"Ein bürgerlicher Rebell"
(2008)
In den folgenden Ausführungen berichte ich über meine Tätigkeit und politischen Erlebnisse im Jahr 2008.
Cadenabbia Italien
Im Mai 2008 reiste der gesamte Bundesvorstand der MIT nach Cadenabbia, um in der ehemaligen Sommerresidenz von Konrad Adenauer die jährliche Klausurtagung abzuhalten. Die historische Villa La Collina und die moderne Accademia mit den Tagungsräumen gehören heute zur Konrad-Adenauer-Stiftung und liegen in einem großen Park an einer der schönsten Stellen des Comer Sees. Meine Frau und ich wohnten in der Villa La Collina, die Konrad Adenauer viele Jahre als Feriendomizil und als „Ersatzkanzleramt“ gedient hatten. Das Haus, das isoliert auf einem Hügel liegt, war wie zu Adenauers Zeiten eingerichtet. Sich in diesen Räumen aufhalten zu dürfen, war ein besonderes Erlebnis.
Auf der Klausurtagung wollten wir uns zur Mitte der Legislaturperiode mit der großen Koalition und der Strategie der MIT beschäftigen. Hierzu hatten wir ein Papier „Deutsche Parteienlandschaft im Umbruch“ vorbereitet, in dem die Lage der Union als äußerst kritisch beurteilt wurde:
„Zur Bundestagswahl 2005 war die Union mit einem beachtlichen Reformprogramm angetreten. Eckpunkte waren ein gerechtes Steuersystem, eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, ein dereguliertes Arbeitsrecht und eine Reform der gesetzlichen Altersversorgung. Diese Eckpunkte wurden aber nicht umgesetzt. Stattdessen brachte die große Koalition in den vergangenen zweieinhalb Jahren die größte Steuererhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik, die Einigung auf den planwirtschaftlichen Gesundheitsfonds, einen Systembruch in der Rentenpolitik und die Einführung von Mindestlöhnen. Dies führte zur Verunsicherung über den Kurs der Union und einem Bild der Beliebigkeit und mangelnder Glaubwürdigkeit.“
„Die Union konnte in den zurückliegenden Landtagswahlen nicht dadurch punkten, dass sich ihr Fokus in den letzten zweieinhalb Jahren vornehmlich auf die Leistungsempfänger statt auf die Leistungserbringer unserer Gesellschaft ausgerichtet hat. Weder eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, eine Abkehr von der Rentenformel, ein Elterngeld noch andere systematisch fehlerhafte Entscheidungen haben der Union den gewünschten Erfolg in den entsprechenden Wählerschichten gebracht. Stattdessen hat sie bei den klassischen Wählerschichten an Zustimmung verloren.“
Zur Verbesserung der Lage forderten wir von der Union eine Rückbesinnung auf ihr Kernprofil:
„Die Union muss daher die verbleibende Zeit bis zur Bundestagswahl 2009 nutzen, ihren starren Blick auf das Alltagsgeschäft innerhalb der großen Koalition zu lösen und ihren eigenständigen, erfolgreichen Markenkern - das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft - gegenüber den Bürgern unseres Landes wieder sichtbar und verständlich machen. Sie muss ihre programmatischen Vorstellungen ganzheitlich transportieren, anstatt sich von Einzelvorschlägen und tagesaktuellen Einzelforderungen an den Rand der Profillosigkeit treiben zu lassen.“
„Die Unionsführung muss sich auf eine marktwirtschaftliche Ordnungspolitik zurückbesinnen. Der Staat muss sich zukünftig auf seine Kernaufgaben beschränken und die Rahmenbedingungen für Wettbewerb und Eigenverantwortung, für die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie für Deregulierung und stärkere Privatisierung schaffen. Chancengerechtigkeit und Solidarität sind nur möglich auf dem Fundament einer guten Wirtschaftspolitik.
