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Erlebte Wirtschaftspolitik : Der Wutanfall der Kanzlerin (2009)
13.01.2019 23:46 (1920 x gelesen)

Der Wutanfall der Kanzlerin

(2009)

In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse im Jahr 2009.

Bankenrettung

Der Zusammenbruch von Banken als Folge der Finanzkrise kam für die Berliner Politik überraschend. Zeit für langes Nachdenken und kritische Debatten gab es nicht. Angela Merkel und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) mussten schnell und effektiv handeln. Die Krise war die Stunde der Exekutive, nicht der Legislative. Dies bedeutete aber nicht, dass ordnungspolitische Grundsätze bedenkenlos über Bord geworfen werden durften.

Da von der Finanzkrise vor allem südeuropäische Banken betroffen waren, stellte sich als erstes die Frage, ob auf europäischer Ebene ein gemeinsamer Bankenrettungsfonds organisiert werden sollte. Ein solcher Vorschlag stand bei dem Treffen der wichtigsten Staats- und Regierungschefs der Euro-Staaten am 4. Oktober 2008 in Paris auf der Tagesordnung. Der Vorschlag scheiterte aber am deutschen Widerspruch, weil Angela Merkel die Risiken zu groß erschienen.  „Chacun sa merde“, soll Angela Merkel zur Begründung gesagt haben. Ein Vertreter der deutschen Delegation bestätigte diesen Sachverhalt später in folgender Version: „Ein jeder kehr´ vor seiner Tür, und rein ist jedes Stadtquartier.“

Als die deutsche Delegation aus Paris zurückkehrte, brannte in Berlin die Hütte lichterloh. Der Hypo Real Estate (HRE) drohte die Pleite, und beunruhigende Nachrichten gab es auch von anderen Banken. In aller Eile musste deshalb an einer „nationalen Rettung“ gearbeitet werden. Der Bankensektor sah sich nicht in der Lage, die notwendigen Mittel aufzubringen, um kollabierende Institute zu retten. „Leider gibt es ohne den Staat keine Lösung“, hatte Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, der Bundesregierung mitgeteilt. Dies kam einer Kapitulation gleich, und der Staat war gefordert.

Die Aufgabe des Bankenretters übernahm Finanzminister Peer Steinbrück (SPD): Zunächst verhandelte er mit Josef Ackermann als Vertreter des Bankensektors über das Rettungspaket für die HRE. 50 Mrd. Euro waren nötig, um die Bank vor der Insolvenz zu bewahren. Dann ließ Steinbrück mit Hilfe großer Beratungspraxen das Finanzmarktstabilisierungsgesetz entwerfen, auf dessen Grundlage der Bankenrettungsfonds (SoFFin) mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro eingerichtet wurde. Das Gesetz wurde vom Deutschen Bundestag bereits am 17. Oktober 2008 verabschiedet, so dass weiteren Banken in Not geholfen werden konnte.  Zweck der Finanzhilfen war es, das Vertrauen zwischen den Banken und das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte wiederherzustellen.

Die Finanzhilfen waren ein massiver Eingriff des Staates in die deutschen Kredit- und Kapitalmärkte. Ordnungspolitische Bedenken hatte ich aber nicht, weil jede Volkswirtschaft funktionierende Finanzmärkte benötigt und die Finanzmarktakteure nicht mehr in der Lage waren, die Funktionsfähigkeit des Finanzmarktes wiederherzustellen. Zum SoFFin sagte ich in einer Presseerklärung: „Es ist richtig, dass die aktuellen Liquiditäts- und Kapitalprobleme nicht fallweise, wie bei der Hypo Real Estate, sondern international abgestimmt für den gesamten Markt gelöst werden. Verschiedene Banken haben Liquiditätsprobleme, weil das Vertrauen im Inter-Banken-Verkehr verloren gegangen ist. Das Bürgschaftspaket des Bundes in Höhe von insgesamt 400 Mrd. Euro zugunsten von Kredit gebenden Banken ist ein geeignetes Instrument, dieses Vertrauen wiederherzustellen.“

Nicht überzeugend fand ich aber den gemeinsamen Auftritt von Angela Merkel und Peer Steinbrück am 5. Oktober 2005, bei dem sie vor den Medien folgende Erklärung abgaben: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“ Mit dieser Garantie sollten die Bevölkerung beruhigt und der Gefahr eines „Bankensturms“ vorgebeugt werden. Die Aktion war jedoch unnötig, weil es an 5. Oktober 2005 keine Anzeichen für einen Bankensturm gab. Die Garantie war zudem unseriös, weil die Bundesregierung gar nicht in der Lage war, sie im Ernstfall einzulösen.

Das Konjunkturpaket I

Unmittelbar auf die weltweite Finanzkrise folgte eine globale Wirtschaftskrise: Die wirtschaftliche Konjunktur stürzte schlagartig ab. Betroffen waren insbesondere die Exportwirtschaft und die Investitionsgüterindustrie. Schon zum Jahreswechsel 2008/2009 schickten zahlreiche Industriebetriebe in Deutschland ihre Mitarbeiter in die verlängerten Weihnachtsferien. Die Automobilbranche berichtete von einer „Talfahrt, wie sie in dieser Ausprägung und Geschwindigkeit noch nie vorher stattgefunden hat.“ Aufträge wurden über Nacht storniert, und die Umsätze gingen teilweise dramatisch zurück. Weil die Kosten aber weiterliefen, standen viele Unternehmen buchstäblich am Abgrund. Dabei konnte niemand sagen, wie lange die Krise andauern würde:  Die Optimisten prophezeiten eine schnelle Erholung, die Pessimisten erwarteten eine längere Durststrecke.

