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Europäische Krisen : Europäische Integration
24.08.2015 11:16 (4071 x gelesen)

Europäische Integration

In Fragen der europäischen Integration und der Wirtschaftspolitik bestanden zwischen Deutschland und Frankreich in der Nachkriegszeit gravierende Unterschiede. Beide Länder standen zwar vor der gleichen Aufgabe: Sie mussten ihre kriegszerstörte Wirtschaft wiederaufbauen. Auf dem Weg dahin wählten sie aber verschiedene Wege. Deutschland entschied sich unter Ludwig Erhard für die „Soziale Marktwirtschaft“.  Demgegenüber ging Frankreich mit der von Jean Monnet konzipierten „planification francaise“ den Weg der gelenkten Wirtschaft. Diese historischen Unterschiede wirken bis heute fort und prägen insbesondere die Vorstellungen der Deutschen und Franzosen über die europäische Integration.

Ludwig Erhard verstand unter Wirtschaftspolitik in erster Linie Ordnungspolitik, d.h. die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Beim Wiederaufbau setzte er auf die Dynamik freier Unternehmer und überließ die Steuerung der Wirtschaft weitgehend den Märkten. So viel Freiheit wie möglich, so viel Regulierung wie nötig, war das ungeschriebene Leitmotiv der Wirtschaftspolitik in Deutschland.

Demgegenüber standen der Staat und seine Gestaltungsmacht in Frankreich immer im Vordergrund der Wirtschaftspolitik. Es war deshalb selbstverständlich, dass der Wiederaufbau nach dem Krieg  nicht den Unternehmen und Märkten überlassen, sondern staatlich geplant wurde. Zweck der von Jean Monnet organisierten Wirtschaftsplanung war es, die französische Wirtschaft regional und branchenmäßig mit Hilfe eines „plan activ“ zu steuern. Tiefgreifender  konnten die wirtschaftspolitischen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich nicht sein.

Die Unterschiede in der deutschen und französischen Wirtschaftspolitik ergeben sich aus den jeweiligen Wirtschaftskulturen. Die Mitglieder der europäischen Union unterscheiden sich in ihren kulturellen und politischen Traditionen, in den vorherrschenden Mentalitäten, Denkweisen und Praktiken zum Teil beträchtlich voneinander.

Die föderale Tradition Deutschlands sieht ein verbindliches Regelwerk für die Konfliktaustragung in einem heterogenen Gemeinwesen vor. Frankreichs zentralstaatliche Tradition bevorzugt die Flexibilität und Handlungsfähigkeit einer starken Exekutive zur Förderung des Gemeinwohls. Für die ordoliberale Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre ist der Grundsatz der Haftung wichtig. In der französischen Dankweise bleibt die revolutionäre Parole der „fraternité“ (= Solidarität) der Starken für die Schwachen bestimmend.

Französische Ökonomen interpretieren die Schulden von Banken oder Staaten eher als vorübergehende Liquiditätsprobleme, die sich mit staatlicher Hilfe überwinden lassen. Ihre deutschen Kollegen tendieren dazu, die Solvenz der betreffenden Institute und Länder in Frage zu stellen. Daraus ergeben sich gegensätzliche Handlungsempfehlungen: im deutschen Fall für Sparmaßnahmen und Wirtschaftsreformen, die aus französischer Sicht schädlich sind, weil sie die Liquiditätsschwierigkeiten vergrößern.

Die südlichen Länder in Europa folgen weitgehend der französischen Denkweise, während der Norden eher den deutschen Positionen zuneigt. Auch Europas Nord-Süd-Konflikt beruht in erster Linie auf unterschiedlichen Wirtschaftskulturen. 

Marktwirtschaftliche oder politische Integration?

Von diesen Unterschieden in der Wirtschaftspolitik wurden insbesondere auch die deutschen und französischen Vorstellungen über die europäische Integration geprägt. Beide Länder hatten zwar den gemeinsamen Willen, die europäischen Nationen unter einem  gemeinsamen Dach zusammen zu führen, sie verbanden  damit aber ganz unterschiedliche Ziele und Methoden der Integration. Für die deutsche Regierung war die europäische Einigung  ein wichtiger Baustein für Deutschlands dauerhafte Westbindung. Dazu sollte ein gemeinsamer Markt geschaffen werden, in dem der Verkehr von Gütern und Dienstleistungen, Kapital und Arbeit nicht behindert wurde. Die  Europäische Kommission sollte als Motor der europäischen Integration Zölle und Handelshemmnisse beseitigen und für die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit sorgen.