Die Union muss darüber hinaus eine nachhaltige Politik der Reformen vertreten. Die staatliche Umsorgung muss überall dort abgebaut werden, wo der Einzelne für sich selbst sorgen kann.“
Zur Rolle der MIT bei dem Prozess der Erneuerung wurde in dem Papier festgestellt:
„Die MIT ist das marktwirtschaftliche Gewissen der Union. Es ist Aufgabe der MIT, darauf zu drängen, dass die Union die Leistungsträger - die gesellschaftliche Mitte - wieder in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Zur Mitte der Gesellschaft gehören alle jene Menschen, die in unserem Land Kinder großziehen, arbeiten, Steuern zahlen und sich an die Regeln halten. Dort sind Wähler zu gewinnen, nicht an den Rändern der Gesellschaft.“
„Die MIT ist der Motor der Reformpolitik innerhalb der Union. Reformen sind insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, im Bereich der sozialen Sicherungssysteme und der Steuerpolitik unumgänglich. Derzeit überwiegen in weiten Teilen der Mittelschicht die Furcht vor dem Abstieg und die Resignation. Denn das Versprechen von Leistung, die sich lohne, gilt heute nicht mehr. Es ist endlich Zeit für Rahmenbedingungen, bei denen sich das Einkommen eines Leistungsträgers wieder deutlich von den verfügbaren Mitteln eines Leistungsempfängers unterscheidet. Leistung, Arbeitskraft und investierte Zeit müssen sich endlich wieder lohnen.“
Das Papier löste unter den Vorstandsmitgliedern eine lebhafte Diskussion aus. Einigkeit bestand, dass die mittelstandspolitischen Forderungen der MIT in der großen Koalition nur sehr schwer durchzusetzen waren, weil wichtige Ministerien von Sozialdemokraten geleitet wurden. Daher musste sich die MIT auf andere Weise Gehör verschaffen, vor allem durch eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Dies war unstrittig. Die Frage war aber, ob dabei auch Regierungsmitglieder, die der Union angehörten, und insbesondere die Bundeskanzlerin kritisiert werden durfte.
Hierzu erläuterte ich, dass die MIT ihre Kritik in der ersten Phase der großen Koalition an den SPD-Bundesministern festgemacht hätte. Dann seien aber auch von CDU-Regierungsmitgliedern Maßnahmen angestoßen worden, die weder der Beschlusslage der Union noch der MIT entsprochen hätten. Dazu gehörten die Zustimmung der Bundeskanzlerin zum Antidiskriminierungsgesetz, der Vorschlag von Merkel und Kauder für den Gesundheitsfonds, das Angebot von Pofalla für das Mindestarbeitsbedingungsgesetz sowie der Vorschlag von Merkel für eine außerplanmäßige Rentenerhöhung. Auch hier müsste geklärt werden, „ob auch die politisch Verantwortlichen der Union öffentlich benannt werden sollen oder nicht“, gab ich zu bedenken.
In der Diskussion meldeten sich alle Vorstandsmitglieder zu Wort. Alle waren der Meinung, dass es richtig sei, „Ross und Reiter“ zu benennen, auch wenn es sich um Regierungsmitglieder der Union handelte. Daraufhin fasste der Vorstand einstimmig ohne Enthaltungen den folgenden Beschluss:
„Der Bundesvorstand der MIT steht hinter dem bisherigen Vorgehen und der Öffentlichkeitsarbeit des MIT-Bundesvorsitzenden, Dr. Josef Schlarmann. Wir begrüßen die Positionierung des MIT-Bundesvorsitzenden ausdrücklich und fordern ihn auf, den bisherigen Weg fortzusetzen. Das Papier „Deutsche Parteienlandschaft im Umbruch“ wird zustimmend zur Kenntnis genommen.“
"Ein bürgerlicher Rebell“
Der Beschluss des Bundesvorstandes auf der Klausurtagung war für mich eine Bestätigung und auch Ermutigung, zu politischen Entscheidungen offen und ehrlich Stellung zu nehmen, auch wenn CDU-Politiker betroffen war. Dazu hatte mir mein MIT-Freund Winfried Rippert aus Fulda den Rat gegeben, „der sicherlich richtigen Kritik ein wenig Diplomatie einzufügen“. Nichts für ungut, schrieb er mir dazu.