Bei mittelständischen Produktionsbetrieben, die ich in dieser Zeit besuchte, standen die Räder buchstäblich still. An den Maschinen wurden häufig nur noch Wartungsarbeiten durchgeführt. In der Verwaltung sah man kaum noch Personal. Die Unternehmen fuhren auf Sparflamme, um zu überleben. Möglich war das in vielen Fällen nur, weil die Eigentümer mit privaten Einlagen die Liquidität aufrecht erhielten. „Der aktuelle Abschwung ist rasanter und überraschender als wir das in der Vergangenheit kannten. Wir müssen jetzt schnell und heftig reagieren“, forderte ich von der Politik. 

Die Bundesregierung hatte jedoch ursprünglich gar nicht die Absicht, auf diese Krise mit staatlichen Konjunkturmaßnahmen zu reagieren. Insbesondere Finanzminister Peer Steinbrück war strikt dagegen: „Seit ich mit Konjunkturpaketen zu tun habe, also seit Ende der siebziger Jahre, haben sie nie den erhofften realen Effekt gehabt. Am Ende war der Staat nur noch höher verschuldet als vorher.“ Auch Angela Merkel sagte anfangs, Konjunkturmaßnahmen seien Strohfeuer; vorrangig müsste der Haushalt konsolidiert werden. Darin wurde sie von mir unterstützt: „Die MIT hält es für falsch, auf den Wirtschaftsabschwung in Form einer schuldenfinanzierten Ausgabenpolitik oder mit der punktuellen Subventionierung bestimmter Branchen zu reagieren.“ Ich sagte aber auch, dass die Bundesregierung angesichts der Intensität der Wirtschaftskrise nicht untätig bleiben dürfte und forderte „angebotspolitische Maßnahmen, die sich nachhaltig auf das Wirtschaftswachstum auswirken“. Dazu gehörten vor allem niedrigere Steuern sowie Investitionen in die Infrastruktur.

Mit gleicher Zielrichtung empfahl eine Gruppe deutscher Ökonomen in einem offenen Brief, auf die Krise nicht mit höheren Staatsausgaben, sondern mit Maßnahmen zur Stärkung der Wirtschaft zu reagieren. Sie forderten insbesondere die Senkung von Steuern und Abgaben, um die private Investitions- und Konsumnachfrage zu stärken. „Eine allgemeine Steuersenkung entfaltet eine stärkere Breitenwirkung als staatliche Investitionsprogramme, da diese überwiegend die Baukonjunktur begünstigen.“ Die Wissenschaftler konnten sich dabei auf die Ökonomen der OECD berufen, die ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen waren, dass Steuersenkungen „wirkungsvoller zur Nachfrageunterstützung“ wären als staatliche Infrastrukturinvestitionen. Letztere brauchten zu lange, bevor sie in Gang gesetzt werden konnten. 

Um die öffentliche Diskussion zu beruhigen, verständigte sich die große Koalition schließlich im November 2008 auf ein Konjunkturpaket im Volumen von 30 Mrd. Euro. Das Paket bestand aus einem Sammelsurium von „punktuellen Fördermaßnahmen ohne geschlossenes Gesamtkonzept“, bei dem wir die erforderliche Durchschlagskraft nicht erkennen konnten. Wir blieben deshalb bei unserer Forderung nach Steuersenkungen und Investitionen in die Infrastruktur. Die Bundesregierung meinte demgegenüber, dass sie alles Erforderlich getan hatte.

Untätiger Parteitag 

Vor diesem Hintergrund hielt die CDU am 30.11. – 2.12.2008 ihren Parteitag in Stuttgart ab. Angela Merkel wurde erneut zur Vorsitzenden der Partei gewählt. Außerdem wurde der von mir mitbearbeitete Leitantrag „Die Mitte stärken“ beraten und beschlossen. Zudem hatte die Parteiführung für den Parteitag einen Antrag zum Klimaschutz und einen weiteren Antrag zu den Perspektiven für Ostdeutschland vorbereiten lassen.

Ein Antragspapier des Bundesvorstandes zur aktuellen Finanz- und Konjunkturkrise gab es jedoch nicht. Der Parteitag blieb insoweit stumm. Angesichts der Summen, die für die Bankenrettung und Konjunkturstützung bereits beschlossen waren, musste ein solches Schweigen überraschen. Offensichtlich gab es in der Parteiführung keinen Wirtschaftspolitiker, der die Krise erklären und sagen konnte, wie man damit umzugehen hatte. Die CDU war auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik sprachlos geworden.  

Nur einige Abgeordnete aus dem CDU-Wirtschaftsflügel meldeten sich zu Wort und forderten, dass die Partei zumindest im Bereich der Steuern auf dem Parteitag Handlungsfähigkeit zeigen müsste. Um dem nachzukommen, ließ ich für die MIT den folgenden Initiativantrag vorbereiten:

„Die CDU ist der Überzeugung, dass die privaten Haushalte und Unternehmen im Rahmen eines Investitions- und Konjunkturprogramms, welches Anfang 2009 als Antwort auf die Wirtschaftskrise zu beschließen ist, von Steuern und Abgaben entlastet werden müssen.“

Über diesen Antrag kam es in der CDU-Bundesvorstandssitzung vor dem Parteitag zu einem bezeichnenden Showdown: Angesichts der drohenden Wirtschaftskrise plädierte ich für eine massive und sofortige Steuersenkung. „Wir müssen schnell was tun. Wenn, dann jetzt“, sagte ich. Als Angela Merkel und ihr Generalsekretär diesen Vorstoß - für mich überraschend - ablehnten, verstummten alle Vorstandsmitglieder, auch solche, die sich im Vorfeld für den Initiativantrag ausgesprochen hatten. Bei der Abstimmung waren es nur noch drei Aufrechte, die für Steuersenkungen stimmten. Damit hatte der Initiativantrag keine Chancen mehr, so dass ich auf ihn verzichtete. 