Demgegenüber verfolgte die französische Regierung mit der europäischen Einigung vorrangig das Ziel, den Einfluss Frankreichs in Europa zu sichern und Deutschlands Dominanz einzugrenzen.  Dies sollte in der Weise geschehen, dass die europäischen Staaten nationale Hoheitsrechte auf europäische Institutionen übertrugen, die gemeinsam verwaltet und gelenkt wurden. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) war die erste Organisation, die  nach dieser Methode geschaffen wurde. Jean Monnet wurde der erste Präsident dieser "Hohen Behörde", die am 10. August 1952  als Exekutivorgan der Montanunion ihre Arbeit aufnahm. Bei seinem Abschied drei Jahre später sagte Jean Monnet:“Was jetzt für die Kohle und den Stahl der sechs Länder unserer Gemeinschaft auf dem besten Weg ist, muss bis zum endgültigen Ziel weiterverfolgt werden: die Vereinigten Staaten von Europa“.

Auf Seiten der damals maßgeblichen Wirtschaftspolitiker in Deutschland stieß dieses französische Integrationsmodell  auf scharfe Ablehnung. Ludwig Erhard monierte: „Wir brauchen kein Planungsprogramm, sondern einen Ordnungsrahmen für Europa“ Und  Wilhelm Röpke warnte: „Wenn wir versuchen wollten, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als ein Verrat an Europa.“

Beide waren überzeugte Europäer, lehnten es aber ab, die europäische Integration supranationalen Behörden zu überlassen. Ihnen schwebte ein Europa vor, das die Einheit in der Vielfalt suchte.  Dazu bedurfte es gemeinsamer  Spielregeln, aber keiner zentralistischen Organisation.

In der Geschichte der europäischen Einigung hat sich weder die deutsche noch die französische Integrationsmethode endgültig durchsetzen können. Rückblickend  waren die Römischen Verträge, mit denen am 25. März 1957 die EWG geschaffen wurde, ein großer Erfolg der deutschen Politik. Die Zollschranken und Handelshemmnisse innerhalb Europas wurden beseitigt. Zielvorgabe für die Europäische Kommission waren die vier Freiheiten: Freier Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie Freizügigkeit  für Kapital und Arbeit. Ausgenommen hiervon war nur die Landwirtschaftspolitik, die nach französischem Muster organisiert wurde.

Mit den Jahren wurde jedoch das Eigeninteresse der europäischen Bürokratie stärker.  Mehr Zentralismus und mehr Umverteilung über Regional-, Kohäsions- und Sozialfonds bedeuteten auch mehr Macht für die Behörden in Brüssel. Gleichzeitig wuchs der französische Einfluss. Damit setzte sich auch planwirtschaftliches Denken und Handeln in den europäischen Institutionen immer mehr durch.

Die marktwirtschaftliche Seite im Sinne der deutschen Integrationsmethode erhielt erst wieder Verstärkung, als die osteuropäischen Staaten nach dem Fall der Eisernen Vorhangs Beitrittskandidaten der Europäischen Union wurden. Mit ihnen kam der marktwirtschaftliche Geist in die europäischen Institutionen zurück, was sich vor allem an den diversen Initiativen der EU  zur Liberalisierung  des Verkehrs- und Kommunikationswesens sowie der Energie- und Stromversorgung. bemerkbar machte.

Die Eigendynamik der Brüsseler Bürokratie ließ sich aber nicht dauerhaft stoppen. Auf die "Erweiterung" nach Osten folgte die „Vertiefung“ nach Innen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um einen Prozess der „Vereinheitlichung“ und „Zentralisierung“ nationalstaatlicher Aufgaben. "Durch die ständige Ausdehnung der Zugriffsbereiche für europäisches Recht und immer neue Initiativen auf den unterschiedlichsten Gebieten wuchs der europäischen Ebene mit der Zeit eine große Gestaltungsmacht zu. Immer mehr nationales Recht besteht in der Umsetzung von Europarecht. Zu diesem Machtzuwachs trug auch der Europäische Gerichtshof bei. Nationale Regierungen verweisen gern auf Europa, wenn etwas schiefgeht", schreibt Thilo Sarrazin (FAZ vom 7. März 2016) zu diesem Prozess.

