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Erlebte Wirtschaftspolitik : Erlebte Wirtschaftspolitik 2011
07.03.2019 20:55 (1787 x gelesen)

Schwarz-gelbes Scheitern

(2011-2012)

In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse im Jahr 2011-2012:

Gespräch mit Angela Merkel

Am 6. April 2011 traf sich das MIT-Präsidium mit Angela Merkel zu einem längeren Gespräch im Adenauer-Haus. Das Treffen ging auf eine Anregung von Frau Merkel während des CDU-Parteitages 2010 zurück, bei dem die Anträge der MIT auf erheblichen Widerstand gestoßen waren. Um die Wogen zu glätten, hatte sie mir das Angebot für ein persönliches Gespräch gemacht, das ich angenommen hatte.

Angela Merkel erschien zu dem Gespräch wegen eines Unfalls mit zwei Gehhilfen, denen man in politischer Hinsicht eine gewisse Symbolik nicht absprechen konnte. Persönlich machte sie aber einen frischen und munteren Eindruck, der für eine starke Vitalität sprach. Wir trafen in dem Gespräch auf eine Bundeskanzlerin, die informiert war und kritischen Themen offen gegenüberstand. Merkel selbst bezeichnete das Gespräch später als „kontrovers, aber konstruktiv“.

Zur Forderung nach Steuervereinfachung sagte Merkel, dass auch das Geld koste, auf das man nicht verzichten wolle. Verständnis zeigte sie aber für eine gezielte Entlastung: So sei die Beseitigung des Mittelstandsbauchs wichtiger als eine allgemeine Steuervereinfachung.

Zur Höhe der Sozialbeiträge erklärte Merkel, dass die Obergrenze von 40 Prozent gilt. Im Übrigen war sie aber nicht bereit, die vorgezogene Fälligkeit der Beiträge rückgängig zu machen oder die Kinder in der PKV aus Mitteln des Gesundheitsfonds beitragsfrei zu stellen. Entschuldigend fügte sie hinzu: „Sie halten mich ja doch für eine Sozialdemokratin!“

Zur Euro-Rettungspolitik wurde Frau Merkel von dem Schatzmeister der MIT, Peter Jungen, darauf hingewiesen, dass es hier weiterhin eine Erklärungslücke gibt. Griechenland und Portugal wären in der Vergangenheit viele Male zahlungsunfähig gewesen. Man würde deshalb an einer baldigen Schuldenbereinigung nicht herumkommen. Frau Merkel äußerte sich dazu nicht.

In der Energiepolitik wurde ihr von Dieter Bischoff, dem Leiter der dafür zuständigen Kommission, vorgehalten, dass wir zu einem Atomimportland werden, und der Strom durch das EEG immer teurer wird. Deshalb wäre eine europäische Lösung anzustreben, und die Klimaschutzziele müssten nach hinten verschoben werden.

Angela Merkel zeigte sich erleichtert, als es bei der Energiepolitik nicht zu einer persönlichen Konfrontation kam. Die Eile bei dem Atomausstieg versuchte sie damit zu erklären, dass sich das CDU-Präsidium mit „affenartiger Geschwindigkeit“ von den AKWs distanziert habe. Sie hielt jedoch an ihrem nationalen Ausstiegsplan fest.

Schwarz-gelbe Enttäuschung

Im Sommer 2011 war die schwarz-gelbe Bundesregierung endgültig gescheitert. Die WELT am SONNTAG widmete diesem Thema eine Sonderbeilage, in der das Scheitern anhand von zehn Punkten („10 Mal versprochen, 10 Mal gebrochen“) beschrieben wurde. Wesentlich waren die folgenden Feststellungen:

• „Wir stehen für eine solide Haushalts- und Finanzpolitik“ versprachen die Koalitionäre 2009. Im Inland hielt die Koalition das Geld auch zusammen – in Europa verpulverte sie es aber durch einen gigantischen Rettungsschirm.
• Als „maximalen Unsinn“ hatte die FDP Mindestlöhne bekämpft, sie stimmte aber zu, als Ursula von der Leyen (CDU) als Arbeitsministerin Mindestlöhne für die Pflegebranche (800.000 Mitarbeiter) und die Zeitarbeit (900.000 Mitarbeiter) festsetzte.
• Im Oktober 2009 versprach die Koalition: „Der Zugang von ausländischen Hochqualifizierten und Fachkräften muss systematisch an den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes ausgerichtet und nach klaren Kriterien gestaltet werden.“ Die Neuregelung scheiterte an den Innenpolitikern von CDU/CSU, die „eine Ausschöpfung des heimischen Arbeitsmarktes“ verlangten.
• Im Koalitionsvertrag hatten sich Union und FDP auf „ein einfacheres, niedrigeres und gerechteres Steuersystem“ verständigt. Mittlerweise betonten beide Parteien, dass es wegen des hohen Schuldenberges für ein solches Projekt kein Geld gebe.
• Die Idee des Westens sei die Grundlage deutscher Außenpolitik, seine Institutionen von der Nato bis zur EU die wichtigste Plattform, hieß es im Koalitionsvertrag. Als es um den Militäreinsatz in Libyen ging, stand die Bundesregierung an der Seite von China und Russland.
• Im Koalitionsvertrag von Union und FDP war von einer „gerechten und transparenten“ Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen die Rede. Am Ende wurde der umstrittene Gesundheitsfonds noch komplizierter, die Kassenbeiträge stiegen so stark wir unter Ulla Schmidt, und der Pharmaindustrie verordnete die sonst so liberale FDP einen ordentlichen Zwangsrabatt.
• Im Wahlkampf hatten Union und FDP längere Laufzeiten für die 17 deutschen Kernkraftwerke versprochen. „Die Kernenergie ist ein vorerst unverzichtbarer Teil in einem ausgewogenen Energiemix“, hieß es im Unions-Programm. „Der Ausstieg aus der Kernenergie ist zum Zeitpunkt ökonomisch und ökologisch falsch“, warnte die FDP. Als Reaktion auf die Katastrophe in Fukushima beschloss Kanzlerin Angela Merkel jedoch quasi im Alleingang, so schnell wie möglich aus der Kernenergie auszusteigen.
• Vor den Koalitionsverhandlungen mit der Union wollten die Liberalen das Entwicklungsministerium abschaffen. Als FDP-Generalsekretär Dirk Niebel dann Minister werden sollte, löste sich diese Forderung in Luft auf.

Diese Analyse vom Scheitern der schwarz-gelben Koalitionsregierung fand bei den Lesern ein ungewöhnlich großes Echo. Auch mein MIT-Freund Henry W. Rosskamp schrieb der WELT am SONNTAG einen Leserbrief: „Eine außergewöhnliche Analyse der aktuellen politischen Lage unserer Republik. Fair und berechtigt sehr kritisch. Für ein langjähriges CDU-Mitglied schmerzliche Realität. Wie lange sollen wir das noch ertragen? Wann folgt man dem Zitat von Dr. Schlarmann: ´Die Öffnung nach links in den Zeiten der großen Koalition hat nicht funktioniert. Die Öffnung zu den Grünen funktioniert auch nicht. Vielleicht versuchen wir es mal mit uns selbst´.“

Erwin Teufel (CDU)

In diesem Sommer des Scheiterns meldeten sich auch die „Alten“, die sich um die Union sorgten. Dazu gehörte der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, der angesichts des Wahlsiegs der Grünen nicht länger schweigen wollte. Der „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ sagte er, es sei zwar leicht zu kritisieren, aber schwer zu handeln. „Deswegen habe ich auch fünf Jahre den Mund gehalten. Aber inzwischen habe ich das Gefühl, der Union ist mehr gedient, wenn man den Mund aufmacht, als wenn fast alle schweigen.“

Er selbst werde viel wegen der Sorgen um den Zustand der Partei angesprochen, sagte Teufel der Sonntagszeitung. „Die Stammwähler der CDU könnten nicht mehr sagen, worin die Alleinstellungsmerkmale der CDU liegen, wo ihre Kernkompetenzen sind, wo ihr Profil ist. Über Jahre und Jahrzehnte konnten sie das. Deswegen waren sie ja Stammwähler“. Das gelte auch für die Wirtschaftspolitik. Der Union fehle es auch an einem wirtschaftspolitischen Gesicht, das sie dringend brauche. „Für die CDU ist das eine Überlebensfrage, wenn sie Volkspartei bleiben will.“ Zudem gelinge es der Partei wie der Politik insgesamt immer weniger, sich den Bürgern mitzuteilen. Viele Politiker, sagte Teufel, würden nicht mehr verstanden. „Sie sprechen eine reine Fachsprache, die außer dem Fachpublikum kein Mensch versteht.“ Eine Volkspartei brauche aber „Leute mit Bodenhaftung, Leute, die wissen, wo den Menschen der Schuh drückt und wo das tägliche Brot herkommt“.

