Manipulierte Dieselgrenzwerte
Seit Verwaltungsgerichte landauf, landab auf Antrag der „Deutschen Umwelthilfe“ für ältere Diesel-Fahrzeuge Fahrverbote anordnen, rückt der Grenzwert für Stickstoffdioxit ("NO2“) verstärkt in den politischen Fokus. Für Empörung sorgte insbesondere die gerichtliche Anordnung einer Diesel-Verbotszone auf der Autobahn A 40 in Essen. Die Straße ist eine der meist befahrenen Autobahnen Deutschlands und wird in der Region auch als „Lebensader des Reviers“ bezeichnet.
Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) warnte in einem Interview: „Urteile wie diese gefährden die Mobilität von Hunderttausenden Bürgerinnen und Bürgern. Niemand versteht diese selbstzerstörerische Debatte.“ Das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen bezeichnete er als „unverhältnismäßig“.
Willkürliche NO2-Grenze
Die Kritik an der Verhältnismäßigkeit zielt auf den von der Europäischen Union (EU) festgesetzten Grenzwert von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid je Kubikmeter Luft. „ Aus medizinischer Sicht ist der Stickstoffdioxid-Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter völliger Unsinn“, argumentierte Alexander Kekulé, Professor für Medizinische Mikrobiologie und Virologie an der Universität in Halle-Wittenberg. Die Menge des in der Luft gemessenen Stickstoffdioxids in Deutschland sei weder giftig noch krebserregend. „Asthmatiker reagieren bei Werten oberhalb von 180 Mikrogramm je Kubikmeter mit einer leichten Schleimhautreizung. Bei Gesunden hingegen gibt es bis 1000 Mikrogramm je Kubikmeter keinen messbaren Effekt.“
Kekulé argumentierte zudem, dass die EU den Grenzwert von 40 Mikrogramm 1999 ungeprüft von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) übernommen habe. Grundlage sei eine WHO-Studie aus dem Jahr 1997 gewesen, die den Einfluss von Gasherden in Wohnungen auf Schulkinder ermitteln sollte, wobei 40 Mikrogramm angepeilt wurden. Diese Studie tauge jedoch nicht, um auf den Straßenverkehr übertragen zu werden, sagte der Mediziner. Die amerikanische Umweltbehörde EPA habe den Grenzwert für Außenluft deshalb auf 100 Mikrogramm je Kubikmeter festgesetzt – das Zweieinhalbfache des europäischen Grenzwerts.
Der Mediziner und Experte für Lungenerkrankungen, Professor Dr. med. Dieter Köhler, hält den Streit über Stickoxid-Grenzwerte für "Hysterie" und die angeblichen Gefahren für maßlos übertrieben. Der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter für Dieselmotoren beruhe auf statistischen Tricks und falsch bewerteten Studien. Das erkenne man schon daran, dass der Arbeitsplatzwert für Stickoxid in Deutschland bei 950 Mikrogramm, in der Schweiz sogar bei 6000 Mikrogramm und in den USA bei 9500 Mikrogramm liege. Doch die Lebenserwartung der Schweizer sei höher als die in Deutschland (DIE WELT vom 26. Nov. 2018). .
Die Bundesregierung hat die politische Gefahr erkannt, die mit weiteren Verbotszonen für Dieselfahrzeuge verbunden ist. Mitte November 2018 beschloss das Kabinett eine Änderung des Bundesimmissionsschutzgesetzes, nach der Fahrverbote in Städten mit einer Stickoxid-Belastung von weniger als 51 Mikrogramm in der Regel als „unverhältnismäßig“ gelten. Dies ist vor allem eine Reaktion auf das Fahrverbot für die Autobahn A40 in Essen, wo im Jahresmittel nicht mehr als 50 Mikrogramm gemessen wurden. Über diesem Wert liegen derzeit jedoch 15 Städte, die weiterhin im Visier der „Deutschen Umwelthilfe“ stehen und mit Fahrverboten rechnen müssen.
