Die politische Alternative
(2012-2013)
In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse in den Jahren 2012- 2013.
„Bogenberger Erklärung“
Die von den Euro-Staaten beschlossenen Rettungsschirme, um überschuldete Euro-Staaten vor dem Konkurs zu retten, trafen vor allem bei deutschen Ökonomen auf Widerstand. Im Mittelpunkt der Kritik stand dabei die Aufgabe des im Maastricht Vertrages verankerten „no-bail-out“-Prinzips.
Auch das ifo-Institut (Hans Werner Sinn) befasste sich in einer Strategiesitzung am 15. Oktober 2011 in Bogenberg, Obertaufkirchen, mit der Situation der Europäischen Währungsunion. Aus Sorge um Deutschland und Europa unterzeichneten die Teilnehmer die „Bogenberger Erklärung“, mit der das Ausufern der deutschen Haftung bei den Rettungsprogrammen und die Aushebelung der Marktprozesse verhindert werden sollten. Die Agenda sah folgendes vor:
• Die EZB wird auf die reine Geldpolitik beschränkt und gibt ihre Rolle als „Lender of Last Resort“ auf. Hilfsprogramme sind Aufgabe demokratischer Gremien.
• Die Verteilung der Stimmrechte und die Entscheidungsregeln im EZB-Rat werden revidiert.
• Target-Schulden sind wie in den USA einmal jährlich mit zinstragenden, marktgängigen Vermögensobjekten zu bezahlen.
• Der Rettungsschirm wird um einen klaren Krisenmechanismus und eine Insolvenzordnung ergänzt, welche die Hilfsmaßnahmen der Staatengemeinschaft auf kurzfristige Liquiditätskredite und längerfristige Garantien nach laufzeitbezogenen Schuldenschnitten begrenzen.
• Mittelfristig ist vorzusehen, dass Banken die erworbenen Staatspapiere mit Eigenkapital unterlegen und notfalls den Staat als Miteigentümer akzeptieren, wenn sie die dafür notwendige Rekapitalisierung aus eigener Kraft nicht schaffen.
• Man muss hinnehmen, dass Länder, die nicht in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen, aus der Währungsunion austreten.
Die Bogenberger Erklärung des ifo-Instituts diente der MIT als Vorbild, um den geplanten Rettungsschirm ESM aus ordnungspolitischen Gründen abzulehnen. Der ESM war geradezu das öffentliche Sinnbild für eine europäische Politik, die das Haftungsprinzip, wonach jeder Staat für seine Schulden und Fehler selbst einzutreten hat, abschaffen und durch dasPrinzip der Solidarität ersetzen wollte.
Wir forderten deshalb, das geplante Vertragswerk zu ergänzen
1. um eine zeitliche Befristung des ESM-Instruments mit regelmäßigen Überprüfungspflichten;
2. um eine Garantie, dass die Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen des ESM den Mitgliedern der Eurozone vorbehalten bleiben, also nicht in die Gemeinschaftsmethode mit Kommissionsverantwortung überführt wurden;
3. um ein Verfahren für Staatsinsolvenzen bei nachhaltiger Zahlungsunfähigkeit;
4. um die Möglichkeit des Austritts oder des Ausschlusses aus der Währungsunion.
Wir befürchteten, dass der ESM ohne diese Weichenstellungen zwangsläufig in eine Transferunion münden würde. Die Abgeordneten des Bundestages baten wir, den ESM abzulehnen, wenn nicht gleichzeitig die von uns geforderten Änderungen beschlossen würden. Unsere Forderungen wurden von einer Vielzahl von Medien aufgegriffen, nicht aber von den Abgeordneten des Bundestages, die dazu die Möglichkeit gehabt hätten. Nur bei den Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen (Ziffer 2) sorgten sie dafür, dass sie nicht in die Gemeinschaftsmethode überführt wurden.
Hans-Olaf Henkel
Zur Bundesvorstandssitzung am 10. Dezember 2012 hatten wir Hans-Olaf Henkel, den ehemaligen BDI-Präsidenten, eingeladen, um mit ihm über Europa zu sprechen. Henkel stellte gleich zu Beginn seiner Rede fest, dass sein größter professioneller Fehler gewesen wäre, sich für den Euro einzusetzen. Danach ging er auf folgende Fragen ein:
Warum änderte er seine Meinung zum Euro?
