"Das Primat der Politik" (Angela Merkel)
Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise, die durch den Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 ausgelöst wurde, war eine große Herausforderung für Banken und Unternehmen. Eine ebenso große Wirkung hatte sie auf die politische Stimmungslage. In den Medien deutete man dieses Ereignis als eine politische Zeitenwende. So schrieb Hans-Ulrich Jörges im STERN:
„Das ist ein Epochenbruch: das Scheitern der neoliberalen Verheißung, das Ende des Glaubens an den selbstregulierenden, klugen, lernfähigen, Wohlstand schaffenden Markt, der Untergang des Investmentbanking als Renditemaschine. Und die Rückkehr des Staates als Hüter des Gemeinwohls, als politischer Regisseur auf der Bühne der Globalisierung“.
Der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel
In der Krise bekamen die marktkritischen Stimmen deutlich Oberwasser. Gleichzeitig wuchsen auch die Staatsgläubigkeit und das Selbstbewußtsein der Politiker. Unüberhörbar wurde immer lauter gefordert, mit der Orientierung der Wirtschaft ausschließlich am Profit müsse Schluss gemacht werden. Auf gesellschaftliche Relevanz komme es an, auch für Unternehmen. "Das Primat der Politik müsse wieder hergestellt werden", forderte insbesondere Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Andrea Nahles (SPD), die spätere Sozial- und Arbeitsministerin, beschrieb die neue Lage so: „Sicher ist, dass wir eine Renaissance von Politik erleben. Vielleicht auch eine Renaissance von sozialer, regulierter Marktwirtschaft. Wir haben jetzt ein paar Argumente mehr, warum ein starker Staat notwendig ist.“ Norbert Röttgen (CDU) sekundierte: „Die Globalisierung führt nicht zur Ohnmacht der Politik, sondern im Gegenteil zu einer Renaissance von Politik.“ Und der US-amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz frohlockte: „Der Neoliberalismus ist in den meisten westlichen Ländern tot“. Ab sofort hieß das wirtschaftspolitische Credo: „Regulierung, Intervention und Verstaatlichung.“
Dieser plötzliche Paradigmenwechsel hatte auch ganz persönliche Bezüge. Überzeugte Marktwirtschaftler wirkten plötzlich wie aus der Zeit gefallen. Friedrich Merz musste in den Medien viel Spott über sich ergehen lassen, als er mitten in der Finanzkrise in Berlin sein neues Buch „Mehr Kapitalismus wagen“ vorstellte. Ein völlig anderes Bild bot dagegen in jenen Tagen der Bankenretter Peer Steinbrück, der laut Medienberichten „vor Selbstbewusstsein strotzte“. Dem „Spiegel“ sagte er damals, dass „gewisse Teile der marxistischen Theorie doch nicht so verkehrt sind. Ein maßloser Kapitalismus, wie wir ihn erlebt haben, mit all seiner Gier, frisst am Ende sich selber auf.“
In Berlin sah man in politischen Kreisen trotz der bedrohlichen Finanz- und Wirtschaftskrise viele zufriedene Gesichter. Die Krise war „die ideale Situation für die Politik“ (Dirk Kurbjuweit). Beamte und Politiker, die bis dahin als Bremser galten, wurden zu Hoffnungsträgern und Rettern in der Not. Das „Primat der Politik“ konnte wiederhergestellt werden. Auch Angela Merkel (CDU) ließ sich von dieser Welle mitreißen und verkündete, künftig auf den Finanzmärkten „alle Marktteilnehmer, alle Produkte und alle Märkte wirklich überwachen und regulieren“ zu wollen. Dem Staat wurde wieder alles zugetraut.
Der ökologische Wohlfahrtsstaat
"Der ökologische Wohlfahrtsstaat verspricht uns Wohlgefühl und Sicherheit, wie es das Volksheim der untergegangenen Deutschen Demokratischen Republik nie vermocht hat. Im Gegensatz zu diesem will der ökologische Wohlfahrtsstaat nicht nur sozial, sondern eben auch ökologisch sein. Aber wie dieser wird er beinahe von allen politischen Kräften unterstützt. Gegenwärtig gibt es gegen den ökologischen Wohlfahrtsstaat höchstens eine kleine außerparlamentarische Opposition", schreibt Thomas Mayer in der FAS vom 2. April 2017.
Was den ökologischen Wohlfahrtsstaat kennzeichnet, ist sein unbändiger Drang nach immer neuen Aufgaben und Regulierungen. Längst ist er über die Lieferung mit Wasser und Strom sowie über die Abfuhr des Hausmülls und die Entsorgung des Abwassers hinausgewachsen. Er kümmert sich heute um die Umwelt und den Erhalt der Schöpfung ebenso wie um die soziale Gerechtigkeit und die internationale Solidarität. Er weiß, wie viel wir mindestens und wie viel wir höchstens verdienen sollen. Er sorgt für uns in Krankheit und im Alter und unterstützt unsere europäischen Nachbarn. Er schreibt uns vor, welche Energie wir verbrauchen dürfen und wie wir unsere Häuser dämmen müssen. Er sagt uns sogar, welche Nahrungsmittel unbekömmlich sind und vor welchen Gefahren wir uns schützen sollen. Der ökologische Wohlfahrtsstaat regiert ein Volk, das unmündig ist und bevormundet werden muss.