Als er in die Politik gegangen sei, habe in jedem Kreisvorstand der CDU noch ein Unternehmer und ein einfacher Arbeiter gesessen. „Und die waren beide aufgehoben in der gleichen Partei. Das war die CDU. Das ist auch heute noch unser Potential: über 40 Prozent für die CDU und über 50 Prozent für die CSU. Und wir schöpfen das nicht aus.“ Auf den Einwand, die heute führenden CDU-Politiker sähen sich hier nicht als Urheber, sondern als Opfer der Zeitläufte, entgegnete Teufel: „Wenn mir, wie bei der letzten Wahl, weit über eine Million zur FDP wegläuft, dann dort wieder abwandert, aber nicht zurückkommt, und außerdem ebenso viele andere in die Wahlenthaltung laufen, dann ist das doch der Nachweis, dass diese Wähler keine andere Partei, zumindest jetzt noch nicht, wählen können. Sondern die parken buchstäblich und warten auf eine andere CDU. Da kann ich mich doch als verantwortlicher Politiker nicht zurücklehnen und sagen: Ich bin Opfer einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung.“

Erwin Teufel sah zudem das Vertrauen in die europäischen Staats- und Regierungschefs erschüttert, weil diese sich selbst nicht mehr an Recht und Gesetz hielten. „Das Vertrauen in die handelnden Staatsmänner in Europa ist verloren gegangen“, sagte Teufel. „Wenn Staats- und Regierungschefs in einer Nacht wesentliche Stabilitätskriterien wegputzen, die in Verträgen festgehalten, also geltendes Recht sind, geht Vertrauen verloren. Vom Bürger erwartet man, dass er sich an Normen, an Recht und Gesetz, an Verträge hält, - und Staats- und Regierungschefs tun es nicht.“

In der Politik komme es entscheidend auf Vertrauen an. „Wer will im Augenblick die Zusammenhänge der Euro-Krise oder der Finanzkrise durchschauen? In einer solchen Lage orientiert sich der Wähler nur an Verantwortungsträgern, denen er vertrauen kann“, sagte Teufel. Er forderte von den Staats- und Regierungschefs: „Sie sollten so schnell wie möglich wieder zu den vereinbarten Stabilitätskriterien und zur Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank zurückkehren.“

Diskussion im Residenzschloss

Ich lernte Erwin Teufel im September 2011 auf einer Veranstaltung der MIT in Ludwigsburg kennen, die im Ordenssaal des Residenzschlosses stattfand. Erwin Teufel, Sohn eines Bauern, war bis 2005 Ministerpräsident in Baden-Württemberg gewesen. Er hatte lange geschwiegen. Doch als die CDU die Landtagswahl in Baden-Württemberg verlor und die Grünen mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten stellten, meldete er sich zu Wort. Seine Sorge galt dem inneren Zustand der CDU.

Die MIT Ludwigsburg hatten Erwin Teufel, den Historiker Gerd Langguth und mich eingeladen, um über das Thema „Wie viel Kraft hat die CDU für Deutschland und Europa?“ zu sprechen. Während Erwin Teufel seine bekannten Thesen wiederholte und dafür riesigen Applaus erhielt, stellte sich Gerd Langguth, der eine Biografie über Angela Merkel geschrieben hatte, schützend vor die Kanzlerin. „Nicht für alles ist Angela Merkel verantwortlich.“ Die Gesellschaft befände sich durch Individualisierung und Pluralisierung im Wandel. Es gäbe kaum noch Stammwähler: „Mehrheiten müssen heute erkämpft werden.“ Alles in allem wäre die Lage aber gar nicht so schlimm, meinte Langguth. Deutschland wäre noch immer eine verlässliche Größe, die CDU stabil und die letzte verbliebene Volkspartei. Und doch sah er ein Problem: „Es gibt keine Alternative zu Merkel.“

In meinem Beitrag machte ich deutlich, dass die frühere Kraft der CDU vor allem zwei liberal-konservativen Politikern zu verdanken war:  Konrad Adenauer, der die europäische Einigung wollte, und Ludwig Erhard, der in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft einführte. Auf dieser Grundlage sei es der CDU in der Vergangenheit gelungen, Wahlen zu gewinnen und Deutschland aus der Regierung heraus zu gestalten.