Antwort: Die Aufnahme Griechenlands war ein Fehler. Nach Einführung des Euros verdreifachten die Griechen ihre Schulden. Der Stabilitätspakt hat sich als unwirksame erwiesen. Über 60 Verstöße wurden nicht sanktioniert. Die von Theo Waigel und seinem Staatssekretär Horst Köhler ausgehandelte No-Bail-Out-Klausel wurde von Merkel gekippt. Frau Merkel gab insoweit dem Druck der Franzosen nach.
Wo führt der heutige Kurs hin?
Antwort: Diese Frage wird in Deutschland nicht offen diskutiert. Man ist nicht mehr in einer Währungsunion, sondern bereits in einer Transferunion. Beim Austritt von Griechenland kostet dies den deutschen Steuerzahler 40 Milliarden Euro. Die EU entwickelt sich von einer Stabilitätsunion zu einer Schuldenunion und damit zu einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit, vergleichbar mit dem deutschen Finanzausgleich. Dadurch wird die Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Union ausgehöhlt.
Was bedeutet das für Europa?
Antwort: Die derzeitige Entwicklung in den Südländern ist verheerend. Von den Menschen wird sehr viel verlangt, allerdings ohne viel Erfolg. Das Hauptproblem ist nicht Griechenland, sondern Frankreich. Dort finden keine Reformen statt. Man hat dort das Rentenalter gesenkt und die Unternehmenssteuern drastisch angehoben.
Was sind die Alternativen?
Antwort: Man wird weiterhin versuchen, den Euro zu retten. Beim Austritt von Griechenland können auch andere Südländer straucheln. Ein Ausweg ist, dass die Nordländer unter der Führung von Deutschland einen eigenen Währungsverbund bilden. Zurzeit wird versucht, zwei völlig unterschiedliche Wirtschafts- und Finanzkulturen aneinander anzupassen. Das muss umgekehrt werden: Die Währungsräume müssen sich an die unterschiedlichen Kulturen anpassen.
„Bündnis Bürgerwille“
Am 16. Februar 2012 erhielt ich von unserem Winsener Nachbarn Bernd Lucke, Professor der Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität, eine Mail mit folgendem Inhalt:
„Lieber Herr Schlarmann,
Sie wissen es vielleicht: Ich bin Professor der Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg. Ich habe mich seit Beginn der Griechenlandkrise des öfteren kritisch mit der Rettungsschirmpolitik der Bundesregierung auseinandergesetzt. Aber Artikel in distinguierten Zeitungen helfen nicht viel. M.E. kann nur die drohende Abwendung der Wähler die Bundesregierung zum Umdenken bringen.
Deshalb habe ich vor wenigen Tagen mit einigen Mitstreitern das „Bündnis Bürgerwille“ gegründet. Dies ist eine überparteiliche Sammlungsbewegung, die in erster Linie eine elektronische Unterschriftensammlung durchführt, um der Ablehnung der Rettungsschirmpolitik in der Bevölkerung einen sichtbaren Ausdruck zu verschaffen.
Wir sprechen derzeit gezielt Erstunterzeichner an. Zugesagt haben u.a. bereits Georg Milbradt, Hans-Olaf Henkel und Frank Schäffler. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie bereit wären, unsere Initiative ebenfalls als Erstunterzeichner zu unterstützen. Sie sind ja dafür bekannt, dass Sie Rückgrat haben.
Mit herzlichen Grüßen – auch an Ihre Frau -,
Ihr Bernd Lucke“
In dem beigefügten Aufruf bekannte sich das Bündnis zur wirtschaftlichen Integration der europäischen Staaten in der Europäischen Union, nicht aber zur Rettungspolitik der Bundesregierung. Haftungsübernahmen durch Rettungsschirme wurden abgelehnt, und jedem Euro-Staat sollte auf eigenen Wunsch der Austritt aus dem Euro-System ermöglicht werden. Die Europäische Zentralbank sollte wieder allein auf die Wahrung der Preisstabilität verpflichtet werden. Zukünftig sollten gesellschaftliche Grundentscheidungen der unmittelbaren Zustimmung der Bürger bedürfen. Dies sollte insbesondere für Währungsfragen und für die Abtretung von Souveränitätsrechten an die Europäische Union gelten.
Mit dem Aufruf war ich einverstanden, und ich trat dem Bündnis Bürgerwille als einer der Erstunterzeichner bei.