Streit um Steuersenkungen

Die Bundesregierung stimmte die Bürger zwar auf schwere Zeiten ein: „Wir müssen damit rechnen, dass das kommende Jahr, zumindest in den ersten Monaten, ein Jahr schlechter Nachrichten wird“, sagte die Bundeskanzlerin. „Wir sind in einer Rezession, und es liegt ein schweres Jahr 2009 vor uns“, wiederholte Peer Steinbrück. Aber die Bundesregierung tat nichts dagegen, weil sie sich nicht einig war, wie man auf die Konjunkturkrise reagieren sollte. Während die SPD die Rezession mit höheren Staatsausgaben (deficit spending) bekämpfen wollte, blieben viele in der Union dabei, dass man auf Steuerentlastungen nicht verzichten dürfte.

So sagte der CDU-Mittelstandspolitiker Michael Fuchs (MdB). „Wir müssen jetzt etwas tun, um die Binnenwirtschaft anzukurbeln. Deshalb sollten wir die Steuerbelastung für die Leistungsträger reduzieren.“ Auch Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) sprach sich für sofortige Steuersenkungen aus. „Der Konjunktur würde es helfen, wenn wir jetzt die Steuern für kleinere und mittlere Verdiener senken.“ Ähnlich äußerte sich der wirtschaftspolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion Laurenz Meyer. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun betonte: „Steuern runter ist das beste Wachstumsprogramm. Dabei darf es keinen Aufschub geben.“ Ich setzte mich ebenfalls für ein angebotsorientiertes Wachstumsprogramm ein, wovon zwei Drittel auf Steuersenkungen und ein Drittel auf Infrastrukturmaßnahmen entfallen sollten.

In dieser Debatte ging die Bundeskanzlerin in Rücksicht auf die SPD auf Tauchstation. „Wir gehen auf eine Wirtschaftsflaute zu, und die Kanzlerin gibt keine Richtung vor. Ich halte das für ein schweres Versäumnis“, sagte ich dem Spiegel. Merkel hätte auf dem CDU-Parteitag die Gelegenheit gehabt, ihr Konzept darzulegen, „stattdessen sagte sie, alle Optionen seien offen. Da fühlt sich doch jeder eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen.“

Die Vielstimmigkeit, mit der CDU und SPD auf die Wirtschaftskrise reagierten, spiegelte sich in den Ministerien. Das von Peer Steinbrück (SPD) geleitete Finanzministerium plädierte für kreditfinanzierte Investitionen des Staates in die Infrastruktur. Demgegenüber traten die Beamten des von Michael Glos (CSU) geführten Wirtschaftsministeriums für Steuerentlastungen ein, weil sie sowohl Leistungsanreize setzten als auch Potential für Nachfrage schafften.

„Am Ende wird der Streit zwischen SPD und Union, zwischen Finanz- und Wirtschaftsministerium wohl auf einen Kompromiss hinauslaufen, in dem die Lieblingsinstrumente beider Seiten versammelt sind: ein paar Konsumgutscheine, ein bisschen Investitionsprogramm, ein wenig Beitragsentlastung“, mutmaßte der SPIEGEL. „Krisen legen meist gnadenlos offen, in welcher Verfassung sich ein Land befindet, wie effizient sein politisches System arbeitet, wie zeitgemäß seine Strukturen sind“, fügte er hinzu. So kam es dann auch.

Das Konjunkturpaket II

Anfang Januar 2009 beschloss die Bundesregierung überraschend, dass ein zweites Konjunkturpaket im Volumen von 50 Milliarden Euro aufgelegt werden sollte. Noch kurz zuvor hatte sich Angela Merkel gegen „beliebige, breit gestreute Konjunkturprogramme“ gewandt und betont, der Staat dürfe sich nicht „im Bereich der Wirtschaft neue Aufgaben dauerhaft aneignen“. Aber plötzlich konnten die staatlichen Konjunkturmaßnahmen gar nicht wuchtig genug ausfallen. Der Grund für diesen Sinneswandel waren nicht neue Einsichten auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik, sondern die bevorstehende Landtagswahl in Hessen. „Die Wähler dürfen nicht glauben, die Krise sei uns egal. Sonst laufen sie scharenweise nach ganz links oder nach ganz rechts“, war die gemeinsame Sorge von CDU und SPD.

Im Zusammenhang mit den Beratungen zum zweiten Konjunkturpaket Anfang 2009 entbrannte erneut ein heftiger Streit um die Frage, ob die Senkung von Steuern und Abgaben Bestandteil des Konjunkturpakets sein sollten. Während die SPD strikt dagegen war, wollte die CSU das Konjunkturpaket nur mittragen, wenn darin auch Entlastungen verankert wurden. „Einem weiteren Impulspaket ohne Steuerentlastungen werden wir nicht zustimmen“, drohte der CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer. Auch in der CDU hielten viele schnelle Steuerentlastungen für notwendig, um das marktwirtschaftliche Profil der Partei nicht endgültig verschwinden zu lassen. Angela Merkel wollte das Thema Steuerentlastungen aber erst nach der Bundestagwahl 2009 behandeln, um das Koalitionsverhältnis zur SPD nicht zu stören.

