestimmt sich nach Angebot und Nachfrage. Wenn viel Strom nachgefragt oder wenig produziert wird, muss für den Strom ein hoher Preis bezahlt werden. Wenn die Nachfrage sinkt oder das Angebot steigt, dann fällt der Strompreis. Drängt zuviel Ökostrom ins Netz, was an heißen und windreichen Tagen immer häufiger der Fall ist, ergeben sich sogar negative Preise, d.h. die Produzenten müssen sogar Geld an ihre Kunden bezahlen, um den Strom los zu werden.
Vom Strompreis hängt ab, welches Kraftwerk Strom produziert. Denn die Brennstoffe sind unterschiedlich teuer. Uran ist am billigsten, dann kommen Braun- und Steinkohle, am teuersten ist Erdgas. Kraftwerke sind aus betriebswirtschaftlichen Gründen nur solange am Netz, wie der Strompreis ihre Betriebskosten deckt. Dies erklärt, warum bei fallendem Strompreis die Gaskraftwerke häufig, die Kohlekraftwerke nur selten und die Atomkraftwerke faktisch nie abgeschaltet werden.
Solaranlagen und Windräder sind durch das EEG von dieser ökonomischen Regel ausgenommen. Sie können aufgrund ihres Einspeisungsvorrangs ihren Strom einspeisen, wann immer der Wind weht oder die Sonne scheint. Da immer mehr Solaranlagen und Windräder gebaut werden, gibt es deshalb immer häufiger viel oder sogar zuviel Ökostrom. Dadurch sinkt der Strompreis immer öfter so tief, dass zunehmend Kraftwerke abgeschaltet werden.
Die Kraftwerke, die bei sinkenden Strompreisen als erste abgeschaltet werden, sind die Gaskraftwerke. Und wenn sich solche Abschaltungen häufen, kommt irgendwann der Zeitpunkt, in ab dem sie nicht mehr abgeschaltet, sondern stillgelegt werden. Zurzeit liegen der Bundesnetzagentur 69 „Stilllegungsanzeigen“ für Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 14.400 Megawatt vor. Zwei Drittel davon sollen dauerhaft vom Netz gehen.
Ohne Gaskraftwerke und ohne Atomstrom bleiben nur noch Ökostrom und Kohlestrom übrig. Für den Klimaschutz ist dies eine schlechte Nachricht: Denn Kohle erzeugt doppelt so viel Kohlendioxid wie Gas. Außerdem können Gaskraftwerke schnell herauf und wieder herunter fahren, so dass sie technisch eine gute Ergänzung des volatilen Ökostroms sind. So jedenfalls war die Energiewende konzipiert: Wind und Sonne sollten die hauptsächlichen Stromproduzenten sein und bei Bedarf durch Gaskraftwerke ersetzt werden. Die schmutzigen Kohlekraftwerke brauchte man dann nicht mehr und sollten verschwinden. Doch jetzt ist genau das Gegenteil eingetreten:
Die Kohlekraftwerke produzieren auch dann kräftig weiter, wenn der Strompreis sinkt, weil sie träge reagieren. Sie vertragen es nicht, häufig an- und wieder abgeschaltet zu werden. Würde man sie nutzen, um den schwankenden Ökostrom auszugleichen, wäre die teure Technik schnell ruiniert. Außerdem ist es teuer, ihre Leistung zu drosseln, weil die Anlage Diesel benötigt, um wieder auf die erforderliche Betriebstemperatur zu kommen. Deshalb laufen die Anlagen permanent auch bei negativen Strompreisen.
II
Das „Energiewende-Paradox“ stellt die Politik vor eine schwierige und kaum zu lösende Aufgabe. Um die Klimaziele der Bundesregierung ("Verringerung der Treibhausgas-Emissionen um 40 Prozent bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1990") nicht zu gefährden, fordern Umweltministerin Barbara Hendriks und Klimaschützer den Ausstieg aus der Kohleverstromung. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel lieferte dazu mit der „Klimaabgabe“ bereits das passende Instrument. Zweck dieser Abgabe sollte es sein, die Kohleverstromung so teuer zu machen, dass Stein- und Braunkohlekraftwerke stillgelegt werden. Unterstützung hierfür bekamen Hendriks und Gabriel von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auf dem G7-Gipfel im bayerischen Elmau die „Dekarbonisierung der Weltwirtschaft“ angekündigt hatte. Nach dem Atom sollte die Welt auch auf die Verstromung von Kohle, Öl und Gas verzichten.
Sie hatten die Rechnung aber ohne Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) gemacht, der sich von diesen Plänen überrumpelt fühlte. Statt Stilllegung der Stein- und Braunkohlekraftwerke forderte er namens seiner Gewerkschaft, die Kohlekraftwerke gegen Zahlung einer Entschädigung in eine sogenannte "Kapazitätsreserve" zu überführen. "Hartz IV für Kraftwerke wird es mit mir nicht geben", hatte Sigmar Gabriel früher verkündet. Als aber Michael Vassiliadis Ende April 2015 15.000 protestierende Gewerkschaftler vor Gabriels Ministerium aufmarschieren ließ, um die Kohleabgabe zu kippen, gab der Wirtschaftsminister nach und erkärte sich mit den Plänen der Gewerkschaft einverstanden.