„Wahlalternative 2013“
Nach dem „Bündnis Bürgerwille“ gründete Bernd Lucke mit Gleichgesinnten die Wahlalternative 2013, um auf die Bundestagswahl 2013 Einfluss zu nehmen. Die Wahlalternative hatte sich folgende Ziele gesetzt:
• Deutschland wird im Einklang mit dem Maastricht-Vertrag nicht mehr für die Schulden fremder Staaten eintreten.
• Das einheitliche Euro-Währungsgebiet wird aufgegeben. Es steht allen Staaten frei, aus dem Euro auszuscheiden, sich in geeigneten Währungsverbünden (Nord- und Süd-Euro) zusammenzuschließen oder Parallelwährungen einzuführen.
• Abtretungen wesentlicher Hoheitsrechte der Bundesrepublik Deutschlands bedürfen einer vorherigen Volksabstimmung.
Jetzt war passiert, wovor ich die CDU-Führung immer wieder gewarnt hatte. Die Wahlalternative kündigte an, bei der Bundestagswahl 2013 mit derjenigen politischen Partei zu kooperieren, die ihre Ziele unterstützte. Das konnte nicht mehr die Union sein. Gründer der Initiative waren zwar überwiegend Persönlichkeiten, die dem liberal-konservativen Lager zuzurechnen waren. Ich schloss mich aber dieser Gründung nicht an, weil ich als CDU-Mitglied und MIT-Bundesvorsitzender nicht konkurrierende Wahlinitiativen unterstützen wollte.
Die Wahlinitiative 2013 erhielt ihre besondere Brisanz dadurch, dass die Bundesregierung sich in dem Streit zwischen EZB und Deutscher Bundesbank über den Ankauf von Staatsanleihen auf die Seite der EZB geschlagen hatte. Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, hatte als einziges Mitglied im EZB-Rat gegen den Vorschlag von Mario Draghi gestimmt, notfalls unbegrenzt Staatsanleihen von Schuldnerstaaten zu kaufen. Daraufhin stellte sich die Bundeskanzlerin ostentativ hinter den EZB-Präsidenten und stärkte ihm den Rücken: „Die EZB hat gestern deutlich gemacht, dass sie sich der Geldwertstabilität absolut verpflichtet fühlt“, sagte sie – was zu großer Unruhe in der deutschen Notenbank führte. Zuvor hatte schon Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) betont, dass die EZB mit ihrer Entscheidung über den Ankauf von Staatsanleihen im Rahmen ihres Mandats handelte.
In der Deutschen Bundesbank fühlte man sich im Stich gelassen. „Hier wird am Parlament vorbei die Bilanz der Deutschen Bundesbank benutzt, um andere Regierungen in Europa zu unterstützen“, hieß es in Notenbankkreisen. Die Politik gäbe damit jegliche Kontrolle darüber ab, mit welchen Summen nun andere Staaten finanziert würden. Die Entscheidung der EZB würde auch nicht dazu führen, dass ausländische Investoren wieder stärker in Staatsanleihen der Krisenländer investierten. Denn die grundlegenden Probleme blieben ungelöst, warnte die Deutsche Bundesbank.
Die Konfrontation zwischen Bundesregierung und Bundesbank war nicht die erste dieser Art, sie hätte aber neue Dimensionen angenommen, sagte Jürgen Stark, der im September 2011 aus Protest gegen die Politik der EZB von seinem Posten als Chefvolkswirt der Zentralbank zurückgetreten war. „Hier geht es um eine potentielle Umverteilung von Vermögen zwischen den Mitgliedsstaaten in bislang nicht gekanntem Ausmaß ohne parlamentarische Kontrolle.“
Der frühere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin kritisierte die Entscheidung zum Kauf weiterer Staatsanleihen als „eindeutig rechtswidrig“. Der WELT am SONNTAG sagte er: „Das ist ein kalter Staatsstreich, für den die Namen Draghi und Merkel stehen.“ Kalt lächelnd hätten Draghi und Merkel den Bundesbankpräsidenten übergangen, so Sarrazin. „Frau Merkel hält sich Herrn Weidmann als eine Art Pudel.“
AfD-Gründung:
Es war zu erwarten, dass sich aus der „Wahlinitiative 2013“ schnell eine eigenständige Partei, die „Alternative für Deutschland (AfD)“ entwickeln würde. Der Gründungsparteitag fand Mitte April 2013 in Berlin statt. Nach eigenen Angaben gab es insgesamt 7500 Mitgliedsanträge; zum Gründungsparteitag erwartete man 1500 Teilnehmer. Die Initiatoren waren zum Teil mit den Gründern der Wahlalternative 2013 identisch. Bernd Lucke wurde zum Vorsitzenden gewählt.