Kernstück des zweiten Konjunkturprogramms war ein staatliches Investitionsprogramm von 18 Milliarden Euro für den Bildungsbereich und für die Infrastruktur. Ein weiterer Schwerpunkt des Programms bestand in der Förderung der Automobilindustrie mit Hilfe einer Abwrack- bzw. Umweltprämie. Zur Arbeitsplatzsicherung sah das Programm die Förderung von Kurzarbeit und Weiterbildung von Mitarbeitern vor. Außerdem wurde ein „Deutschlandfonds“ beschlossen, mit dem kriselnden Unternehmen ein Bürgschaftsrahmen über 100 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt wurde. Das gesamte Konjunkturpaket war kreditfinanziert. 

Über das zweite Konjunkturpaket wurde gefeilscht und entschieden. wie es der Spiegel gemutmaßt hatte: Zunächst verständigte man sich darüber, dass das Konjunkturpaket 50 Mrd. Euro umfassen sollte, aufgeteilt auf die Jahre 2009 und 2010 mit je 25 Mrd. Euro. Dann zog die Runde alles ab, was unstreitig war, vor allem die rund 18 Mrd. Euro für öffentliche Investitionen. Zum Schluss feilschte der Ausschuss um den verbliebenen Rest nach dem Motto: eine Hälfte Steuersenkung zum speziellen Wohl der CSU, eine Hälfte Abgabensenkung zur besonderen Freude der SPD. Dies waren für CSU und SPD jeweils 9 Mrd. Euro für zwei Jahre. Die CDU ging dabei leer aus und musste sich mit dem „Deutschlandfonds“ trösten.

Die Teilnehmer der Koalitionsrunde kommentierten das Ergebnis unterschiedlich: Der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier antwortete auf die Frage, ob 50 Mrd. Euro nicht zu wenig seien: „Man kann auch mit einem großen Konjunkturprogramm viel Unsinn beschließen“. Horst Seehofer fand die Gespräche sehr sachorientiert und hochprofessionell. „Auch der CSU-Vorsitzende ist zufrieden und glücklich“, sagte er. Wirtschaftsminister Michael Glos resümierte das Ergebnis kurz und knapp: „Es gab Kassler, Sauerkraut und Steuersenkungen“. Angela Merkel, die einmal gegen Steuersenkungen war, wurde von einer Journalistin gefragt, ob sie sich selbst als „Angela Mutlos“ oder als „Angela Mutig“ bezeichnen würde. „Also, erst mal bezeichne ich mich als Angela Merkel“, gab sie zurück. „Und die habe ich vor, auch noch ´ne Weile zu bleiben.“

Innerhalb der Union war das Echo geteilt. Der Präsident des Wirtschaftsrates der CDU, Kurt Lauk, äußerte sich überwiegend positiv: Er hob hervor, dass die Koalition mit der Förderung von Bildung, Infrastruktur und Innovation die richtigen Schwerpunkte gesetzt hätte. Er lobte auch die steuerlichen Erleichterungen. Als „Schönheitsfehler“ wertete er, dass sich die Koalition nicht auf ein Gesetz zur Beschleunigung von Investitionen geeinigt hätte.

Meine Stellungnahme fiel dagegen weniger positiv aus: Ich bemängelte, dass das Paket ein Kompromiss sei, der sich an den Parteilinien orientierte statt an den wirtschaftspolitischen Notwendigkeiten. Die geplanten Steuersenkungen seien zu gering und würden „nicht die notwendige Wirkung haben“, sagte ich der Financial Times Deutschland. Ich kritisierte auch das schuldenfinanzierte Investitionsprogramm und die Förderung der Automobilindustrie. „Die MIT hält es für falsch, auf den Wirtschaftsabschwung in Form einer schuldenfinanzierten Ausgabenpolitik oder mit der punktuellen Subventionierung bestimmter Branchen zu reagieren“, erklärte ich. Denn das Konjunkturpaket konnte nach meiner Auffassung „nur erfolgreich sein, wenn vor allem die privatwirtschaftlichen Kräfte mobilisiert werden. Bei Stärkung der Privatwirtschaft besteht die realistische Chance, dass kurzfristig geringere Einnahmen mittel- und langfristig aufgrund eines Selbstfinanzierungseffektes durch höhere Staatseinnahmen wieder ausgeglichen werden“.

Die maßgebenden Parteipolitiker waren jedoch nicht an langfristigem Wachstum, sondern an kurzfristig wirkenden Ausgabenprogrammen interessiert. Es war vor allem der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), der sich klar gegen Steuersenkungen aussprach. „Ich glaube nicht, dass jetzt die Zeit ist für Steuersenkungen, also in Wahrheit für große Steuerreformen. Wir brauchen jetzt Maßnahmen, die in den nächsten drei, vier, sechs Monaten wirken“, betonte er, wobei er vor allem seine Chancen bei der bevorstehenden Landtagswahl im Auge hatte. Dabei wurde er von Wolfgang Schäuble (CDU) unterstützt, der ebenfalls „eine Nachfragepolitik“ für zweckmäßig hielt. Deutlicher konnte man die „wachsende Sozialdemokratisierung der Union“ in der Wirtschaftspolitik nicht zum Ausdruck bringen. 