Jürgen Resch, der Chef der „Deutschen Umwelthilfe“, jubelte über das gerichtlich angeordnete Fahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge auf der A 40, weil erstmals eine Autobahn, also das „Symbol der Mobilität in Deutschland“, einbezogen wurde. Hierauf antwortete Holger Steltzner in der FAZ vom 17. November 2018 mit scharfer Kritik: „Jetzt zeigt sich, worum es diesem Lobbyisten- und Abmahnverein wirklich geht. Der motorisierte Individualverkehr soll abgeschafft werden. Das erklärt die Jagd auf Dieselfahrer, die nichts anderes getan haben, als vor einiger Zeit, meist für viel Geld, einen ordnungsgemäß zugelassenen Diesel gekauft zu haben.“ Den Umweltbeamten und Verwaltungsrichtern machte Steltzner den Vorwurf, „Verhältnismäßigkeit und Maß und Mitte“ verloren zu haben. „Durch geringfügige Überschreitung von fragwürdigen EU-Grenzwerten drohen Fahrverbote in ganzen Städten. Dabei wird die Luft seit Jahren (gemessen!) besser, obwohl deutsche Messstellen übereifrig nah am Auspuff aufgestellt wurden.“
Fehlerhafte Messstellen
Tatsächlich halten viele Luftmessstationen in Deutschland nicht den von der Europäischen Union (EU) geforderten Mindestabstand ein, wie Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) ergeben haben. Nach den Vorgaben der EU ist die Luftqualität in mindestens 25 Metern Entfernung von der nächsten verkehrsreichen Kreuzung zu messen. Nachweislich halten laut FAS die Messstationen in München in der Nähe des Stachus, in Essen an der Steeler Straße, in Mainz an der Parcusstraße und in Wiesbaden an der Ringstraße diesen Mindestabstand nicht ein. Gleichwohl werden auch die Werte von falsch stehenden Messstellen in den Gerichtsprozessen um Fahrverbote herangezogen.
Den Verkehrsministern von Bund und Ländern ist dieser skandalöse Sachverhalt seit längerem bekannt. Sie beschlossen deshalb schon im April dieses Jahres, alle Stationen vom Deutschen Wetterdienst überprüfen zu lassen. Doch vier grüne Verkehrsminister (Baden-Württemberg, Berlin, Bremen und Hessen) sperrten sich gegen eine solche Überprüfung. Sie wandten sich "gegen eine Instrumentalisierung der Debatte um Messstellen“ und sprachen sich dafür aus, "den Fokus auf die wirksamen Maßnahmen zur Reduktion der Luftbelastung zu legen“. Der wirkliche Grund für ihre Weigerung war jedoch ein anderer: Von den ersten acht überprüften Messstellen in Nordrhein-Westfalen blieben nur vier unbeanstandet. In drei Fällen empfahl der Wetterdienst technische Veränderungen. Bei einer war die Entfernung der Station von einer großen Kreuzung zu gering.
Hinsichtlich des Standortes von Messstellen hat Peter von Wichert, ehemals Direktor der Medizinischen Poliklinik der Philipps-Universität Marburg, darauf hingewiesen, dass die Wirkung von biologischen Schadstoffen abhängig ist "von ihrer Konzentration und von der Zeitdauer, in der man ihnen ausgesetzt ist. Wenn etwa eine Messstelle dicht an eine viel befahrene Straße gerückt wird oder an eine Kreuzung, dann muss man darauf hinweisen: Direkt dort wohnt und arbeitet keiner. Und ein paar Meter entfernt ist die Konzentration schon viel geringer. Wer dort entlang geht, ist ebenfalls höchstens kurz dem NO2 ausgesetzt, insbesondere in höheren Konzentrationen."