Unter der Überschrift „Ein ausgesprochen bürgerlicher Rebell“ beschrieb Stefan Braun in der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom 1. September 2008, wie er meine damalige Rolle in der Politik sah:
„So also sieht heute das Büro eines Rebellen aus. Der Schreibtisch ist fein säuberlich aufgeräumt, keine Zettelhaufen gibt es hier, keine Akten, keine vollen Aschenbecher. An der Wand hängt moderne Kunst, beim Blick durch das Fenster sieht man auf den Jungfernstieg und Binnenalster. Feiner sind auch in Hamburg die Adressen selten. Und der Mann selbst? Er trägt ein strahlend weißes Hemd, eine dezente Krawatte und ein dunkelblaues Jackett. Wie kann das ein Revoluzzer sein? Ganz einfach: Es handelt sich um einen Revoluzzer unter deutschen Christdemokraten.“
Braun schrieb dann: „So weit ist es gekommen: Josef Schlarmann, 68, gilt der CDU-Spitze als Widerständler. Weniger Bürokratie, Lockerungen beim Arbeitsrecht, weniger statt mehr Steuern – was der Bundesvorsitzende der CDU-Mittelstandsvereinigung MIT, ein Mann mit Silberhaar und leiser Stimme, als liberalen Freiheitskampf versteht, ist in der Parteiführung als illoyale Stänkerei angekommen. Schlarmann hat sich mit Verve den Ruf eines Rebellen eingehandelt, der sich nicht fügen mag in die Zwänge einer großen Koalition. Stattdessen hat er auf die Pauke gehauen, und zwar so, dass es jeder in Berlin hören musste.“
Dann schilderte Braun eine momentane Entspannungsphase: „Mittlerweise ist er etwas ruhiger geworden. Er schimpft zwar weiter über Merkels ziellosen Pragmatismus, der sich mehr am Heute orientiert und nicht am Morgen. Aber er will milder klingen, es hat ja Gespräche mit ihm gegeben. Am Anfang dachte die CDU-Führung, gutes Zureden würde ihn bremsen; dann versuchte man es mit Ignorieren, weil man glaubte, seine harsche Kritik werde ihn isolieren. Tatsächlich distanzierten sich viele in der Partei von seinem Tonfall. Zugleich aber ahnten sie, dass er teilweise recht haben könnte. Deshalb lud ihn Fraktionschef Volker Kauder zum Gedankenaustausch, kurz darauf berief ihn Generalsekretär Ronald Pofalla in die Kommission für den Leitantrag zum Parteitag. Schlarmann sieht sich bestätigt. Voller Stolz zeigt er ein Fax, ein Freund schickte ihm die Adenauer-Worte: „Machen Sie sich unbequem, dann werden Sie ernst genommen.“
Über mein politisches Selbstverständnis schrieb Braun: „Schlarmann sieht sich als Vertreter des ganzen bürgerlichen Lagers. Und er verweist auf ein Problem, das immer mehr CDU-Funktionäre fürchten: den schleichenden Abschied treuer CDU-Wähler. Handwerker und Firmenbesitzer alter Schule, die stets CDU wählten, heute aber stark verunsichert werden; durch die Familienpolitik Ursula von der Leyens, die alte Gewissheiten umstürzt, und durch das immer diffusere Bild der Union in Wirtschaftsfragen.“
Und zu meiner Sorge über das schlechte Verhältnis der Politik zur Wirtschaft hieß es in dem Portrait: „Die (Sorge) geht tiefer: In der Politik wird die Wirtschaft häufig nicht mehr als Partner wahrgenommen, sondern als Gegner. Das, so der promovierte Jurist, muss auf Dauer schiefgehen. Schlarmann könnte sich da tatsächlich auskennen. Er hat über diese Frage – in den sechziger Jahren – seine Doktorarbeit geschrieben.“