Im Rückblick ist festzustellen, dass die schnelle Erholung der deutschen Wirtschaft im Verlauf der Jahre 2009/2010 nicht den Konjunkturprogrammen, sondern in erster Linie den Unternehmen zu verdanken ist, die auf die Wirtschaftskrise klug und effektiv reagierten. Als ihre Umsätze plötzlich wegbrachen, senkten sie kurzfristig die Kosten. Sie reorganisierten die Betriebsabläufe und tätigten Investitionen, um produktiver und wettbewerbsfähiger zu werden. Ausbleibende Bankkredite wurden durch Kapitaleinlagen ersetzt. Mit den Betriebsräten trafen die Unternehmer Vereinbarungen über die Einführung von Kurzarbeit. Statt Kündigungen auszusprechen, wurden die Mitarbeiter flexibel eingesetzt oder fortgebildet. 

Der Wutanfall der Kanzlerin

Die FDP legte bei der Landtagswahl in Hessen Mitte Januar 2009 deutlich zu, während die CDU absolut Stimmen verlor. Das Wahlergebnis verschob die politischen Gewichte zugunsten der Liberalen, die plötzlich über den Bundesrat auch in die Bundespolitik hineinwirken konnten. Die Zeit des Durchregierens von Union und SPD war nach dem Wahlsieg der FDP in Hessen vorbei.

In der CDU-Spitze entstand angesichts des Wahlerfolges der Liberalen eine spürbare Nervosität. Auch Angela Merkel konnte ihre Verunsicherung nicht verbergen. Denn es gab in der Partei plötzlich Stimmen, die meinten, dass sich die CDU nicht zu weit vom marktliberalen Kurs entfernen sollte. Der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger warnte, die CDU sollte „alles tun, um die für uns erreichbaren Wähler durch ein klares Programm zu erreichen“. Bei der CSU gab es ähnliche Überlegungen: Das Thema Steuersenkungen dürfte man keinesfalls den Liberalen überlassen, hieß es.

In der ersten Sitzung des CDU-Vorstandes nach der Hessen-Wahl meldete ich mich zu Wort und sagte, dass „ich mich freue, dass die FDP so stark geworden sei“. Außerdem mahnte ich erneut Steuersenkungen an. In den USA wären spürbare Entlastungen geplant, warum das in Deutschland nicht möglich sein sollte, fragte ich die Bundeskanzlerin.

Diese an sich harmlose Äußerung führte bei Angela Merkel zu einem ungewöhnlichen Wutanfall:  Meine Behauptungen beruhten auf falschen Zahlen, meinte sie. Überhaupt ginge es nicht an, im Bundesvorstand dem Konjunkturpaket zuzustimmen, hinterher aber öffentlich dagegen zu wettern. Die meisten Mitglieder des Vorstandes klopften während dieser Kanonade zustimmend so auf den Tisch, dass die Kaffeetaschen klapperten. Jeder wollte im Angesicht der Chefin seinen größtmöglichen Widerspruch zu meinem Wortbeitrag demonstrieren.

Die plötzliche Dünnhäutigkeit der Bundeskanzlerin, die sich meine Einlassungen bislang stets ungerührt angehört hatte, zeigte mir, dass die politischen Ereignisse der letzten Monate an ihr nicht spurlos vorbeigegangen waren. In der Finanz- und Wirtschaftskrise hatte sich vieles aufgelöst, was einmal die Identität der CDU ausgemacht hatte. Die Bindungskraft der Union hatte deutlich nachgelassen, was sich an der Hessen-Wahl wieder gezeigt hatte. Die wirtschaftsliberalen und wertkonservativen Kreise in der Union fühlten sich vernachlässigt. Die ordnungspolitische Klarheit und wirtschaftspolitische Kompetenz der Partei waren verschwunden. Und es gab kein Rezept, mit dem die bevorstehende Bundestagswahl gewonnen werden konnte.

Als Vorsitzender der MIT sah ich meine Aufgabe darin, immer wieder auf diese Probleme aufmerksam zu machen, was mir inzwischen den Ruf des „schärfsten Kritikers“ der Bundeskanzlerin eingebracht hatte. Dies veranlasste den SPIEGEL, sich wie die SZ zuvor mit meiner Rolle in der CDU zu beschäftigen: „Das Erstaunlichste an Schlarmanns Aufstieg zum ersten Parteirebellen ist, dass er nichts Rebellenhaftes an sich hat. Er ist ein höflicher Rechtsanwalt von 69 Jahren, eisgraues Haar, dunkler Zweireiher, dazu ein Krawattenknoten, der auch zu später Stunde eng am Kragen sitzt. Aber gerade das macht die Sache für Merkel so heikel. Mit Schlarmann probt ein Bürgerlicher den Aufstand gegen eine bürgerliche Kanzlerin. Er ist ein Revoluzzer aus dem Herzen der CDU.“ 

Um zu erfahren, wie ein solcher „Aufstand gegen eine bürgerliche Kanzlerin“ an der Basis aussah, begleitete mich der Journalist René Pfister vom SPIEGEL auf einer Reise durch das Rheinland und schrieb darüber: „Schlarmanns Audi hält vor der Winzergenossenschaft Mayschoß, im Weinkeller soll er vor 100 CDU-Anhängern über die Lage der Partei reden. Es ist ein Ort, für den das Wort Gemütlichkeit erfunden wurde. Niedrige Decke, Kerzen, Männer mit stattlichen Bäuchen nippen Riesling. Schlarmanns Rede passt dorthin, behäbig fließt sie dahin, Steuern runter, Leistung muss sich wieder lohnen. Es ist nicht originell, es ist das Glaubensbekenntnis der Konservativen. Doch als Schlarmann endet, erhebt sich ein Applaus, als hätten die CDU-Mitglieder eine Erweckungsrede gehört. Schlarmann lässt den Beifall wie Mairegen auf sich niederprasseln.“