Das vom Vorstand der AfD am 21.03.2013 beschlossenen Wahlprogramm für die bevorstehende Bundestagswahl bestand aus sechs Seiten. Die darin enthaltenen Aussagen und Forderungen waren weder radikal noch rassistisch.
Der Schwerpunkt des Programms lag wie beim Bündnis Bürgerwille und der Wahlalternative 2013 bei der Eurokrise:
Die AfD forderte eine Änderung der Europäischen Verträge, um jedem Staat ein Ausscheiden aus dem Euro zu ermöglichen. Die Kosten der Rettungspolitik sollten von den Banken und nicht vom Steuerzahler getragen werden. Für die Europäische Zentralbank forderte die AfD ein sofortiges Verbot des Ankaufs von Schrottpapieren. Die AfD wollte ein Europa souveräner Staaten mit einem gemeinsamen Binnenmarkt. Die nationalen Parlamente sollten gestärkt werden. Es sollten Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild eingeführt werden. Außerdem sprach sich die AfD für ein Einwanderungsgesetz nach kanadischem Vorbild aus.
Die Gründung der AfD löste in Teilen der CDU blankes Entsetzen aus. Ich sagte dem Nachrichtenmagazin FOCUS: „Die AfD spricht viele traditionelle Anhänger von Union und FDP an, die mit dem am Zeitgeist orientierten Modernisierungskurs der Partei fremdeln.“ Die Parteiführung hätte „längst auf diese Strömungen reagieren müssen“. Jetzt sei es dafür „höchste Zeit“, mahnte ich. „Diese neue Partei könnte das bürgerliche Lager im September die entscheidenden Stimmen kosten.“
Bundestagswahl 2013
Mit dieser Prognose lag ich allerdings falsch: Bei der Bundestagswahl 2013 scheiterten FDP und AfD an der 5%-Klausel und zogen nicht in den Bundestag ein, während die Union 41,5 Prozent der Stimmen erhielt (gegenüber 23,0 Prozent 2009). Für Angela Merkel und ihren Generalsekretär Hermann Gröhe war das Wahlergebnis ein großer Erfolg. Aber schon bei der folgenden Bundestagswahl im Jahr 2017 wendete sich das Blatt: Die AfD zog mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein, während die Union auf 33 Prozent zurückfiel.
Der Bundestagswahlkampf 2013 wurde von CDU und SPD als „Wohlfühlkampagne“ inszeniert. Dafür war Angela Merkel die geeignete Kandidatin: Sie konnte überzeugend erklären, warum bessere Mütterrenten, ein höheres Kindergeld und bezahlbarer Wohnraum notwendig und möglich waren, ohne die Steuern zu erhöhen. Dabei vermittelte sie den Zuschauern das Bild einer „mütterlichen Kanzlerin“, die sich um die alltäglichen Sorgen der kleinen Leute „persönlich kümmert“. Geschickt suchte sie den Kontakt zu den Frauen- und Sozialverbänden, von der Wirtschaft sprach sie immer weniger. Man sah sie häufig mit den Gewerkschaftsspitzen, aber nur noch selten mit Konzernmanagern, die sie früher gern um sich gehabt hatte.
Dementsprechend sah das Wahlprogramm aus, das ein kleiner Kreis unter der Leitung des Generalsekretärs zusammengestellt hatte. Es sah Wahlversprechen für Rentner und Familien in Höhe von 28,5 Milliarden Euro vor, ohne dass die Finanzierung gesichert war. Das Programm sprach sich für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns aus. Für Unternehmen sollte eine verbindliche Frauen-Quote eingeführt werden. In der Energiepolitik trat das Programm für bezahlbare Energiekosten ein, sagte aber nicht, wie dies erreicht werden sollte. Auch zur Eurokrise enthielt das Programm wohlfeile Versprechen, ohne aber Wege für deren Umsetzung aufzuzeigen.
Das Wahlprogramm wurde – wie in der CDU üblich – nicht auf einem Parteitag, sondern vom Bundesvorstand der CDU in seiner Sitzung am 23. Juni 2013 beschlossen. An dieser Sitzung habe ich aus Protest nicht mehr teilgenommen.