Strizz-Spezial zur Bundestagswahl 2009
In dem Gespräch mit dem Journalisten Stefan Braun ging es natürlich auch um die Frage, ob Ehrlichkeit in der Politik überhaupt eine Tugend sein kann. Hierzu erschien nahezu zeitgleich in der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am 27. August 2008 ein STRIZZ-SPEZIAL mit folgendem Dialog:
STRIZZ: „Findest Du das eigentlich schlau, was der Schlarmann da macht, Omi?“
OMI: „Schlarmann? Kenn´ ich nicht.“
STRIZZ: „Chef der CDU-Mittelstandsvereinigung! Haut Merkel ziemlich in die Pfanne! Gesundheitsfonds sei Käse und eine Ausweitung der Mindestlöhne auch! Und so weiter!“
OMI: „Na ja, nach allem was ich so gelesen habe, ist die Gesundheitsreform tatsächlich kein großer Wurf … Und es spricht ´ne Menge dafür, sich in einer Marktwirtschaft auch bei den Mindestlöhnen mit Regulierungen zurückzuhalten, weil es –
STRIZZ: „Omi! Darum geht´s nicht! Die Frage ist, ob das schlau ist! Oder taktisch klug, wenn Du es vornehmer ausdrücken willst! Denk an die Wahl 05! Auch damals lag die CDU weit vor der SPD, dann hat sie einigermaßen deutlich gesagt, was sie vorhat, und nach der Wahl war der Vorsprung hauchdünn!
OMI: „Ja und?“
STRIZZ: „Wie – Ja und? Stell Dir doch mal vor, Du bist total davon überzeugt, dass Du die richtige Politik machst! Dann musst Du doch alles tun, um die Wahl haushoch zu gewinnen! Zurückhaltung im Wahlkampf! Unpopuläre Vorhaben nicht an die große Glocke hängen! Ein paar freundliche kleine Schleier benutzen! Und nach gewonnener Wahl glasharte Politik der Vernunft!“
OMI: „Hört sich gruselig an! Die Parteien haben gefälligst zu sagen, was sie
vorhaben! So klar wie möglich! Alles andere ist doch Wählerverkasperung!“
STRIZZ: „Na ja … Ich dachte ja nur, wenn dadurch die Richtigen drankommen …“
OMI: „Die Richtigen gibt es nicht! Beziehungsweise Ich bestimme, wer versuchen darf, sich als Richtiger zu erweisen! So ist das gedacht!“
STRIZZ: „Jaja … brumm … ehrlich währt am Längsten … verstehe …also gut! Kein Versteckspiel! Kein Gesülze! Omi! Was ist der Euro heute noch wert?!? Beantrage Inflationsausgleich!“
OMI: „Nun …hm …brumm …an sich eine hochkomplizierte Materie, wie Du wohl weißt …aber bitte! Hier – nimm! (gibt STRIZZ eine Münze)
STRIZZ: „Bei Schlarmann! Es klappt!“
Professor Hans-Werner Sinn
Anfang Juni 2008 ließ Hans-Werner Sinn vom Münchener ifo Institut für Wirtschaftsforschung anfragen, ob ich zum Thema „Sozialabgaben oder Steuern senken: Was ist der richtige Ansatz der Steuer- und Finanzpolitik?“ einen Beitrag für den ifo Schnelldienst schrieben könnte. Ich sagte zu. Nachfolgend die Zusammenfassung des fünfseitigen Textes:
„Ein Programm zur Senkung von Abgaben und Steuern muss eingebettet sein in ein schlüssiges Gesamtkonzept der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das Programm muss gleichzeitig die kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen nennen, die zur Umsetzung des Gesamtkonzepts erforderlich sind.