Ich beschrieb danach den Werdegang der europäischen Krise, die politisches Vertrauen zerstört habe. Über Nacht hätten die europäischen Staatsführer die bestehenden Verträge gebrochen, um überschuldeten Euro-Staaten Geld zu geben. Dadurch sei auch das Vertrauen in die deutsche Bundesregierung und die CDU-Führung erschüttert worden. Ich erklärte dann, dass es der Sozialen Marktwirtschaft ähnlich ergangen sei: Die Politik habe sie für die Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht und entschieden, dass die Krise nur durch den Staat gelöst werden könnte. Dieses Misstrauensvotum habe die Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft rapide sinken lassen. 

Als Ergebnis stellte ich fest, dass der Vertrauensverlust gegenüber den europäischen Institutionen und die Abkehr von marktwirtschaftlichen Grundsätzen „parallel zur Krise der CDU als Volkspartei verläuft“. Für die Zukunft der CDU sah ich deshalb als entscheidend an, ob sie zu den vertraglichen Grundlagen in Europa und zur Sozialen Marktwirtschaft zurückfindet, oder ob sie den planwirtschaftlichen Rettungskonzepten der EU-Kommission weiter folgen will. Für mich stand fest, dass die CDU ihre alte Kraft nur mit einer vertragskonformen Europapolitik und einer marktkonformen Wirtschaftspolitik zurückgewinnen konnte.

MIT-Bundeskongress 2011

Der MIT-Bundeskongress 2011 fand im niederbayerischen Deggendorf, dem Tor zum Bayerischen Wald, statt. Zu diesem Kongress hatte auch Angela Merkel ihr Erscheinen angekündigt.

Den Delegierten wurde mit den Tagungsunterlagen auch eine von der MIT herausgegebene Sonderpublikation „Ordnungspolitik in Deutschland – Quo Vadis?“ ausgehändigt. Darin enthalten waren Beiträge aller CDU-Ministerpräsidenten und zahlreicher Persönlichkeiten, wie Dr. Patrick Adenauer, Roland Berger, Olaf Henkel, Prof. Hans-Werner Sinn, Prof. Starbatty pp., denen wir uns verbunden fühlten. Ich hatte für diese Publikation einen Beitrag über die „Väter der Sozialen Marktwirtschaft“ geschrieben. Natürlich sollte auch Angela Merkel ein Exemplar erhalten.

Unser Kongress fiel zeitlich mit dem Ende der ersten Halbzeit für die im Herbst 2009 gewählte bürgerliche Regierung zusammen. In meinem Rechenschaftsbericht erinnerte ich daran, dass wir zu Beginn dieser Regierungsperiode voller Hoffnungen und optimistisch waren. Im Koalitionsvertrag fanden sich viele unserer Kernforderungen wieder, und mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz wurde ein erster Schritt getan.

Dieser mittelstandspolitische Frühling hatte dann aber ein schnelles Ende. Um die Landtagswahl in NRW nicht zu gefährden, wurde politischer Stillstand angeordnet. „Asymmetrische Demobilisierung“ hieß die eingeübte Strategie mit dem Ergebnis, dass Jürgen Rüttgers die Wahl verlor. Das Zeitfenster für Reformen war danach geschlossen, weil SPD und Grünen den Bundesrat beherrschten.

Mit Beginn des Jahres 2010 drängte zudem die europäische Staatsschuldenkrise alles andere in den Hintergrund – was ebenfalls eine starke Annäherung an Positionen der Opposition zur Folge hatte. Den Anfang machte Griechenland, das nur mit Hilfe der übrigen Euro-Länder vor dem Staatsbankrott gerettet werden konnte. Als Portugal und Irland folgten, musste ein noch größerer Rettungsschirm aufgespannt werden, um auch die Zahlungsfähigkeit dieser Länder zu sichern. Dass vor diesem Hintergrund die im Koalitionsvertrag versprochene Steuersenkung einkassiert wurde, war jedenfalls nachvollziehbar.