Nationale oder europäische Zuständigkeit

Der Brexit der Briten und die Krise der Europäischen Union sind ganz wesentlich durch den ungebremsten Kompetenzhunger ihrer Organe entstanden. Die Unionsbürger verfolgen das unaufhaltsame Wachstum des gegenüber dem nationalen Recht vorrangigen europäischen Rechts inzwischen mit großer Skepsis und kritisieren die Intransparenz seiner Entstehung. Immer weniger haben sie den Eindruck, über ihr politisches Schicksal selbst bestimmen zu können.

Das Gemeinschaftsrecht besteht inzwischen aus mehr als 20.000 Rechtsakten. Der sog. „Acquis communautaire“, d.h. die Summe aller  europäischen Verträge, Verordnungen, Richtlinien etc.,  kommt auf geschätzte 85.000 Seiten. Bei dieser Menge an Vorschriften kann man nicht mehr davon ausgehen,  dass sie notwendig sind, um einen freiheitlichen gemeinsamen Markt zu organisieren. Der ständig wachsende Berg an Direktiven und Normen macht vielmehr deutlich, dass die europäischen Institutionen und Behörden von planwirtschaftlichem Denken und Handeln beherrscht werden. Daran haben auch „Entbürokratisierungsoffensiven“ nichts ändern können.

Im Ergebnis hat sich das französische Integrations- und Planungsmodell in Europa weitgehend durchgesetzt. „Mehr Europa“ heißt regelmäßig mehr Regulierung, Ausweitung der EU-Kompetenzen, Transferunion und neue Hilfspakete. Vor allem die Euro-Retter sehen das Heil in noch mehr zentraler Planung, Lenkung, Egalisierung und Vereinheitlichung. Dieser Integrationsweg zerstört jedoch die Vielfalt und den Wettbewerb – also das, was die bisherige Erfolgsgeschichte Europas ausgemacht hat. Der ehemalige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf mahnte deshalb zu Recht, dass Europa nur Sinn macht, „wenn es zur Entfaltung und Verbreitung der liberalen Ordnung beiträgt“.

Davon ist die europäische Politik jedoch weit entfernt. Weitgehend ist auch in Vergessenheit geraten, dass die Europäische Union nach den totalitären Erfahrungen in Europa nicht nur ein "Friedensprojekt", sondern auch ein „Freiheitsprojekt“ sein sollte. „Es ist in der Europäischen Kommission und im Europaparlament schon fast eine intuitive Reaktion, auf ein Problem mit einem Gesetz zu reagieren“, beschreibt EU-Kommissions-Vize Frans Timmermans die Brüsseler Regulierungswut. „Wir sollten das ändern und künftig einmal die Frage stellen, ob es überhaupt eine neue Regel braucht und ob geltende Regeln überhaupt ordentlich umgesetzt wurden.“

Was Überregulierung in der Praxis bedeutet, läßt sich am Beispiel der EU-Finanzaufsicht verdeutlichen. Nach Ausbruch der Finanzkrise gründete die EU im Jahr 2011 drei Finanzaufsichtsbehörden: die für Wertpapiermärkte zuständige ESMA, die Versicherungsaufsicht EIOPA und die Bankenaufsicht EBA. Anders als der Name vermuten läßt, sind die drei Institutionen nicht nur Aufseher, sondern auch Normgeber. Zusammen mit der EU-Kommission haben sie seitdem 537 Durchführungsmaßnahmen, Leitlinien und Empfehlungen veröffentlicht, die Fonds zum Gegenstand haben. Die eigentlichen EU-Gesetzgeber, nämlich Parlament und Rat, erließen im gleichen Zeitraum 39 Richtlinien und Verordnungen mit Bezug zu Fonds. Das ergibt ein Verhältnis von 14 zu 1. "Die EU-Regulierung gleicht inzwischen einem Eisberg: Die von gewählten Volksvertretern geschaffenen Regeln sind nur die Spitze. Der weitaus größere Teil befindet sich unter der Oberfläche und besteht aus Vorschriften von EU-Behörden", schreibt Thomas Richter in der FAZ vom 8. April 2016.

