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Erlebte Wirtschaftspolitik : Energiewende und Rettungsschirm (2011)
05.03.2019 18:37 (1783 x gelesen)

Energiewende und Rettungsschirm

(2011)

In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse im Jahr 2011.

Merkels Energiewende

Ende März 2011 standen in Baden-Württemberg Landtagswahlen an. Im Wahlkampf stand die nach der Landtagswahl 2006 gebildete Koalition aus CDU und FDP unter erheblichem Druck, weil die oppositionellen Grünen bei den Umfragen deutlich zulegten. Stefan Mappus (CDU) hatte erst 2010 das Amt des Ministerpräsidenten von Günter Oettinger übernommen

Am Freitag, dem 11. März 2011, erschütterte um 14.46 Uhr Ortszeit ein Beben der Stärke 9,0 den Nordosten von Japan. Das Kernkraftwerk Fukushima schaltete sich automatisch ab, und Dieselgeneratoren übernahmen die Notkühlung der Generatoren. Doch dann kam ein gewaltiger Tsunami und spülte die Dieselgeneratoren ins Meer. Ohne Kühlung waren die heißen Brennstäbe sich selbst überlassen, so dass sich im Reaktorgebäude explosiver Wasserstoff sammelte. Der Betreiber Tepco versuchte vergeblich, durch Ablassen der Gase eine drohende Explosion zu verhindern. Nacheinander kam es in mehreren Blöcken des Kraftwerks zu Wasserstoffexplosionen und zur Freisetzung radioaktiver Substanzen. Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf.

Die politische Führung in Berlin reagierte auf die Katastrophe mit hektischer Betriebsamkeit. Umweltminister Robert Röttgen (CDU) setzte noch am selben Tag einen Krisenstab ein. „Alles hat sich radikal geändert“, sagte er. Am selben Abend gab es ein Treffen im Kanzleramt, um die Frage zu erörtern, wie man auf die Katastrophe „politisch“ reagieren müsse. In Baden-Württemberg befanden sich die Grünen im Aufwind. Man war sich im Kanzleramt einig, dass die Katastrophe ein „Umdenken“ erforderte und schnell etwas gegen die Verunsicherung der Bevölkerung, von der die Wahlkämpfer berichteten, getan werden müsste.

Am nächsten Tag, einem Samstag, telefonierte die Kanzlerin mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus, der auf Signale aus Berlin wartete, um sich gegen die Attacken der Grünen zu wehren. Dazu trafen sich am selben Abend wiederum führende Politiker der schwarz-gelben Koalition im Kanzleramt. Man verständigte sich darauf, dass die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke, die wenige Monate zuvor beschlossen worden war, angesichts der neuen Lage „nicht vollzogen“ werden sollte. Außerdem sollten einige Kraftwerke „vom Netz“, um deutlich zu machen, dass die Union die Sorgen der Menschen ernst nahm. Damit war das sogenannte „Moratorium“ geboren, mit dem sieben ältere Atomkraftwerke, befristet für drei Monate, stillgelegt wurden.

Am darauffolgenden Montag teilte Angela Merkel der Öffentlichkeit diese Entscheidung mit und erklärte: „Ich habe eine neue Bewertung vorgenommen und meine Haltung zur Kernenergie verändert.“ In Wirklichkeit ging es ihr aber nicht um eine neue Bewertung atomarer Gefahren, sondern um die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011. Die gewählte Begründung sollte traditionelle CDU-Wähler davon abhalten, diesmal die Grünen zu wählen. Herbert Kremp schrieb zu dieser Motivation in der Tageszeitung DIE WELT: „Frau Merkel bemerkte als Physikerin auf einmal eine unerträgliche Gefahr, die sie kurz zuvor als Kanzlerin für kalkulierbar und überschaubar eingeschätzt hatte. In Wirklichkeit herrschte ein banaleres Motiv vor, das aber wenigsten einsichtig war. Ziel war es, den Schaden bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg in Grenzen zu halten.“