Nach dem Unglück von Fukushima behandelte die Bundesregierung auch die Energiepolitik als Krisenfall. Nach der Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke folgte nur wenige Monate später eine Kehrtwende „im Schweinsgalopp“. Kraftwerke wurden stillgelegt und die Restlaufzeiten für die am Netz verbliebenen Werke deutlich verkürzt. Alles ohne Plan und Folgenabschätzung. Die Vision eines Zeitalters für erneuerbare Energien trat an die Stelle einer rationalen Politik. Die Gefahren für den Industriestandort Deutschland wurden dabei bewusst ausgeblendet. 

Als gefährdet sah ich auch den inneren Zusammenhalt der Union. Viele Stammwähler waren enttäuscht und kehrten der Partei den Rücken zu. Als wesentliche Gründe für den Vertrauensverlust nannte ich die mangelnde Verlässlichkeit der Parteiführung und den fehlenden ordnungspolitischen Kompass.

Zur Politik der MIT stellte ich dann fest, dass sie ihren Kurs in den letzten zwei Jahren konsequent beibehalten hatte. Dies hatte ihr nicht nur öffentlichen Zuspruch gebracht, sondern auch zu einer bemerkenswerten Geschlossenheit geführt. Wir waren das marktwirtschaftliche Gewissen der Union, wir waren stetiger Mahner mit dem Kompass in der Hand, bekanntermaßen auch bei Gegenwind.

Ich sagte den Delegierten, dass wir uns in diesem Sinne in den nächsten zwei Jahren auf die Bundestagswahl 2013 vorbereiten sollten, die „so oder so“ eine Zäsur für die Union sein würde. Hierbei könnten wir ohne Bruch – aber mit der notwendigen Anpassungsfähigkeit – auf das zurückgreifen, was bisher geleistet worden war.

Ich gab dann bekannt, dass ich auf diesem Kongress noch einmal als Vorsitzender der MIT kandidieren wollte, aber im Jahr 2013 – endgültig – nicht mehr. In den nächsten zwei Jahren müsste deshalb die „Nachfolge der Führungsmannschaft ab dem Jahr 2013“ bestimmt werden. Das Stichwort sollte heißen: „Verjüngung!“

Nach meinem Rechenschaftsbericht wurde ich erneut zum Vorsitzenden der MIT gewählt. Die Wahl war für mich eine erneute Bestätigung. Von 475 gültigen Stimmen erhielt ich 462 Stimmen. Das waren mehr als 97 Prozent.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte vor meiner Wahl zu den Delegierten gesprochen. In ihrer Rede betont sie, dass Deutschland aus der Finanz- und Wirtschaftskrise stärker hervorgegangen sei, als es hineingegangen ist. Dies sei den klugen Entscheidungen der Bundesregierung zu verdanken, aber auch dem deutschen Mittelstand, der gerade in Zeiten der Krise viel Mut und Durchhaltevermögen bewiesen habe. Sie lobte die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und ging auch auf die Debatte zum Mindestlohn ein. Laut Tagungsprotokoll wollte sie „sich auf dem kommenden Parteitag gegen einen allgemein verbindlichen, flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn aussprechen. Vielmehr sollten sich dort, wo es keine Regelungen gibt, die Tarifparteien untereinander einigen. Nur wenn dies nicht erfolgt, soll hier eine Kommission tätig werden.“

Diese Passage aus der Rede von Angela Merkel merkte ich mir, weil die Sozialausschüsse den nächsten CDU-Parteitag nutzen wollten, um den Boden für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns vorzubereiten. 

Zu den besonderen Ereignissen dieses Kongresses gehörte für mich der Besuch des BMW-Werks in Dingolfingen. BWM gehörte zu unseren Sponsoren und hatte Interessierte zu einer exklusiven Werksbesichtigung mit anschließendem Abendessen eingeladen. Was mich an dieser Werksbesichtigung besonders beeindruckte, war das von BMW organisierte Transportsystem für ihre Mitarbeiter, die in den Städten und Dörfern der Region rund um Dingolfingen wohnten.