Ein paar Tage nach der Rede im Weinkeller saß ich mit René Pfister in meiner Hamburger Kanzlei und redete mit ihm über meine Sicht auf die Merkel-CDU. Dabei ging es auch um die Frage, ob man mit einer Radikalopposition etwas ausrichten kann. Die Erfahrungen bei der Gesundheitsreform, den Mindestlöhnen und beim Konjunkturpaket sprachen dagegen. „Doch wahrscheinlich kommt es darauf gar nicht an“, schrieb René Pfister im SPIEGEL. „Man kann Schlarmanns Kritik an Merkel für überzogen halten. Aber was mit einem wie ihm erhalten bleibt, ist der Glaube, dass Politik aus mehr besteht als den Erfordernissen des Moments. Das ist ab und zu eine Kanzlerexplosion wert.“

Ein Abkommen mit der Kanzlerin

Angela Merkel befand sich Anfang 2009 in einer schwierigen Lage. In der großen Koalition hatte die CDU den Nimbus einer Reformpartei eingebüßt und war programmatisch in die Nähe der SPD gerückt.  Außerdem hatte das marktwirtschaftliche Profil der Partei aufgrund der staatlichen Rettungs- und Konjunkturpolitik in der Krise Schaden genommen. Es wuchs deshalb die Schar der Unzufriedenen. Der baden-württembergische Regierungschef Günther Oettinger warnte vor weiteren Entscheidungen, „die in der Stammwählerschaft von CDU und CSU zu Irritationen führen“. Peter Müller aus dem Saarland bemängelte, es sei „nicht ausreichend gelungen“, in der großen Koalition das Unionsprofil hochzuhalten.

Für die anstehenden Wahlkämpfe hatte CDU-Generalsekretärs Ronald Pofalla daraus die Konsequenz gezogen, dass es nicht auf Programme, sondern auf die Person der Bundeskanzlerin ankommen sollte. Damit erhoffte er sich vor allem Stimmengewinne aus dem Lager der SPD und der Grünen. Zugewinne der FDP zulasten der CDU nahm er dabei in Kauf. Einen Lagerwahlkampf wollte Pofalla vermeiden. Von der als „asymmetrische Demobilisierung“ bezeichneten Strategie versprach er sich eine niedrige Wahlbeteiligung bei oppositionellen Wählergruppen. 

Solche Ideen liefen letztendlich darauf hinaus, dass sich die CDU in einen Kanzlerwahlverein verwandelte, in dem die Partei und ihre Vereinigungen keine selbständige Rolle mehr spielen würden. Als Antwort auf den Profilverlust, den die CDU in der großen Koalition erlitten hatte, hielt ich eine solche Strategie für den falschen Weg. Sie widersprach den Interessen der Partei und verfolgte offensichtlich nur den Zweck, Angela Merkel die Kanzlerschaft zu sichern. Ich glaubte auch nicht an den Erfolg einer solchen Strategie. „Meine felsenfeste Überzeugung ist: Bei einer Linksverschiebung der CDU sind die Verluste größer als die Gewinne“, gab ich zu bedenken.

Unabhängig von solchen Ideen des Generalsekretärs bereitete sich die MIT sorgfältig auf den Bundestagswahlkampf 2009 vor. Wir hatten uns drei Ziele gesetzt: Erstens: Die große Koalition sollte abgewählt werden. Zweitens: An ihre Stelle sollte eine Bundesregierung aus Union und FDP treten. Drittens: Das Regierungsprogramm sollte wirtschafts- und mittelstandsfreundlich sein.

Unsere Forderungen für das CDU-Programm hatten wir in einem Beschlusspapier zusammengestellt, dem das Motto vorangestellt war: „Kursbestimmung in Zeiten der Krise: Die Soziale Marktwirtschaft als ordnungspolitisches Leitbild“. Die zentrale Aussage bestand darin, dass die Politik beim Aufschwung aus der Krise auf die privaten Wirtschaftskräfte setzen sollte statt den staatlichen Maßnahmen zu vertrauen. Das Papier schloss mit folgendem Ausblick:

„Gerade in Krisenzeiten ist es erforderlich, auf die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft, einen freien Wettbewerb, die Innovationskraft von Unternehmen sowie die Verantwortung des Einzelnen zu vertrauen. Denn es ist nicht der Staat, der den Aufschwung aus der Krise und neue Arbeitsplätze schafft. Dies liegt einzig in den Händen der Unternehmen, des Mittelstandes und der arbeitenden Bevölkerung in unserem Land.“

Wir übergaben der Bundeskanzlerin das Papier am 24. April 2009 bei einem Treffen im Bundeskanzleramt.  Das Treffen hatte Ronald Pofalla arrangiert, um das Verhältnis der MIT zur Union und insbesondere zur Kanzlerin zu entspannen. Eingeladen war der gesamte MIT-Vorstand, den ich gebeten hatte, sich mit kritischen Wortbeiträgen gegenüber der Bundeskanzlerin nicht zurückzuhalten. Das Treffen begann jedoch mit dem Angebot von Angela Merkel, ihr persönliches Arbeitszimmer zu besichtigen. Schon das lockerte die angespannte Stimmung auf, so dass die Besprechung in freundlicher Atmosphäre stattfand.