Die bevorstehende Landtagswahl sorgte dafür, dass in der CDU kein Widerstand aufkommen konnte. Für längere Debatten in der Fraktion oder der Partei war angesichts des Wahltermins keine Zeit mehr. Von der Führungsspitze wurde zudem ein gewaltiger Druck aufgebaut. Alle wurden „ohne Wenn und Aber“ auf die neue Linie eingeschworen. Die Skeptiker und Kritiker brachte man mit einem „erbarmungslosen Konformitätsdruck“ zum Schweigen. Der CDU-Abgeordnete Arnold Vaatz beschrieb seine damalige Situation folgendermaßen: „Die Strafe für Widerspruch ist heute allerdings (zum Glück noch nicht!) Haft oder Liquidation, sondern nur Verbannung aus der medialen Relevanzzone. Leider ist dies als Höchststrafe für jene hinreichend, deren Existenzbedingung öffentliche Zustimmung ist. Dazu zählen in einer Demokratie ausnahmslos alle Politiker.“

Als Angela Merkel ihre Entscheidung im Bundesvorstand der CDU vorstellte, meldete sich neben mir nur Arnold Vaatz (MdB) mit einem kritischen Beitrag zu Wort. Eine ernsthafte Diskussion über die beschlossenen Maßnahmen fand jedoch in diesem höchsten Beschlussgremium der Partei nicht statt. Bis auf die genannten Personen akzeptierten alle Vorstandsmitglieder, was die Parteivorsitzende entschieden hatte. Denn Angela Merkel hatte deutlich gemacht, dass die „Energiewende“ nicht aufgehalten werden durfte.

Die mit dem Atom-Moratorium zusammenhängenden Rechtsfragen hatte die Bundesregierung jedoch nur oberflächlich geprüft. Angela Merkel war anfangs der Meinung: „Ich glaube, dass wir keine Gesetzesänderung brauchen.“ Umweltminister Norbert Röttgen berief sich auf das Atomgesetz, wonach Kernkraftwerke stillgelegt werden können, wenn sich „durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgüter ergeben können“. Dass eine solche Begründung nicht tragfähig war, ergab sich schon daraus, dass die deutschen Kraftwerke mit dem Unglück in Japan nichts zu tun hatten. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier bezeichnete das Moratorium deshalb als eine „illegale Maßnahme“. Ein Gesetz aussetzen könne nur das Bundesverfassungsgericht, aber nicht die Bundesregierung.

Trotz solcher Bedenken fanden die hastigen Entscheidungen der Bundesregierung in der Öffentlichkeit große Zustimmung, was die Bundesregierung in ihrem Vorgehen bestärkte. Die deutschen Medien berichteten über den Reaktorunfall nicht nur intensiver als ausländische Medien, sondern thematisierten vor allem die Kernenergie im eigenen Land. Japan schien aus Sicht vieler Journalisten nur das zu bestätigen, was man schon lange zu wissen glaubte, nämlich die Unbeherrschbarkeit der Kernenergie. Es war die von den Medien in der Bevölkerung verbreitete Angst vor einem Atomunfall, die dazu führte, dass die Entscheidung der Bundesregierung über den Atomausstieg nicht grundsätzlich infrage gestellt wurde.

Auch eine Debatte im Bundestag zu den von der Regierung getroffenen Entscheidungen hielt man in der Union für überflüssig. Man war sich ja parteiübergreifend über den beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie einig. Selbst die FDP war dafür, obgleich sie noch wenige Monate zuvor auf eine Verlängerung der Laufzeiten bestanden hatte. Unterstützung bekam Merkel vor allem von der SPD und den Grünen, die es kaum fassen konnten, dass eine CDU-Bundeskanzlerin eines ihrer wichtigsten Ziele, den Ausstieg aus der Atomwirtschaft, verwirklichte. Insofern waren die von Merkel getroffenen Entscheidungen in der Tat „alternativlos“.

Die Wahlnachlese

Nur mit der Landtagswahl in Baden-Württemberg klappe es nicht: CDU und FDP verloren zusammen über zehn Prozent der Wählerstimmen und waren damit zur Regierungsbildung nicht mehr fähig. Die Grünen gewannen 12,5 Prozent der Stimmen hinzu und konnten mit der SPD die neue Regierung bilden. Ministerpräsident wurde der Grüne Winfried Kretschmann. Für Angela Merkel und die CDU war dies „ein schmerzlicher Tag“. Nach 58-jähriger Regierungszeit in Baden-Württemberg fand sich die CDU plötzlich in der Opposition wieder. Eine Erklärung dafür war jedoch schnell gefunden: „Schuld war Japan.“