Die Kehrseite eines solchen Staates ist ein politisch-bürokratischer Komplex, der sich permanent über die Sorgen seines Volkes informieren lässt und in ständiger Bereitschaft steht, um ""Zielvorstellungen für das kollektive Handeln zu entwickeln und Antworten auf Probleme zu geben" (Jürgen Basedow in FAZ vom 7. Dezember 2017). Den Erfolg solcher Bemühungen bemessen die politischen Entscheidungsträger im Allgemeinen daran, wie viele Gesetze sie im Laufe einer Legislaturperiode beschlossen haben. In den letzten vier Jahren waren es allein auf Bundesebene mehr als 500 Gesetze, die viele Seiten des Gesetzblatts füllen. Es gibt kaum ein öffentliches Thema, zu dem nicht mindestens ein Gesetz verabschiedet worden ist.
"Gemeinsam ist allen Regelungen, dass sie privates Handeln vorschreiben, verbieten, kanalisieren, sanktionieren oder für unwirksam erklären, also jedenfalls Freiheit begrenzen. Das geschieht mit den Mitteln des zwingenden Privatrechts, häufiger noch des Verwaltungsrechts und auch des Strafrechts", sagt Jürgen Basedow. Gewiss ließen sich für jedes einzelne Gesetz vernünftige Gründe anführen, durch die Häufung dränge sich aber unvermeidlich der Eindruck einer fortschreitenden Verengung von Freiheitsräumen auf. Zudem scheine sich der Staat zunehmend eine Allwissenheit um die richtige Lösung jeglichen Problems anzumaßen, kritisiert Basedow. Alles in allem passe dies wenig zu Artikel 2 des Grundgesetzes, der das Grundrecht der "Freiheit der persönlichen Entfaltung" garantiere.
Basedow beanstandet zudem, dass die Frage, ob die Gesetze sich wirklich zur Behebung der Missstände eignen, im politischen Prozess weniger interessiere. Politiker jeder Couleur müssten vor allem den Eindruck von Kompetenz, Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit vermitteln, also - medial betrachtet - bella figura abgeben. Sollte nach einiger Zeit die Wirkungslosigkeit eines Gesetzes auffallen und das Thema immer noch die Gemüter beschäftigen, würde abermals der Ruf nach dem Staat laut, vor allem nach schärferen Sanktionen. Daraus folge dann regelmäßig ein Rattenschwanz von Eingriffen.
Das Primat der Politik
Nach der klassischen liberalen Lehre sind Staat und Gesellschaft zwei selbständige Bereiche, die unterschiedliche Aufgaben und Funktionen wahrnehmen. Im Verhältnis von Staat und Wirtschaft hat Walter Eucken dazu den Grundsatz postuliert, dass der Staat für die Rahmenordnung der Wirtschaft zuständig ist, die Steuerung der Wirtschaftsprozesse aber den Privaten überlassen soll. Folgt man diesem Grundsatz, so ist das "Primat der Politik" eine Kategorie des staatlichen Bereichs, während das "Primat des Privaten" dem wirtschaftlichen Bereich zuzuordnen ist.
Mit der derzeitigen Forderung nach Wiederherstellung des "Primat der Politik" ist jedoch beabsichtigt, den gesellschaftlichen und vor allem den wirtschaftlichen Bereich mehr und mehr zu politisieren. Hierzu wird ein immer dichteres Netz aus Normen, Vorschriften und Kontrollen über den privaten Bereich ausgebreitet, damit der politische Wille an die Stelle privater Motivation und Entscheidung treten kann. Der private Bereich schrumpft, und die Bewegungsfreiheit für private Initiative nimmt ab. Am Ende ist es eben nicht mehr die unsichtbare Hand des Marktes, die individuelles Handeln in die Richtung des Gemeinwohls lenkt, sondern es ist allein die direkte und durchaus unübersehbare öffentliche Hand. (Holger Bonus in FAZ vom 23.09.1978)
Die Quintessenz einer funktionierenden Marktwirtschaft besteht jedoch darin, dass sie das eigennützige Handeln der Individuen zwanglos in die Richtung des Gemeinwohls lenkt. Eine unsichtbare Hand, schrieb Adam Smith 1776, bewirke dies, und nennt das Handeln des Bäckers als Beispiel: Mit dem Verkauf seiner Backwaren will er persönlichen Gewinn machen, gleichzeitig leistet er damit aber einen Beitrag für die Ernährung seiner Kunden. Er tut es ganz aus eigenem Antrieb, spontan und ohne Zwang. Einzelwirtschaftliches und gesamtwirtschaftliches Handeln kommen dadurch zusammen, ohne dass jemand das für das Gemeinwohl Richtige festlegt.
Sozialistischer Geist misstraut dieser Funktionsweise des privaten Marktes. Es ist ihm schwer erträglich, dass jemand einfach seinem Eigeninteresse folgt, statt sich am „gesellschaftlich Relevanten“ zu orientieren. Wo solches Denken herrscht, wird man versuchen, privatwirtschaftliches und gesamtwirtschaftliches Interesse zu „entkoppeln“, um die Legitimation für staatliches Eingreifen zu schaffen. Solche Entkoppelungen werden in demokratischen Gesellschaften nicht schlagartig vollzogen, sondern graduell, in kleinen Schritten. Jeder dieser Schritte verstärkt jedoch ein wenig die Spannung zwischen privater Motivation und gesamtwirtschaftlichem Interesse.
Dies ist für die Marktwirtschaft eine überaus gefährliche Entwicklung. Denn für sie ist existenziell, dass private Motivation und gesamtwirtschaftliches Interesse einander nicht widersprechen, sondern in die gleiche Richtung weisen. Je ausgeprägter die Abweichung zwischen privatem und gesamtwirtschaftlichem Interesse, desto ausgeprägter wird auch die staatliche Intervention und Reglementierung sein. Indem man private Motivation und gesamtwirtschaftliches Interesse Stück für Stück voneinander löst, kann man eine Marktwirtschaft allmählich so weit aushöhlen, dass am Ende nicht mehr die private, sondern eine öffentlich gelenkte Wirtschaft steht.