Ein weiteres Beispiel ist der Widwuchs von EU-Programmen. Zu den EU-Förderprogrammen, die mittelständischen Unternehmen (KMU) den Zugang zu Auslandsmärkten erleichtern sollen, schrieb Daniel Caspary, Mitglied des Europäischen Parlaments, in einem Leserbrief an die FAZ: "Zunächst ist festzustellen, dass die Zuständigkeit für diese Auslandsförderung heillos zersplittert ist. Es ist schwer, bei mehr als 50 verschiedenen Förderprogrammen mit dem Ziel der Internationalisierung von KMU den Überblick zu behalten. Hinzu kommt, dass sich in der Kommission sechs Generaldirektoren um diese Aufgabe kümmern. Dass Aufspaltung zu Unübersichtlichkeit und Effizienzverlusten führt, liegt auf der Hand. Das Europäische Parlament, das diesem Wildwuchs Einhalt und Struktur geben will, kommt sich vor wie im Kampf mit einer Hydra. Kaum ist es gelungen, ein Programm zu begrenzen oder gar zu beenden, zaubert die Kommission ein neues aus dem Hut. Dabei erhebt sich hierbei auch die Grundsatzfrage der Subsidiarität, also die Vertelung von Zuständigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Die Wirtschaftsförderung jedenfalls gehört nicht zu den Arbeitsfeldern, die der EU und damit der Kommission durch den Lissaboner Vertrag zugewiesen sind."

Vielfach sind es auch die nationalen Regierungen, die die EU-Kommission nutzen, um über diesen Weg ihre Ziele durchzusetzen. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Klimaschutzes: So veranlasste Angela Merkel den Europäische Rat, die sog. „Ökodesign-Richtlinie“ zu beschließen. Diese Richtlinie erlaubt es der Europäischen Kommission, für eine „unbegrenzte Zahl von Produkten“ Mindestanforderungen für den Energieverbrauch vorzuschreiben. Von dieser Ermächtigung machte die Kommission bereits umfänglichen Gebrauch:  Glühbirnen, wattstarke Staubsauger etc sind bereits verboten, weil sie zuviel Strom verbrauchen. Fitnessgeräte, Akkuschrauber,  Föhne, Rasenmäher, Videoprojektoren, Aufzüge, Gewächshäuser und vieles mehr sollen folgen. Ein Ende ist nicht abzusehen.

Vertragsziel einer "immer engeren Union"

Der ständige Machtzuwachs der Europäischen Union war möglich, weil es in den europäischen Verträgen an einer Zuweisung der Kompetenzen nach Sachmaterien fehlt.Typisch für die EU ist vielmehr ein finales Kriterium: Artikel 26 AEUV gibt der EU die Befugnis,  diejenigen Bestimmungen zu treffen, welche erforderlich sind, um den Binnenmarkt zu verwirklichen und sein Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Alle Organe der EU bis hin zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) praktizieren auf dieser Rechtsgrundlage eine extensive Auslegung der bestehenden Normen - mit dem Ziel einer "immer engeren Union". Der frühere Bundesverfassungsrichter Hans Hugo Klein erklärte dazu: "Während die Auslegung völkerrechtlicher Verträge allgemein von der Rücksichtnahme auf die Souveränität der Vertragsparteien geprägt ist, gilt das für die europäischen Verträge nach herrschender Meinung gerade nicht. Der EuGH pflegt derjenigen Auslegung den Vorzug zu geben, die die Verwirklichung der Vertragsziele am meisten fördert." (FAZ vom 18. August 2016) 

Das Problem hat allerdings noch eine weitere Dimension: Ein Großteil der Terraingewinne, die die EU im Lauf der Zeit gemacht hat, ist nicht das Ergebnis politischer Willensbildung in den Mitgliedstaaten, im Rat oder im Europäischen Parlament, sondern geht auf die "Rechtsanwendung" durch Kommission und Gerichtshof zurück. Die Möglichkeit hat der Gerichtshof dadurch geschaffen, dass er die völkerrechtlichen Verträge in zwei grundlegenden Urteilen aus den 1960er Jahren mit den Wirkungen einer Verfassung ausstattete. Die Verträge beanspruchen seitdem unmittelbare und vorrangige Geltung in den Mitgliedstaaten. Damit hat es der Gerichtshof in der Hand, den Ausbau des Binnenmarkts durch die Suspendierung nationaler Regelungen in die eigenen Hände zu nehmen. Die Mitgliedstaaten werden dazu nicht mehr benötigt.