Im Zentrum des Gesprächs stand das Angebot der MIT an Angela Merkel und Ronald Pofalla , die Union im Wahlkampf aktiv mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, wenn sich unsere Kernforderungen im Wahlprogramm der Union wiederfänden. Mit einem solchen Abkommen erklärten sich beide einverstanden und versprachen, die MIT an der Erarbeitung des Wahlprogramms zu beteiligen. Das Gespräch wurde allseits als sehr konstruktiv beurteilt. Auch Angela Merkel bestätigte im Nachgang diesen Eindruck.

Bei der Erarbeitung des Regierungsprogramms von CDU/CSU wurde ich eingebunden und wirkte in der vorbereitenden Kommission mit. Als das Programm dann Mitte 2009 fertig gestellt war und sich der MIT-Bundesvorstand öffentlich hinter dieses Programm und den Bundestagswahlkampf der Union stellte, löste dies bei einigen MIT-Mitgliedern Verwunderung aus. Man hatte eher mit einer kritischen Bewertung des Regierungsprogramms durch die MIT gerechnet. Aus diesem Grund informierte ich die Mitglieder über das erreichte Ergebnis:

„Das CDU/CSU-Regierungsprogramm liegt nun vor. Wesentliche Punkte sind das klare Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, ein ordnungspolitischer Ansatz, eine klare Aussage für eine schwarz-gelbe Koalition, die Senkung des Einkommensteuersatzes, die Abmilderung der kalten Progression und eine deutliche Aussage gegen Steuererhöhungen. Mit dieser Schwerpunktsetzung wurden die wesentlichen Forderungen der MIT aufgenommen und der Mittelstand sowie die arbeitende Bevölkerung in den Fokus des Regierungsprogramms gestellt.“

Wahlkampfengagements

Zu unserem Wahlkampfengagement für die Union gehörten unter anderem ein enger Schulterschluss und gemeinsame Veranstaltungen mit der Jungen Union und der Vereinigung der christlichen Arbeitnehmer (CDA). Anfang Juli 2009 organisierten wir in Düsseldorf mit der Jungen Union den ersten gemeinsamen Wirtschaftskongress, den wir unter das Motto stellten: „Erfolgsmodell Soziale Marktwirtschaft Made in Germany“. Hauptredner war Bundeswirtschaftsminister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), ein politischer Shooting-Star, der aber schnell wieder erlosch. Ich fand ihn locker und sympathisch. 

Meine Aufgabe bestand darin, an den ordnungspolitischen Rahmen für die Bekämpfung der damaligen Krisen zu erinnern. Mein Impulsreferat endete mit den Worten: „Wir werden nur gestärkt aus der Krise herauskommen, wenn unser Schwerpunkt heißt: Politik für einen starken Mittelstand. Um die Krise erfolgreich zu überwinden, wird uns weder die Einzelrettung von Großunternehmen noch die Förderung einzelner ausgesuchter Branchen helfen. Vielmehr müssen endlich Rahmenbedingungen geschaffen werden, die allen – den kleinen und mittleren Unternehmen ebenso wie der arbeitenden Bevölkerung – zu Gute kommen. Der Kurs kann nur lauten, Mittelstand und Verbraucher insgesamt durch niedrigere Abgaben und Steuern sowie weniger Bürokratie zu entlasten.“

Bedeutsamer war jedoch, dass es im Vorfeld der Bundestagswahl gelang, die gemeinsamen Forderungen von CDA und MIT in einem gemeinsamen Papier zu bündeln. Damit sollte sichergestellt werden, dass sich der Wirtschaftsflügel und der Arbeitnehmerflügel nicht über das Regierungsprogramm zerstritten und dieser Streit den Wahlkampf belastete. Zu verdanken war diese Einigung der Tatsache, dass ich mit dem CDA-Vorsitzenden Karl-Josef Laumann ein freundschaftliches Verhältnis hatte.

Für mich war wichtig, dass sich die CDA in dem gemeinsamen Papier für eine entlastende Steuerreform und gegen staatlich festgesetzte Mindestlöhne aussprach. Zur Steuerreform hieß es in dem Papier: „Die heimlichen Steuererhöhungen müssen ein sofortiges Ende haben. Der Bürger hat einen legitimen Anspruch auf eine grundsätzliche Korrektur der Steuertarife. … Eine echte Unternehmenssteuerreform muss mehr Anreize zur verstärkten Eigenkapitalbildung setzen. Zinsaufwendungen, Pachten und Mieten sowie die Gewerbesteuer müssen zukünftig wieder in voller Höhe als Betriebsausgaben abzugsfähig sein.“ Zu den umstrittenen Mindestlöhnen einigten wir uns auf die Formulierung: „Einen staatlich festgesetzten Mindestlohn lehnen wir entschieden ab. Eine Kombination aus Lohn und Transferleistungen kann für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern das Mindesteinkommen sichern.“

Um diesen Schulterschluss der Öffentlichkeit mitzuteilen, organisierten die Geschäftsstellen von MIT und CDA einen gemeinsamen Auftritt von Laumann und mir vor dem Haupteingang des Adlon am Pariser Platz. Von dort gingen wir über den „roten Teppich“ Richtung Presse, wo wir bekanntgaben, dass MIT und CDA mit gemeinsamen Forderungen für die CDU in den Wahlkampf ziehen wollten. Der Presseauftritt gelang.

Es gehört aber zu den großen Enttäuschungen meiner politischen Jahre, dass der „Vertrag zwischen MIT und CDA“ nach der gewonnenen Bundestagswahl in keinem Punkt umgesetzt wurde. Die vereinbarten Steuersenkungen hat Finanzminister Wolfgang Schäuble verhindert. Die Vereinbarung zum Mindestlohn wurde hinfällig, als Karl-Josef Laumann zwei Jahre später mit einer breit angelegten Kampagne der CDA einen Parteitagsbeschluss der CDU herbeiführte, der sich für gesetzliche Mindestlöhne aussprach. Ich musste lernen, dass ein „Handschlag“ in der Politik nur so lange gilt, wie er für beide Seiten von Nutzen ist.