Den Transport dieser Mitarbeiter von ihrem Wohnort zum BMW-Werk und zurück besorgten Busse von BMW. Auf meine Frage an den Geschäftsführer, ob dies betriebswirtschaftlich sinnvoll sei, bekam ich zur Antwort, dass man sich für diese Lösung entschieden habe, um die Mitarbeiter nicht aus ihrem vertrauten Umfeld herauszureißen. Eine gute und wohl auch typisch bayerische Entscheidung!

Die Mindestlohn-Frage

Die Geschichte des gesetzlichen Mindestlohns ist relativ jung. Noch zu Zeiten der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder setzten Gewerkschaften und Sozialdemokraten auf die bewährte Tarifautonomie. Nur in der Bauwirtschaft gab es aufgrund des Entsendegesetzes seit 1997 tariflich festgesetzte Mindestlöhne, um die deutschen Bauarbeiter vor ausländischen Dumpinglöhnen zu schützen.

Erst als die Europäische Union am 1. Mai 2004 um acht osteuropäische Staaten erweitert wurde, kam Bewegung in die Debatte. Handwerk und Gewerkschaften waren alarmiert und forderten die Politik auf, den deutschen Arbeitsmarkt vor der Lohnkonkurrenz aus dem Osten zu schützen. Diskutiert wurden anfangs ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn oder Branchenmindestlöhne nach dem Entsendegesetz. Nach der Bundestagswahl 2005 verständigten sich Union und SPD auf Branchenmindestlöhne und vereinbarten im Koalitionsvertrag, unter welchen Voraussetzungen diese möglich sein sollten. Es musste erstens ein flächendeckender Tarifvertrag vorliegen. Dieser musste zweitens durch den Tarifausschuss für allgemeinverbindlich erklärt worden sein. Und drittens mussten durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte „soziale Verwerfungen“ nachgewiesen werden.

Schon aufgrund dieser Vereinbarung wurden von der großen Koalition für verschiedene Branchen Mindestlöhne festgesetzt. Schließlich vereinbarte der Koalitionsausschuss im Juni 2007, dass auch ohne Vorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen Mindestlöhne festgesetzt werden konnten, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wurde. Auf diesem Wege wurden für fünf Branchen (mit insgesamt 4,5 Millionen Arbeitnehmern) Mindestlöhne gesetzlich festgesetzt.

Diese Praxis endete mit der Bildung der schwarz-gelben Koalition im Jahr 2009. Um die Festsetzung weiterer Branchenmindestlöhne zu stoppen, bestand die FDP darauf, dass über „Allgemeinverbindlichkeitserklärungen“ von Tarifverträgen in der Koalition Einvernehmen herzustellen war. Branchenmindestlöhne auf Grund des Entsendegesetzes konnten danach nur noch mit Zustimmung der FDP beschlossen werden.

Außerdem hatte ich mit Karl-Josef Laumann, Chef des Arbeitnehmerflügels in der CDU (CDA), vor der Bundestagswahl 2009 in einem gemeinsamen Papier zum Mindestlohn folgendes vereinbart: „Die Tarifautonomie kann am ehesten  Löhne sicherstellen, von denen man den Lebensunterhalt eigenständig bestreiten kann, und die zugleich für den Arbeitgeber wirtschaftlich tragbar sind. Einen staatlich begrenzten Mindestlohn lehnen wir entschieden ab. Eine Kombination aus Lohn und Transferleistungen kann für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern das Mindesteinkommen sichern.“ Diese Vereinbarung bestätigte das Konzept des „Mindesteinkommens“, das die CDU auf mehreren Parteitagen beschlossen hatte.

Unter dem Eindruck der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkte sich aber der innerparteiliche Druck auf die Unionsführung, die ablehnende Haltung zu Mindestlöhnen zu korrigieren. Dieser Druck wurde von Karl-Josef Laumann vor dem Parteitag 2011 in Leipzig mit Unterstützung des Generalsekretärs der CDU, Hermann Gröhe, über die Orts- und Kreisverbände der CDA systematisch aufgebaut. Das Ziel war es, den Parteitag beschließen zu lassen, dass zukünftig statt vieler verschiedener Branchenmindestlöhne ein allgemeiner und einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt werden konnte.