Ende Oktober 2015 vereinbarte der Bundeswirtschaftsminister mit den Energieunternehmen (RWE, Vattenfall und Mibrag), dass insgesamt neun Braunkohlekraftwerke mit einer Kapazität von insgesamt 2.700 Megawatt schrittweise stillgelegt werden. Die Konzerne werden dafür im Gegenzug sieben Jahre lang mit jährlich rund 230 Millionen Euro entschädigt, insgesamt also mit 1,6 Milliarden Euro. Die Kosten sollen auf die von den Stromkunden zu zahlenden Netzentgelte umgelegt werden. Formell werden die Kraftwerke in eine "Sicherheitsbereitschaft" überführt, um als eine Art Notfallreserve zur Verfügung zu stehen - was schon wegen der Überkapazitäten auf dem Energiemarkt wenig Sinn macht. Da die Anlagen mehrere Tage Anlaufzeit zur Stromerzeugung brauchen, sind sie auch zu wenig flexibel, um kurzfristige Notfälle oder Versorgungsstörungen beheben zu können.
Von Seiten der Umweltverbände und der Opposition wurde diese Vereinbarung heftig kritisiert. "Gabriel schafft mit Milliardenkosten eine Kohlereserve, die niemand braucht", ließen die Grünen im Bundestag verlautbaren. Greenpeace sprach von einem "milliardenschweren Geschenk an die Kohlekonzerne auf Kosten der Stromkunden". Michael Vassiliades zeigte sich hingegen erfreut, dass der Arbeitsplatzabbau ohne Entlassungen erfolgen könne. "Niemand fällt ins Bergfreie", sagte er.
Zu der Verständigung zwischen den Energieunternehmen und dem Wirtschaftsministerium gehören außerdem eine höhere Förderung von gasbefeuerten Kraft-Wärme-Anlagen und größere Anstrengungen bei der Energieeffizienz, um das CO2-Einsparziel der Bundesregierung bis 2020 doch noch zu erreichen. Alle Maßnahmen werden aber voraussichtlich nicht ausreichen, um das CO2-Ziel zu erreichen. Eine von der Beratungsgesellschaft McKinsey erarbeitete neuere Studie zeigt, dass der Abstand zwischen der geplanten und der tatsächlichen Verringerung der Treibhausgase immer größer wird. Es ist deshalb "unrealistisch", dass die Emissionen bis 2020 um 40 Prozent gesenkt werden. Für die Bundesregierung ist dies eine peinliche Feststellung.
III
Unmittelbar vor der Weltklimakonferenz Ende 2015 in Paris verkündete deshalb Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD), sie halte es für möglich bei der Kohle "einen Ausstiegspfad in 20 bis 25 Jahren ohne Strukturbruch hinzubekommen". Was dann noch an fossilen Energieträgern notwendig sei, sollten Gaskraftwerke abdecken. Ein "nationaler Konsens" darüber sollte noch in dieser Legislaturperiode erreicht werden. Solche Absichten kollidierten jedoch mit den Ausstiegsplänen der Energiewirtschaft, die vorsehen, dass die letzten deutschen Braunkohle-Kraftwerke erst "Mitte des Jahrhunderts" außer Betrieb gehen. Außerdem widersprechen die Absichten der Bundesumweltministerin den von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg beschlossenen Plänen zur Braunkohle-Nutzung, die unmittelbar maßgeblich sind.
Die Energiegewerkschaft IG BCE zeige sich deshalb verwundert über die Aussagen der Umweltministerin. "Sie sollen vermutlich die Teilnehmer der Weltklimakonferenz beeindrucken", meinte ihr Sprecher und fügte hinzu: "Fakt ist, dass nicht in der Lausitz oder in Garzweiler über das Weltklima entschieden wird, sondern in China, Indien und den USA. Das sollte man anerkennen statt zu suggerieren, das ließe sich durch nationalen Aktionismus kompensieren." Dem ist nur hinzuzufügen: Die EU steht gerade einmal für 10 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, Deutschland nur für 2,2 Prozent.
Barbara Hendriks und das von ihr geführte Umweltministerium halten jedoch trotz aller Bedenken und Widerstände an ihren Ausstiegsplänen für die Kohle fest, um die Klimaziele und die Energiewende nicht zu gefährden. Unterstützung erhalten sie insbesondere von linken Umweltaktivisten aus ganz Europa, die sich das Ziel gesetzt haben, Deutschland wie beim Atomausstieg durch Aufmärsche und Betriebsblockaden zu einem schnellen Ausstieg aus der Braunkohle zu zwingen. Die erste Aktion des Bündnisses "EndeGelände" startete am Morgen des 15. August 2015, als mehrere hundert bis 1.000 Demonstranten in den RWE-Tagebau Garzweiler eindrangen und den Bagger besetzten. Die Polizei musste mit 1.200 Beamten unter Einsatz von Tränengas und Schlagstöcken das Betriebsgelände räumen und nahm 100 Personen fest. 36 Personen wurden verletzt. RWE stellte Strafanzeige, worauf 797 Strafverfahren eingeleitet wurden.