Der Koalitionsvertrag

Bei der Bundestagswahl 2009 standen sich Angela Merkel (CDU) und Frank-Walter Steinmeier (SPD) als Kanzlerkandidaten gegenüber. Der Wahlkampf stand zwar ganz im Zeichen der Wirtschaftskrise, an Profillosigkeit war er aber kaum zu überbieten. Frank-Walter Steinmeier propagierte einen „Deutschlandplan“, der bis zum Jahr 2020 Vollbeschäftigung schaffen sollte, sagte aber nicht, wie er dies erreichen wollte. Ein Arbeitsmarktexperte meinte: „Die haben den feuchten Finger irgendwo in den Wind gehalten.“

Die Wahlkampfstrategen der Union setzten auf die Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“. Auf Angela Merkel sollte es ankommen, nicht auf ein profiliertes Programm. So wollte man vor allem Wähler von SPD und Grünen für sich gewinnen. Mit unter 34 Prozent fuhr die Union jedoch ihr zweitschlechtechtestes Bundestagswahlergebnis in ihrer Geschichte ein. Ronald Pofalla, der verantwortliche Generalsekretär der CDU, war mit seiner Wahlkampfstrategie komplett gescheitert. Auch die SPD gehörte zu den Verlierern. Sie verlor über 10 Punkte und landete bei nur 23 Prozent. Nur die Liberalen konnten jubeln. Mit nahezu 15 Prozent fuhr die FDP ein sensationelles Ergebnis ein. Dies reichte für die Bildung einer christlich-liberalen Koalition.

Damit hatten wir schon zwei von drei Ziele erreicht: Die große Koalition war abgewählt worden, und es gab eine Mehrheit für eine bürgerliche Regierung. Es fehlte nur noch ein Koalitionsvertrag an, in dem wir unsere Forderungen wiederfanden. Auch das klappte einigermaßen.

Union und FDP einigten sich schnell - im Nachhinein zu schnell - über den Inhalt des Koalitionsvertrages. Es sollte ein politischer Richtungswechsel stattfinden. Man wollte nicht länger auf die Allmacht des Staates setzen, sondern die produktiven Kräfte in der Gesellschaft stärken. Dazu sollten die kalte Progression abgeschafft und die Unternehmensbesteuerung vereinfacht werden.  Es wurden auch Erleichterungen beim Kündigungsschutz vereinbart. Im Rahmen einer marktorientierten Energiepolitik sollten die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert werden. 
 
Dies waren Vereinbarungen und Erklärungen, die in die richtige Richtung wiesen. Bestimmte Arbeitsfelder - wie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes - blieben aber im Koalitionsvertrag offen. Zudem sah der Koalitionsvertrag für wichtige Reformaufgaben nur Prüfaufträge oder die Einrichtung von Kommissionen vor. Insofern hatte die neue Regierung die Tür für Reformen zwar wieder für einen Spalt geöffnet, für große Schritte war dieser Spalt aber zu klein. Ich forderte deshalb in den Medien: „Wir brauchen keine Politik, die sich ausschließlich auf das Lösen von Detailproblemen und das Tagesgeschäft konzentriert. Die Wählerinnen und Wähler erwarten von einer bürgerlichen Koalition eine Politik mit einem ganzheitlichen Ansatz, eine Politik, die den Mut zur Modernisierung der überholten Systeme aufbringt.“

Zudem verbreitete sich durch öffentliche Äußerungen von führenden Politikern der Union bald der Eindruck, dass man gar nicht die Absicht hatte, die mit der FDP im Koalitionsvertrag getroffenen Vereinbarungen auch tatsächlich umzusetzen. Die arbeitsmarktpolitischen Vorhaben stießen im Sozialflügel der Union auf heftigen Widerstand. Maßgebliche Haushaltspolitiker der Union lehnten die Steuerreformvorhaben des Koalitionsvertrages ab, weil dafür angeblich die Mittel fehlten. Als Karl-Theodor zu Guttenberg vorschlug, zur Finanzierung von Steuersenkungen die öffentlichen Ausgaben zu senken, erntete er in der Union großen Unmut.

Offensichtlich gab es Kräfte in der Union, die in der FDP nicht mehr einen „natürlichen“ Koalitionspartner sahen.  Dieser Eindruck verdichtete sich bei mir, als der kleine CDU-Parteitag Ende Oktober in Berlin zusammentrat, um den Koalitionsvertrag zu beschließen. An den Redebeiträgen war zu erkennen, dass die markwirtschaftliche Grundtendenz des Vertrages vielen in der Parteiführung gegen den Strich ging.  Dem Parteitag haftete deshalb ein fader Beigeschmack an. Die Delegierten sollten einem Koalitionsvertrag zustimmen, den die Parteiführung und viele Delegierte eigentlich gar nicht wollten.

Dies wurde besonders deutlich, als ich mich namens der MIT für den Koalitionsvertrag aussprach und den Delegierten vom Podium zurief: „Dieser Koalitionsvertrag ist eine Brücke zu unserem Leipziger Parteitag. Und wir brauchen uns dieses Parteitags nicht zu schämen!“ Angela Merkel verzog bei diesem Hinweis das Gesicht und viele Delegierte reagierten betreten. Denn an den Leipziger Parteitag


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