Damit aber nicht genug. Die Mitgliedstaaten, der Rat sowie das Europäische Parlament können die im Vertragsvollzug getroffenen Entscheidungen der Kommission oder des Gerichtshofs wegen ihres Verfassungsrangs  nicht korrigieren, selbst wenn sie mit ihren Vorstellungen beim Vertragsschluss wenig zu tun haben, den Grundsätzen ihrer Verfassungen, etwa zur Wirtschaftsordnung oder zur sozialen Gerechtigkeit, zuwiderlaufen oder sonst schädliche Auswirkungen entfalten. Der Grund dafür liegt in der Konstitutionalisierung der EU-Verträge durch die Urteile von 1964 und 1965 und das dadurch eingeführte Einstimmigkeitserfordernis, das bei 28 Mitgliedstaaten so gut wie unerreichbar ist. (Dieter Grimm in FAZ vom 1. November 2016)  

Der EU-Vertrag (Artikel 5) versucht zwar, die Zuständigkeiten der Union durch den Grundsatz der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu begrenzen. Danach darf die Union tätig werden, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedsstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“ Zur Begrenzung von Kompetenzen eignet es sich das so definierte Subsidiaritätsprinzip aber nicht. Es ist letztlich ein "Prinzip der Effizienz" mit der Tendenz zu immer größerer Zentralisierung. Vorausgesetzt wird lediglich, dass die EU dies oder jenes besser als die nationale Ebene machen kann.

Mehr Durchschlagskraft bekommen diese Prinzipien auch nicht dadurch, das der Kommission in einem dazu gehörenden Protokoll Anhörungs- und Begrundungspflichen auferlegt wurden und die nationalen Parlamente binnen acht Wochen den Einwand der Verletzung der Subsidiarität erheben können. Ob die Organe der EU solchen Einwänden nachkommen, steht jedoch weitgehend in ihrem Belieben. Subsidiarität ist deshalb "zunächst und vor allem Ausdruck einer ... politischen Kultur", deren Existenz weitgehend nicht zu erkennen ist, schreibt Klein.  

Demgegenüber fehlte in kaum einer Brüsseler Rede der Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip, das seit 1992 in den EU-Verträgen verankert ist. Tatsächlich sind die Organe der EU jedoch jahrzehntelang auf "mehr Europa" geeicht worden. So handeln sie auch, wie ein Kommissar  mit entlarvender Offenheit zugab: "Wir überprüfen alle Vorschläge darauf, ob sie besser auf nationaler Ebene geregelt werden könnten - und finden einfach nichts." (FAZ vom 8. August 2016)

Politische Kommission oder Hüter des Rechts

Jean-Claude Juncker:

Die Europäische Kommission ist längst nicht mehr die "Hüterin der Europäischen Verträge", sondern hat sich im Laufe der Jahre zu einer "Politischen Institution" weiterentwickelt, die wie eine Regierung agiert. Jean-Claude Juncker, der derzeitige Präsident der EU-Kommission, sieht sich ausdrücklich nicht als Beamter, sondern als Politiker. Zu seinem Amtsverständnis schreibt die FAZ in ihrer Ausgabe vom 9. Juli 2016: "Politisch wollte die EU-Kommission des Jean-Claude Juncker sein, nicht bürokratisch. Über die Weltläufe wollte sie bestimmen, nicht über Gurkenkrümmungen. Mehr Europa im Großen wollte sie schaffen, weniger Europa im Kleinen. Nicht mehr in den Hauptstädten sollte über die großen Linien der europäischen Politik entschieden werden, sondern im 13. Stock des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes, in Junckers Büro. Die traditionelle Rolle einer ´Hüterin der Verträge´, die über die Einhaltung der EU-Gesetze wacht, war für diese Kommission allzu bescheiden."

Kein anderer Politiker hat die systematische Missachtung der europäischen Verträge zur Erzwingung einer immer engeren Union besser formuliert als Jean-Claude Juncker. Berühmt ist sein Ausspruch aus dem Jahr 1999, zu Beginn der Währungsunion: "Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter." Juncker hat kein Problem, die Rechtsstaatlichkeit - das heißt die Achtung beschlossener Verträge und die Einhaltung von Regeln - für das Ziel einer immer engeren Union zu beugen. Damit steht er jedoch nicht allein. Bei der Rettung Griechenlands, der Vergemeinschaftung der Staatsschulden und der Kontrolle der Grenzen haben EU-Behörden und nationale Regierungen gegen europäische Rechtsregeln verstoßen.