Mit seiner Kampagne machte Laumann das Gegenteil von dem, was CDA und MIT gemeinsam vor der Wahl beschlossen hatten. Außerdem stellte er sich (scheinbar) gegen die Bundeskanzlerin, die den Delegierten auf dem Bundeskongress der MIT in Deggendorf versprochen hatte: „Ich möchte keinen flächendeckenden, gesetzlich festgesetzten einheitlichen Mindestlohn, weil die Gegebenheiten in Deutschland sehr unterschiedlich sind.“ Karl-Josef Laumann ließ sich dadurch nicht von seinem Ziel abbringen und erhöhte den Druck: „Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel regionale und branchendifferenzierte Lohnuntergrenzen will, ist das keine verbindliche Lohnuntergrenze. Als Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) werde ich auf dem Bundesparteitag in Leipzig für das Konzept kämpfen, das wir in der nordrhein-westfälischen CDU entwickelt haben.“ Offensichtlich war er sich seiner Sache sicher, was ohne Einbindung der Bundeskanzlerin und des Generalsekretärs nicht denkbar war.

Dann kam es buchstäblich in der allerletzten Sekunde zu dem Versuch, die unterschiedlichen Positionen des Wirtschafts- und Arbeitnehmerflügels zusammenzuführen. Das Ergebnis war der folgende vom Bundesvorstand der CDU beschlossene Kompromiss: „Die CDU hält es für notwendig, eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tariflich festgelegter Lohn nicht existiert. Die Lohnuntergrenze wird durch eine Kommission der Tarifpartner festgelegt und soll sich an den für allgemeinverbindlich erklärten tariflich vereinbarten Lohnuntergrenzen orientieren. Die Festlegung von Einzelheiten und weiteren Differenzierungen obliegt der Kommission. Wir wollen eine durch Tarifpartner bestimmte und damit marktwirtschaftlich organisierte Lohnuntergrenze und keinen politischen Mindestlohn.“

So lautete auch der auf dem Parteitag mit großer Mehrheit gefasste Beschluss. Damit war der Streit aber nicht beendet: Denn Karl Josef Laumann behauptete in seiner Rede vor den Delegierten des Parteitages, der Beschluss enthalte die Zustimmung zu einem „einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn“. Dafür wurde er frenetisch gefeiert. Als Unionsfraktionsvize Michael Fuchs, der den Kompromiss für den Wirtschaftsflügel mitverhandelt hatte, von Journalisten gefragt wurde, warum er nicht seine von Laumann abweichende Meinung auf dem Parteitag dargestellt habe, antwortete er: „Das wollte ich ja! Ich stand auch auf der Rednerliste. Aber plötzlich hieß es: Schluss der Debatte! Die Debatte ist unglücklich gelaufen.“

Ganz anders reagierte der Sieger Karl-Josef Laumann: „Der Leipziger Parteitag 2003 war die größte Niederlage der Christlich-Sozialen in der CDU. Die CDU hat sich damals ein Programm gegeben, das uns auf Dauer zu einer besseren FDP gemacht hätte. Wir haben dann 2005 bei der Bundestagswahl erleben müssen, dass eine völlig abgewirtschaftete rot-grüne Regierung beinahe noch einmal bestätigt worden wäre. Es ist gut, dass die CDU nun zu ihrer bewährten Tradition zurückfindet. Wenn die Finanzkrise einen guten Effekt hat, ist es dieser: Sie hat diese neoliberale Denke weggefegt.“

Die Partei war begeistert. Die SPD ebenfalls. Angela Merkel und ihr Generalsekretär hatten längst erkannt, dass der Wahlkampf 2013 eine Gerechtigkeitsauseinandersetzung werden würde: Milliarden für Banken und Milliarden für die Südeuropäer, aber Hungerlöhne für deutsche Arbeitnehmer? Dort die internationale Solidarität und hier der Weg zum Jobcenter, um den kargen Lohn aufstocken zu lassen? Diese offene Flanke gegenüber der SPD und den Linken wollten sie schließen. Dafür kam ihnen Karl-Josef Laumann mit seiner Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn gerade recht.

Der Mindestlohn trat am 1. Januar 2015 in Kraft. Im Koalitionsvertrag 2013 zwischen Union und SPD hieß es dazu: „Durch die Einführung eines allgemein verbindlichen Mindestlohns soll ein angemessener Mindestschutz für Arbeitnehmer sichergestellt werden. Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt.“ Andrea Nahles (SPD), Ministerin für Arbeit und Soziales, jubelte: „Der Mindestlohn beglückt die Arbeitnehmer und vernichtet keine Jobs.“


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