Diesen Grund mochten jedoch nicht alle in der CDU akzeptieren. „Das bricht der CDU das Rückgrat“, meinte Friedrich Merz (CDU). Die Wähler hätten Merkel ihre abrupte Wende in der Atompolitik nicht geglaubt. „Wer sich auf eine Panikwelle setzt, darf sich nicht wundern, wenn er davon überrollt wird.“ So ähnlich äußerte sich auch der Vorsitzende der bayerischen Mittelstandsunion, Hans Michelbach: „Die Verunsicherung war im Wahlkampf in Baden-Württemberg mit Händen zu greifen.“ Ich stimmte ihnen zu: „Es gibt einen massiven Vertrauensverlust in die bürgerlichen Parteien. Die Menschen wissen nicht mehr, wofür diese Regierungskoalition steht. Erst werden die Laufzeiten verlängert, dann wird diese Entscheidung wieder ausgesetzt. Die Menschen fragen sich: Wissen die eigentlich noch, was sie da tun.“

Der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand (PKM), Michael Fuchs, erklärte den Machtverlust mit einer Überforderung der Unionswähler: „Abschaffung der Wehrpflicht, Euro-Rettung, Libyen-Enthaltung und Atom-Moratorium – wir haben unseren Wählern ein bisschen zu viel an grundsätzlichen Umwälzungen zugemutet.“ Das alles sei „zu wenig erklärt worden“, sagte er. Die designierte saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer warnte im Bundesvorstand der CDU ebenfalls vor einem zu schnellen Tempo beim Ausstieg aus der Kernenergie. Für die CDU müsse das Industrieland Deutschland im Fokus stehen.

Kurt Joachim Lauk, Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, kritisierte, dass sich die öffentliche Debatte über die Energiepolitik auf die Kernenergie konzentriert habe. Die „massiven Investitionen“ in erneuerbare Energien, auch die Notwendigkeit der Wirtschaftlichkeit der Energie, blieben ausgeblendet. Die CDU habe sich in diese Verengung der Energiedebatte treiben lassen. Das sei von den Grünen und SPD instrumentalisiert und zur Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft genutzt worden.

Die zu erwartende große Abrechnung mit der Kanzlerin blieb jedoch aus. Merkel verschärfte sogar das Tempo und setzte entschlossen auf einen radikalen Schwenk in der Energiepolitik, statt die geäußerten Bedenken auf sich wirken zu lassen. In ungewöhnlich deutlicher Weise sprach sie sich für einen schnellen Ausstieg Deutschlands aus der Nutzung der Kernenergie aus. Die Bundesregierung arbeite an einer kompletten Neuausrichtung ihrer Atom- und Energiepolitik, sagte sie im CDU-Bundesvorstand. Am Ende des Moratoriums für die Laufzeitverlängerung würde ein völlig verändertes Konzept stehen.

Dementsprechend veränderten sich auch die Wortbeiträge im CDU-Bundesvorstand. Kritische Äußerungen gab es nur noch von Seiten des Wirtschaftsflügels. Bekannte Befürworter der Atomindustrie, wie der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder, meldeten sich nicht mehr zu Wort. An ihre Stelle trat Umweltminister Norbert Röttgen, der sich für die schnellstmögliche Abkehr von der Kernkraft einsetzte.

Dauerhafter Rettungsschirm

Der am 7. Mai 2010 auf dem EU-Gipfel beschlossene Rettungsschirm (EFSF) war auf drei Jahre befristet. Angela Merkel sagte mir dazu Mitte 2010 in einer CDU-Bundesvorstandssitzung, dass die „Befristung fest vereinbart“ wäre. Im Deutschen Bundestag erklärte sie sogar noch am 27. Oktober 2010, dass der vorläufige Rettungsschirm planmäßig im Jahr 2013 auslaufen werde. Vier Wochen später galt dies aber schon nicht mehr. Denn in Brüssel hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass der EFSF durch einen dauerhaften Rettungsschirm mit deutlich erweiterten Kompetenzen ersetzt werden sollte.

Hierzu beschloss der Europäische Rat am 25. März 2011 zu den Europäischen Verträgen folgende Vertragsergänzung:

„Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“

Zweck dieser Vertragsergänzung war es, dem dauerhaften Rettungsschirm eine eindeutige Rechtsgrundlage zu geben, um den Kritikern des Rettungskurses den Wind aus den Segeln zu nehmen. Vor allem Angela Merkel wollte dem Vorwurf, sie habe schon mit dem vorläufigen Rettungsschirm gegen europäisches Recht verstoßen, nicht noch einmal ausgesetzt sein.