Jean-Claude Juncker sieht sich nicht wie seine Vorgänger als Geschäftsführer der EU-Kommission, sondern führt sich als Präsident wie ein Europäischer Ministerpräsident auf. So beschrieb er auch seine Rolle: "Ich habe von Anfang an deutlich gemacht, dass die Kommission, der ich die Ehre habe vorzusitzen, eine politische Kommission sein wird. Und, ergo, der Präsident dieser Europäischen Kommission auch ein politischer Präsident sein wird." Seinen Führungsanspruch hat er in besonderem Maße mit seinem "Fünf-Präsidenten-Bericht" vom Juni 2015 untermauert, der konkrete Forderungen für "mehr Europa" enthält, darunter die Ausweitung der gemeinsamen Haftung, eine gemeinsame Einlagensicherung u.ä.. Hierzu das Einverständnis der Mitgliedsstaaten einzuholen, hielt Juncker offensichtlich nicht für erforderlich, was Widerspruch provozierte. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sah es als unvereinbar an, dass die Kommission als Hüter der Verträge europäische Geschichte macht und die nationalen Regierungen zu Statisten degradiert.

Stabilitäts- und Fiskalpakt:

"Politisch" ist in Brüssel jedoch längst zum Synonym für orientierungslos, unberechenbar und beliebig geworden, so wie Juncker Politik einmal definiert hat: "Wenn es ernst wird, muss man lügen." Nirgendwo zeigt sich das deutlicher wie beim Umgang der Kommission mit dem Stabilitäts- und Fiskalpakt (Staatsschulden bis 60 % BIP; Staatsdefizit bis 3% BIP). Im Jahr 2015 haben von den 19 Eurostaaten 14, darunter alle großen, den Zielwert von 60 Prozent verfehlt. Die höchsten Schuldenquoten hatten Griechenland (177), Italien (133) und  Portugal (129). In keinem Fall sind jedoch Sanktionen verhängt worden, weil die Kommission den EU-Stabilitätsapakt aus politischen Gründen nicht anwenden will.  "Die Idee der politischen Kommission ist brandgefährlich", sagte ein Brüsseler EU-Botschafter. "Wir brauchen die Europäische Kommission als eine Art neutralen Superfachmann." Die wichtigste Aufgabe sei es sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten sich an die Verträge hielten. Von dieser Rolle habe sich die Kommission aber längst verabschiedet. Infolgedessen ist der EU-Stabilitätspakt faktisch tot.

Im Fall Frankreich begründete Juncker die Haltung der Kommission in schöner Offenheit: "Weil es Frankreich ist." Der französische Staatspräsident Francois Hollande berichtete Journalisten sogar, dass die Kommission Frankreich den Vorschlag der Komplizenschaft machte: "Wir ziehen es vor, wenn Sie weiterhin 3 Prozent öffentlich als Ziel anstreben, denn dann können wir besser mit den anderen Ländern umgehen ... Wir bewilligen Ihnen ein gewisses Entgegenkommen beim Rhythmus, der Ihren Vorstellungen der Haushaltsplanung entspricht. Und wenn es dann nicht 3 Prozent werden, dann werden wir Ihnen dafür nicht die Schuld geben." Hollande sprach von einem "geheimen Vertrag", den Frankreich mit der Kommission schloss: "Wir sagen also: ´Wir machen einen geheimen Vertrag, wir geben die 3 Prozent als Ziel an, aber sie wissen sehr genau, dass wir das nicht erreichen werden.´ Dem hat man zugestimmt." Der gesprächige Präsident lieferte auch eine Erklärung für die Nachsicht der EU-Kommission mit Frankreich: Es sei "das Privileg der großen Länder":

Verantwortlich dafür sind in erster Linie die Euro-Staaten, die das Regelwerk für den Stabilitäts- und Fiskalpakt immer komplizierter und undurchsichtiger gemacht haben. Statt klarer Regeln und automatischer Sanktionen wurden die Kriterien bewußt unscharf gehalten und das politische Ermessen immer weiter ausgedehnt. Zudem hat die Europäische Kommission den EU-Stabilitäspakt mit seinen Sanktionsmöglichkeiten  in das sogenannte "europäische Semester" eingebettet, wodurch sich die Beaufsichtigung der nationalen Staatshaushalte beliebig in die Länge ziehen läßt. Im "europäischen Semester" werden "im Jahresablauf fast dauernd Daten ausgewertet, Berichte geschrieben, hin- und her gereicht und schließlich allerlei Empfehlungen ausgesprochen, die aber niemand mehr ernst nimmt. So läßt sich verschleiern, dass die im Pakt vorgesehenen Sanktionen für haushaltspolitisches Fehlverhalten so gut wie nie vorgeschlagen wurden", kommentiert die FAZ vom 22. April 2016 die Methode, mit der unbequeme Vorschriften ausgehebelt werden.