Eine zweite Aktion, die am Pfingstwochenende 2016 stattfand, richtete sich gegen das von Vattenfall betriebene Braunkohlekraftwerk im Süden Brandenburgs. Einige tausend Aktivisten stürmten das Gelände des Kraftwerks, besetzten in weißen Schutzanzügen den Tagebau und legten sich auf eines der großen Förderbänder. Sie blockierten die Gleise, um dem Kohlemeiler Schwarze Pumpe der Nachschub abzuschneiden, und durchbrachen schließlich den Zaun um das Kraftwerk. Die Polizei nahm rund 130 Aktivisten fest. Zu den Organisatoren gehörten auch die Grünen. Ihre Co-Chefin Simone Peter demonstrierte freudig mit. Über die Exzesse verlor sie, wie auch Bundesumweltministerin Barbara Hendriks, kein böses Wort. Weniger begeistert waren etwa 2000 einheimische Kohlebefürworter und Mitarbeiter von Vattenfall, die fürchteten, bei einem Ausstieg aus der Braunkohleverstromung ihren Arbeitsplatz zu verlieren.
Der brandenburgische Wirtschaftsminister Albrecht Gerber kritisierte "illegale Aktionen in Form einer anmaßenden Form von Selbstjustiz". Infolge der Blockade konnte der Meiler ein ganzes Wochenende nur mit "deutlich reduzierter Leistung" fahren. Vattenfall wertete den Vorgang als Nötigung und Gewaltakt. "Das war ein Eingriff in die deutsche Energieversorgung", sagte Konzernsprecher Thoralf Schirmer. "Es war nur ein Glücksfall, dass Wind und Sonne die fehlende Kapazität des Kraftwerks Schwarze Pumpe augefangen haben. Wenn es windstill gewesen wäre, hätte die Situation kritisch werden können." Dies ließ die "EndeGelände"-Sprecherin Hannah Eichberger jedoch unbeeindruckt: "Unser Ziel ist ein starkes Signal für Kohleausstieg und Klimagerechtigkeit. Wir machen weiter, bis alle Kohlekraftwerke stillgelegt sind."
Die Energiegewerkschaft IG BCE betrachtet das Agieren der Bundesregierung und insbesondere der Bundesumweltministerin mit deutlichem Misstrauen. Als die Atomkommission des Bundes - ein Gremium mit 19 Mitgliedern - Anfang 2016 ihren Vorschläge für die Finanzierung des Atomausstiegs vorlegen wollte, warnte ihr Vorsitzender Michael Vassiliadis : "Egal welche Lösung man findet: Sie darf nicht negativ auf die fossile Energieerzeugung ausstrahlen. Die Kuh, die man melken will, sollte man nicht umbringen." Die Kohle sei nach dem Abschalten der letzten Atomkraftwerke im Jahr 2022 für eine "sichere und bezahlbare Stromversorgung unverzichtbar", fügte Vassiliadis hinzu. Er forderte einen Braunkohlefonds, der den Tagebau im Rheinischen Revier und in der Lausitz bis zur Mitte des Jahrhunderts absichert und die Kosten der Renaturierung übernimmt. Die Konzerne sollen nach diesem Vorschlag nur noch eine Vergütung für den Betrieb der Anlagen erhalten, aber für die Risiken und Folgekosten nicht mehr haften. Oliver Krischer (Grüne) meinte: "Auf diese Idee kann nur einer kommen, der die Energiewende nicht verstanden hat".
Ende August 2016 verschärfte die Bundestagsfraktion der Grünen die Auseinandersetzung um den Kohleausstieg mit einem konkreten Fahrplan für die Beendigung der Kohleverstromung bis 2035. Der Plan sieht vor, dass der Deutsche Bundestag bis Juni 2018 nach dem Muster des Atomausstiegs einen Beschluss zur Einleitung und Umsetzung des verbindlichen Ausstiegs aus der Kohleverstromung herbeiführt. Eine pluralistisch zusammengesetzte "Kommission Kohleausstieg" soll den Ausstiegsprozess begleiten und kommunizieren. Die Erschließung neuer Tagebaue soll verboten werden. Besonders "dreckige" Kohlekraftwerke sind sofort vom Netz zu nehmen, alle anderen sollen Schritt für Schritt nach Verbrauch des ihnen zugemessenen CO2-Budgets stillgelegt werden. "Wir streben an, in der kommenden Legislaturperiode das Ende des Kohlezeitalters in Deutschland unumkehrbar und planungssicher einzuleiten", heißt es in dem Papier der Grünen. Damit wissen die anderen Parteien, insbesondere die Union und die SPD, was auf sie zukommt, wenn sie nach der Bundestagswahl 2017 Koalitionsverhandlungen mit den Grünen führen.