Sie hatte deshalb Nicolas Sarkosy auf dem „Spaziergang in Deauville“ vorgeschlagen, in den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ eine entsprechende Ermächtigung aufzunehmen. Mit der Ergänzung des Artikels 136 AEUV sollte dieses Problem ausgeräumt werden. Nicolas Sarkosy tat ihr den Gefallen, verlangte aber, dass Deutschland im Gegenzug auf eine Verschärfung des Stabilitätspaktes, insbesondere auf automatische Sanktionen, verzichtete. Damit erklärte sich Angela Merkel einverstanden. 

Anfang 2011 begannen in Brüssel die Verhandlungen über die Einrichtung eines dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), der den vorläufigen Rettungsschirme (EFSF) aus dem Vorjahr ablösen sollte. Wir waren über diesen Schritt äußerst besorgt, weil die Europäische Kommission damit das Ziel verband, ihre Kompetenzen in Richtung einer europäischen Haftungs- und Transfergemeinschaft zu erweitern. Wir verlangten deshalb für den geplanten ESM in einem MIT-Positionspapier eindeutige Vorgaben:

Das „Bail-Out-Verbot muss bestehen bleiben“, hieß es darin. Kein Land sollte direkt oder indirekt für die Schulden eines anderen Landes haften müssen. „Wer über seinen Haushalt entscheidet, muss auch für die aufgenommenen Schulden allein eintreten“. Die Ausgabe von Euro-Bonds und der Ankauf von Staatsschulden sollten deshalb für den ESM ausgeschlossen werden. Außerdem forderten wir, dass ein zukünftiger ESM die Möglichkeit einer Staatsinsolvenz mit Gläubigerbeteiligung vorsehen musste. Die Finanzhilfen sollten „nur als letztes Mittel (ultima ratio) mit strengen Auflagen gegeben werden“, lautete eine weitere Forderung. Im Übrigen sollten Finanzhilfen „länderabhängige Risikoprämien und Zinssätze nicht beseitigen, um Konsolidierungsanreize zu setzen“. Nach unserer Meinung würde ansonsten faktisch eine Haftungsgemeinschaft hergestellt werden.

Unterstützung bekamen wir vor allem vom Wirtschaftsrat der CDU. Außerdem gab der Deutsche Bundestag der Bundesregierung mit einem Beschluss vom 17. März 2011 für die Verhandlungen verbindliche Richtlinien an die Hand. Denn es gab inzwischen auch in den Fraktionen von Union und FDP deutliche Vorbehalte gegenüber dem Rettungskurs der Bundesregierung.

Nach den Richtlinien sollte es das Ziel aller zukünftigen Hilfsprogramme sein, die Haushaltsdisziplin der Schuldnerländer zu verbessern und keine Anreize für die Fortsetzung des Schuldenkurses zu bieten. Im Sinne unseres Positionspapiers sollten „länderabhängige Zinssätze“ und „Marktbewertungen“ bei den Schuldnern für Konsolidierungsanreize sorgen. Der Beschluss sah außerdem vor, dass Hilfen nur im „äußersten Notfall“ gewährt werden durften. „Gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme“ sollte es nach den Vorstellungen der Parlamentarier nicht mehr geben.

Die endgültigen Verhandlungen über den geplanten (dauerhaften) Rettungsschirm ESM fanden auf dem Euro-Gipfel am 21. Juli 2011 statt. Die von den Staats- und Regierungschefs gefassten Beschlüsse gingen jedoch weit über das hinaus, was der Deutsche Bundestag in seinem Richtlinien-Beschluss vorgegeben hatte:

So beschloss der Gipfel, dass das Hilfsprogramm für Griechenland um weitere 109 Mrd. Euro aufgestockt werden sollte. Die neuen Kredite an Griechenland sollten zu Zinssätzen von 3,5 Prozent und mit Laufzeiten bis zu 30 Jahren ausgereicht werden. Solche Konditionen lagen weit unter den vom Bundestag geforderten „Marktbewertungen“. Darüber hinaus sollten die Interventionsinstrumente des Euro-Krisenfonds deutlich ausgeweitet werden. Er sollte die Möglichkeit erhalten, auch „präventiv tätig“ zu werden, also nicht nur im „äußersten Notfall“, wie es der Bundestag beschlossen hatte. Weiter wurde der Fonds ermächtigt, auf dem Sekundärmarkt Anleihen von Krisenländern anzukaufen, obgleich der Bundestag ein „gemeinsames Schuldenaufkaufprogramm“ ausgeschlossen hatte.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages hätten deshalb allen Grund gehabt, die Beschlüsse des Euro-Gipfels abzulehnen. In einem Interview des Südwestrundfunks forderte ich deshalb die Unions-Abgeordneten zur Ablehnung der Beschlüsse des Euro-Gipfels auf. Merkel habe mit ihren Zusagen auf dem EU-Gipfel gegen den Richtlinien- Beschluss verstoßen. Demnach wäre eine Zustimmung zum ESM nicht möglich. Bei einer so wichtigen Frage dürfte auch der Fraktionszwang nicht gelten. 