Der tiefere Grund für die Unwirksamkeit des Stabilitätspaktes liegt darin, dass weder die EU-Kommission noch die EU-Finanzminister, einschließlich des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble, ein Interesse an seiner Durchsetzung haben, dafür aber jeweils der anderen Seite den Schwarzen Peter zuschieben. Dies zeigte sich in aller Deutlichkeit Mitte 2016, als über Sanktionen gegen Spanien und Portugal zu entscheiden war, die mehrfach gegen die Maastrichter Grenzwerte verstoßen hatten. Kommissionschef Jean-Claude Juncker versuchte den Eindruck zu erwecken, er wolle gegen beide Länder Bußgelder festsetzen, sehe sich daran aber durch die EU-Finanzminister gehindert. In der Tat hatte sich Wolfgang Schäuble intern dafür eingesetzt, auf Sanktionen zu verzichten, um seinem spanischen Kollegen einen Gefallen zu tun. In der Öffentlichkeit erweckte er jedoch den Eindruck, er sei für strenge Sanktionen, und kritisierte den laschen Umgang der Juncker-Kommission mit Haushaltssündern.

Die EU-Kommission empfahl daraufhin Geldbußen von "null" mit der Begründung, sie wolle nicht päpstlicher als der Papst (sprich Schäuble) sein. Die EU-Finanzminister hätten diese Entscheidung zwar mit qualifizierter Mehrheit kassieren können, verzichteten darauf aber aufgrund der Intervention von Schäuble. Die FAZ kommentierte diesen Vorgang folgendermaßen: "Der größere Heuchler in diesem Streit ist Schäuble. Er hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder als Hüter der haushaltspolitischen Stabilität in Europa geriert und darauf hingewiesen, wo seiner Meinung nach das Ende des Paktes seinen Anfang nahm: im Bruch von dessen Regeln durch Frankreich und Deutschland 2003, unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). In den aktuellen Verfahren gegen Spanien und Portugal hindert das den Minister nicht, seinem konservativen spanischen Amtskollegen beizuspringen und alles zu tun, um Sanktionen vor allem gegen Spanien zu verhindern, obwohl beide Länder erheblich (und nicht mit den im Pakt vorgesehenen Ausnahmen entschuldbar) gegen die Haushaltsvorgaben verstoßen haben."

Führungspersonal:

Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass Europas teils ineffektive Reaktion auf die verschiedenen Krisen viel mit der Führungsstruktur und dem derzeitigen Führungspersonal zu tun hat. Die europäischen Gremien und Institutionen können nicht führen, weil in ihnen allzu leicht die persönliche Verantwortlichkeit verwischt wird. Die Schwäche solcher Gremien fällt in guten Zeiten nicht auf, in Krisen zeigt sie sich aber überdeutlich. Zudem fehlen überzeugende Persönlichkeiten, die in größeren Dimensionen politisch verantwortlich entschieden und gestalten können. Viktor Orban. Ministerpräsident von Ungarn, sagte dazu: "Als ich in meiner ersten Amtszeit als ungarischer Ministerpräsident 1998 das erste Mal an europäischen Gremien teilnahm, waren dort Politiker wie Helmut Kohl, Jaques Chirac, Silvio Berlosconi und José Aznar. Man kann über diese Personen geteilter Meinung sein, aber es zeichnete sie aus, dass sie ganz klar wussten, was sie für ihr jeweiliges Volk erreichen wollten. Zwölf Jahre später, im Jahr 2010, nahm ich als Ministerpräsident wieder an europäischen Gesprächsrunden teil. Im zeitlichen Vergleich fiel auf, dass die Stimmung außerordentlich defensiv war und sehr enge rechtliche und technische Fragen dominierten. Dieser starke Kontrast hat mich seither immer wieder beschäftigt."   


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