In der aktuellen Situation sollten vor allem die Lohn- und Einkommensteuern für die mittleren Einkommensgruppen gesenkt werden. Dies ist verteilungs- und konjunkturpolitisch notwendig und fiskalisch möglich.
Kurz- bzw. mittelfristig sollten darüber hinaus die Sozialabgaben für die unteren Lohngruppen reduziert werden. Dies würde Arbeitnehmer und Arbeitgeber gleichermaßen entlasten sowie die Arbeitsmarktchancen für Berufsanfänger und Geringqualifizierte verbessern und die Binnennachfrage stützen.
Mittel- bzw. langfristig muss aber das gesamte Niveau der Belastung mit Abgaben und Steuern abgesenkt werden. Hierfür müssen die Ansprüche an den Staat und die Sozialsysteme insgesamt auf den Prüfstand. Eine Senkung der Abgaben und Steuern ist nur möglich, wenn das „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“ durchbrochen wird. So etwas erfordert ein grundsätzliches Umdenken und die Rückkehr zu den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Privatinitiative und Eigenverantwortung müssen wieder den Stellenwert erhalten, den es in den Gründerjahren gegeben hat.“
Natürlich war dies eine fundamentale Kritik an der Politik der großen Koalition, die ohne Gesamtkonzept agierte und sich kurzfristig an den Bedürfnissen bestimmter Gruppen orientierte. Innerhalb der Koalitionsregierung verfolgte jede Partei vorrangig das Ziel, mit immer mehr Staatsausgaben Mehrheiten zu gewinnen. Unter dieser Voraussetzung war nicht damit zu rechnen, dass die Senkung von Steuern und Abgaben möglich werden würde.
„Die Mitte stärken“
Auf dem für Dezember 2008 geplanten Bundesparteitag der CDU stand die Wiederwahl von Angela Merkel zur Parteivorsitzenden an. Außerdem sollten die Weichen für die Bundestagswahl 2009 gestellt werden, für die man die Unterstützung der Wirtschaft suchte. Bereits Mitte 2008 startete Angela Merkel eine Charme-Offensive, um die Unternehmer für sich zu gewinnen und die Kritiker einzubinden. Dazu gehörte ich auch.
Als erstes erhielt ich - wohl auf Anregung von Winfried Rippert - eine Einladung von dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden und Merkel-Intimus Volker Kauder zu einem persönlichen Gespräch. Nachdem wir uns über verschiedene grundsätzliche Fragen ausgetauscht hatten, sagte Kauder, dass er sich schon mit der Bundestagswahl 2009 beschäftigte, für die es bis dahin kein Konzept gäbe. Er bat mich, politische Botschaften zu nennen, die für die Wirtschaft bedeutsam sein könnten. Ich habe ihm meine Mitarbeit zugesagt und die erbetenen Vorschläge angekündigt. Gleichzeitig verabredeten wir, in Kontakt zu bleiben.
Dem Gespräch war zu entnehmen, dass mein politisches Wirken sorgfältig beobachtet wurde. Man hatte auch erkannt, dass ich nicht für mich, sondern für die mittelständische Wirtschaft sprach. Insofern war mein Kalkül aufgegangen, mir durch kritische Worte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Jetzt ging es darum, daraus politisches Kapital zu schlagen.
Ich gab Kauder zu verstehen, dass wir Angela Merkel im Wahlkampf unterstützen würden, wenn die MIT am Wahlprogramm 2009 und dem nachfolgenden Regierungsprogramm mitarbeiten könnte. Kauder äußerte Verständnis für diesen „Deal“, der zur Grundlage einer längeren Zusammenarbeit zwischen der CDU-Führung und der MIT werden sollte.
Schon einen Tag nach dem Gespräch mit Kauder meldete sich der CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla und fragte an, ob ich in der Kommission für den Leitantrag „Die Mitte stärken“ mitwirken wollte. Mit diesem Leitantrag, der im Dezember 2008 auf dem Parteitag in Stuttgart beschlossen werden sollte, wollte er die Weichen für den Bundestagswahlkampf 2009 stellen. Ich sagte meine Mitarbeit zu, und Pofalla bat um Vorschläge für den Leitantrag.