Mir war klar, dass es für Merkel um sehr viel ging, „wenn sie die Koalition nicht hinter sich“ bringen würde. In der Tat war anfangs nicht klar, wie viele Abgeordnete ihr nicht folgen würden. Als CSU und SPD jedoch Zustimmung signalisierten, war die Mehrheit gesichert. Daraufhin stimmten auch die Regierungsfraktionen CDU und FDP den Beschlüssen des Euro-Gipfels in der Bundestagssitzung am 23. September 2011 zu. Die Bundesregierung sollte nicht in Schwierigkeiten gebracht werden.     

Konservativer Frust

Der Wahlerfolg der Grünen in Baden-Württemberg löste in Teilen der CDU-Spitze euphorische Reaktionen aus. Im Bundestag schwärmte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) vom schönen, neuen, grünen Deutschland nach der Energiewende. Der CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe schrieb, CDU-Themen seien künftig „der Klimawandel“, „die Integration“ und „neue Verkehrskonzepte“. Der ehemalige CDU-Bundesgeschäftsführer Peter Radunski forderte seine Partei auf, sich für Bündnisse mit den Grünen auf Bundesebene zu öffnen. „Schwarz-Grün ist große Oper. Sie muss gut inszeniert, dargestellt und gespielt werden.“

Was die CDU-Basis von solchen Schwärmereien hielt, wurde überdeutlich, als sich Mitte 2011 etwa 150 Kreisvorsitzende der CDU im Atrium des Konrad-Adenauer-Hauses versammelten, um sich von der Bundeskanzlerin die Griechenland-Rettung und Energiewende sowie den Mitgliederschwund erklären zu lassen. Es war nicht so, dass Angela Merkel für ihr Handeln keine Gründe zu bieten hatte. Die Kreisvorsitzenden wurden zu den politischen Themen über viele Details informiert, zu dem generellen Politikstil der Kanzlerin erfuhren sie aber nur, dass die Bundesregierung „auf Sicht fahren und sich immer wieder revidieren“ müsste.  Denn „die Welt ist aus den Fugen.“ Nach Fukushima könnte keiner mehr behaupten, dass unwahrscheinliche Dinge nicht passieren könnten. Darauf müsste sie sich als Bundeskanzlerin einrichten.

Vielen Kreisvorsitzenden genügte eine solche Erklärung nicht. Der Vorsitzende aus Paderborn fragte, ob es in Sachen Euro und Atom kein „Haltbarkeitsdatum“ für Parteibeschlüsse mehr gäbe. Die Kreisvorsitzende aus Göttingen monierte, vor einem halben Jahr hätten die Mitglieder für die Laufzeitverlängerung „wie Löwen gekämpft“, jetzt müsste man ihnen das Gegenteil plausibel machen.  Der Vorsitzende aus Herford kritisierte, dass der „Markenkern“ der CDU nicht mehr zu entdecken wäre. Die Mitglieder fänden sich in der Regierungspolitik nicht wieder und die Wähler schon gar nicht. Der Vorsitzende aus Berlin bemängelte am Regierungsstil der Bundeskanzlerin, dass „der Überbau und die Leitgedanken“ fehlten.

Viele prominente CDU-Mitglieder aus dem liberal-konservativen Lager äußerten sich in ähnlicher Weise. Wilfried Scharnagl, CSU-Urgestein und Publizist, warnte im Focus davor, die Wahlniederlage in Baden-Württemberg monokausal mit Fukushima zu erklären, weil die Stimmung schon vorher kritisch war. An der Basis der Union rumore es gewaltig, warnte Scharnagel. Bürgerliche Politik zeichne sich dadurch aus, den Menschen den Zusammenhang zwischen Wort und Tat, zwischen Versprechen und Halten überzeugend und glaubwürdig zu demonstrieren, mahnte er. Auch in unbequemen Zeiten und bei Gegenwind ginge es darum, Kurs zu halten, die politische Meinungsführerschaft zu behaupten und die Richtung zu bestimmen.

Alexander Gauland und Christian Wagner

Aufschlussreich ist auch, was Alexander Gauland, damals noch Mitglied der CDU, in der Tageszeitung DIE WELT vom 24. Juni 2011 über den Zustand der CDU schrieb:

Er wäre über 40 Jahre überzeugtes Mitglied der CDU, weil Westbindung, Bundeswehr, Marktwirtschaft und eine pragmatische Gesellschaftspolitik die Säulen waren, auf die man sich stützen konnte. Diese Union wäre jedoch Geschichte. Denn Angela Merkel hätte es geschafft, aus einer Partei mit konservativen, liberalen und sozialen Inhalten „ein ideologisches Nichts zu zaubern, eine Organisation zum Machterhalt“, ohne dass man noch wüsste, wofür und wogegen. Die Union hätte nur noch das Ziel, an der Macht zu bleiben, koste es, was es wolle, und mit welchen Inhalten auch immer, hieß es in dem Artikel.

Selbst das christliche Menschenbild, „das sowohl bei der Verteidigung wie bei der Abschaffung der Wehrpflicht beschworen werde, bei der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken wie beim sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie“, hätte die CDU für den Machterhalt geopfert. Natürlich wäre die Wehrpflicht kein christdemokratisches Parteidogma, aber die Verteidigungsfähigkeit des Landes gehörte zu den Grundideen einer konservativen Partei. Das gleiche Handlungsmuster der Bundeskanzlerin fände man auch bei der beschleunigten Energiewende. Angela Merkel hätte sich „von der kurzzeitigen Aufwallung der öffentlichen Meinung“ zu Maßnahmen treiben lassen, die weder durchdacht noch rational begründbar wären. Merkel wollte die Energiewende beschleunigen, obwohl weder die technischen noch die strukturellen Voraussetzungen „für einen alternativen Energiepfad vorhanden oder zu schaffen“ wären, schrieb Gauland.

Die Union wäre auf fast allen Feldern der Politik ohne Kompass unterwegs, fasste Alexander Gauland seine Kritik zusammen. Die Union hätte „ihre Inhalte kopflos preisgegeben, statt sie neuen Herausforderungen anzupassen, und damit ihre Seele verloren. Sie wirkt wie eine antike Ruine – von außen noch prächtig anzuschauen, aber innen wüst und leer“.

Es war der Abschiedsbrief eines langjährigen CDU-Mitglieds, dem die Partei fremd geworden war. Was folgte ist bekannt: Gauland trat aus der CDU aus und gründete im Jahr 2013 mit Gleichgesinnten die Alternative für Deutschland (AfD) als neue Partei rechts von der Union.

Hätte dies verhindert werden können?

Christian Wagner, CDU-Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag, schrieb dazu in der FAS vom 5. Juni 2011: „Was ist zu tun? Im Zentrum der nächsten zweieinhalb Jahre bis zur Bundestagswahl muss eine klare strategische Ausrichtung der Union mit erkennbarer Programmatik stehen. Sie muss sich wieder deutlicher in Abgrenzung von SPD, Grünen und Linkspartei einsetzen für die Eigenverantwortung und die Mündigkeit des Bürgers, für Freiheit und soziale Marktwirtschaft, für Christentum und Nation, für innere und äußere Sicherheit, für Heimat, Familie und Tradition. Ihr Ziel muss es sein, die Millionen von ehemaligen Wählern, die zu Nichtwählern geworden sind, zurückzuholen.“

Christian Wagner warnte auch vor den Fehlern der Vergangenheit: „Die Anpassung der eigenen aktuellen Politik an künftige Koalitionsmöglichkeiten führt in die Niederlage. Demoskopie-geleiteter Opportunismus bei der Energiewende mästet die Grünen. Nicht ein taktisches Geschäftsmodell ist gefordert, sondern geistige Führung. Profilierte und erfolgreiche Volkspartei kann nur sein, wer nicht in allen Themenfeldern die jeweils aktuelle Umfragemehrheit zu vertreten versucht. Nicht dem Zeitgeist hinterherzulaufen, sondern den Zeitgeist zu prägen, muss Anspruch politischer Führung sein.“ 
 


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