Der Kommission gehörte die Führungsmannschaft der CDU an: Die Ministerpräsidenten Dieter Althaus, Roland Koch, Jürgen Rüttgers, Günther Oettinger und Christian Wulff waren dabei, außerdem der Fraktionsvorsitzende Volker Kauder und Anette Schavan. Auch mögliche Kritiker waren eingebunden: Neben mir der Präsident des Wirtschaftsrates Kurt J. Lauk und Sozialminister Karl-Josef Laumann. Schon die Mitwirkung von Laumann signalisierte, dass es nicht darum ging, die Leipziger Beschlüsse fortzuschreiben. Mit einem neuen Leitantrag wollte Angela Merkel vielmehr eine vorsichtige Kursänderung erreichen: hin zu mehr sozialer Wärme und mehr staatlicher Kontrolle als Reaktion auf die Bundestagswahl 2005.
Mitte Oktober schickte ich dem Generalsekretär unsere Ideen für das Papier „Die Mitte stärken“. Die Vorschläge basierten in weiten Teilen auf Beschlüssen der MIT, die an die Politik folgende Forderungen stellten:
• ein differenziertes Schulsystem,
• Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt,
• ein garantiertes Mindesteinkommen statt gesetzlicher Mindestlöhne,
• einfache, niedrige und gerechte Steuern,
• eine Haushaltskonsolidierung über Ausgabensenkungen,
• eine ideologiefreie Energiepolitik,
• eine sichere Kernenergie sowie
• die Stärkung marktwirtschaftlicher Prinzipien.
Ende Oktober erhielten wir von Ronald Pofalla einen ersten Entwurf des Positionspapiers mit der Bitte um Prüfung. Viele unserer Vorschläge waren zwar berücksichtigt, mir gefiel aber nicht, dass die Sorgen und Probleme der bürgerlichen Mitte in dem Papier „schöngeredet“ wurden. Ich schrieb deshalb an Roland Pofalla:
„Die bürgerliche Mitte sind jene breiten Massen, die in unserem Land die Kinder großziehen, arbeiten, Steuern zahlen und sich an die Regeln halten. Zu ihr gehört auch der unternehmerische Mittelstand. Die Präambel sollte aus unserer Sicht dazu dienen, die heutige Situation der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland ehrlich zu benennen, anstatt die Situation „schön zu reden“. Die Menschen verlangen nach glaubwürdiger Politik. Diese wird nicht vermittelt, wenn man an den Problemen vorbeiredet. Die Menschen in der Mitte erwarten klare Positionen und programmatische Perspektiven, die unverwechselbare CDU-Politik markieren.“
Als die Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 zusammenbrach, verzögerte sich plötzlich die Verständigung über den endgültigen Text des Leitantrages, weil der Ruf nach einer stärkeren Rolle des Staates in der Öffentlichkeit immer lauter wurde. Davon ließen sich auch einige Kommissionsmitglieder anstecken, so dass der Leitantrag immer wieder überarbeitet werden musste. Wir hielten es deshalb für ratsam, die Beratungen möglichst schnell abzuschließen, um das Erreichte nicht zu gefährden. Dazu diente eine eilig einberufene Telefonkonferenz, in der die letzten Abstimmungen erfolgten. Mit dem endgültigen Ergebnis konnten wir leben: Mindestlöhnen, „die Arbeitsplätze vernichten und Wettbewerb aushebeln“, wurde eine klare Absage erteilt. Außerdem versprach die CDU für die kommende Legislaturperiode eine Steuerreform nach dem Motto „einfach, niedrig und gerecht“.
Lehman Brothers
Die amerikanische Investmentbank Lehman Brothers wurde am 15. September 2008 insolvent. Dies war der Auslöser für eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die auch Deutschland erfasste. Reihenweise brachen Banken zusammen, darunter auch die deutsche Hypo Real Estate. Dann stürzte die Konjunktur ab und brachte viele Unternehmen an den Rand des Ruins. Die Politik war in heller Aufregung. Man befürchtete, dass aus dieser Krise - wie in den dreißiger Jahren - eine Weltwirtschaftskrise entstehen könnte.
Der Zusammenbruch von Lehman Brothers und seine Folgen wurden von Medien und Politikern in Deutschland nicht nur als das Scheitern einer Bank, sondern als das Ereignis einer politischen Zeitenwende interpretiert. So schrieb Hans-Ulrich Jörges im Stern: „Das ist ein Epochenbruch: das Scheitern der neoliberalen Verheißung, das Ende des Glaubens an den selbstregulierenden, klugen, lernfähigen, Wohlstand schaffenden Markt, der Untergang des Investmentbanking als Renditemaschine. Und die Rückkehr des Staates als Hüter des Gemeinwohls, als politischer Regisseur auf der Bühne der Globalisierung.“
Mit dieser ideologisch gefärbten Deutung der Krise traf Hans-Ulrich Jörges den für Deutschland typischen Nerv: Man sah sich durch die Krise in dem Misstrauen in die Funktionsfähigkeit der Märkte bestätigt und setzte auf den Staat als Retter. Dass auch Staatsversagen (Standortwettbewerb durch Deregulierung, Geldpolitik der Notenbanken, Öffentliche Wohnungsbaukredite an Bedürftige) die Krise verursacht hatte, wollte man nicht wahrhaben.
Besonders große Wirkung hatte die Finanz- und Wirtschaftskrise auf die politische Stimmungslage in Berlin. Die marktkritischen Stimmen bekamen deutlich Oberwasser. Andrea Nahles (SPD), die spätere Sozial- und Arbeitsministerin, machte den Anfang: „Sicher ist, dass wir eine Renaissance von Politik erleben. Vielleicht auch eine Renaissance von sozialer, regulierter Marktwirtschaft. Wir haben jetzt ein paar Argumente mehr, warum ein starker Staat notwendig ist.“ Norbert Röttgen (CDU) äußerte die gleiche Erwartung: „Die Globalisierung führt nicht zur Ohnmacht der Politik, sondern im Gegenteil zu einer Renaissance von Politik.“ Das wirtschaftspolitische Credo hieß nun: „Regulierung, Intervention und Verstaatlichung.“
Dieser plötzliche Paradigmenwechsel hatte auch ganz persönliche Bezüge: Friedrich Merz (CDU) musste viel Spott über sich ergehen lassen, als er mitten in der Finanzkrise in Berlin sein neues Buch „Mehr Kapitalismus wagen“ vorstellte. Ein ganz anderes Bild bot dagegen der Bankenretter Peer Steinbrück, der laut Medienberichten „vor Selbstbewusstsein strotzte“. Im Spiegel erklärte er, dass „gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind. Ein maßloser Kapitalismus, wie wir ihn erlebt haben, mit all seiner Gier, frisst am Ende sich selber auf.“
Trotz der bedrohlichen Lage sah man in diesen Tagen in den politischen Berliner Kreisen viele zufriedene Gesichter. Die Krise war „die ideale Situation für die Politik“ schrieb der Journalist Dirk Kurbjuweit. Beamte und Politiker, die bis dahin als Bremser wirtschaftlichen Wachstums gegolten hatten, wurden zu Hoffnungsträgern und Rettern in der Not. Das „Primat der Politik“ konnte wiederhergestellt werden. Auch Angela Merkel (CDU) ließ sich von dieser Welle mitreißen und verkündete, künftig auf den Finanzmärkten „alle Marktteilnehmer, alle Produkte und alle Märkte wirklich überwachen und regulieren“ zu wollen. Dem Staat wurde wieder alles zugetraut.