Die FDP forderte inzwischen, den Spielraum für die Messstandorte so zu verengen, dass die Luft nicht mehr so nah wie bisher an den Kreuzungen gemessen wird. „Es kann nicht sein, dass Deutschland das einzige Land in der EU ist, in dem die grüne Anti-Auto-Lobby darüber entscheidet, wie und wo gemessen wird, und dabei die EU-Messspielräume bewusst ausreizt und möglichst nah am Fahrbahnrand oder an Kreuzungen misst“, kritisierte der verkehrspolitische Sprecher Oliver Luksic.
Wirkungslose Fahrverbote
Nachdem das Bundesverwaltungsgericht im Februar 2018 die Zulässigkeit von Fahrverboten grundsätzlich bejaht hatte, war Hamburg die erste Stadt, die das wegweisende Urteil umsetzte. Betroffen sind 600 Meter der Max-Brauer-Allee, außerdem 1,6 Kilometer auf der der stark frequentierten Stresemannstraße. Während die Max-Brauer-Allee für Lkw und Pkw gesperrt ist, gilt die Regelung auf der Stresemannstraße nur für Lkw.
Vergleichende Messungen zeigen jedoch, dass die Fahrverbote bisher wirkungslos waren. Die Messstationen in den beiden Hauptstraßen registrierten im Oktober 2018 im Schnitt 48 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft. Im Oktober 2017 war es mit 39 Mikrogramm deutliche weniger – und das, obwohl die Fahrverbote damals noch gar nicht galten. Die Stickoxid-Werte sind also im Vergleich zum Vorjahr gestiegen.
Bei der Umweltbehörde will man von einer Wirkungslosigkeit der Maßnahme trotzdem nichts wissen. „Für eine belastbare Aussage brauchen wir das Jahresmittel – und das liegt erst in einem halben Jahr vor“, sagte ihr Sprecher Björn Marzahn. „Es gibt keine Pläne, die Fahrbeschränkungen aufzuheben.“
Genau das forderte aber Stephan Gamm, umweltpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Die steigende Stickoxidbelastung entlarve die „Sinnlosfahrverbote“ des Umweltsenators als wirkungslose Maßnahme. „Hunderte Anwohner werden auf der kilometerlangen Ausweistrecke zusätzlich belastet, anliegende Schulen schlagen Alarm und die Polizei wird mit den Kontrollen unnötig von anderen Einsätzen abgehalten“, sagte Gamm. Selbst von den Linken gab es Kritik: „Diese Maßnahme des Senats erweist sich als Beruhigungsmittel und PR-Gag“, monierte der Abgeordnete Norbert Hackbusch.
Geleugnete Verantwortung
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat die Verantwortlichen für das Dieseldesaster bereits identifiziert: Es sind die Kommunen, die mit veralteten Luftreinhalteplänen vor den Verwaltungsgerichten aufträten und die Anordnung von Fahrverboten zu verantworten hätten. Scheuer hatte auch gleich ein Mittel parat, wie er diesem Übel abhelfen wolle. „Es gibt aus diesem Ministerium für Kommunen künftig nur noch Fördermittel, wenn aktuelle Luftreinhaltepläne vorgelegt werden“, sagte er auf der FAZ-Mobilitätskonferenz. Scheuer hofft, dass eine Aktualisierung der Luftreinhaltepläne dazu führen könnte, dass die Verwaltungsrichter die vielen drohenden Fahrverbote doch noch kippen.
Nach europäischem Recht sind alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, Luftreinhaltepläne aufzustellen, wenn EU-Grenzwerte etwa bei Stickstoffdioxid oder Feinstaub überschritten werden. In einem solchen Plan werden Gebiete identifiziert, in denen Grenzwerte nicht eingehalten werden. Gleichzeitig muss angegeben werden, wann und wie eine dauerhafte Minderung der Schadstoffkonzentrationen erreicht werden soll. Viele Kommunen haben Umweltzonen festgelegt, digitale Verkehrskonzepte eingeführt oder den Nahverkehr mit umweltschonenden Fahrzeugen ausgestattet.
Der Bund unterstützt solche Maßnahmen mit dem 2017 aufgelegten „Sofortprogramm Saubere Luft“. Darauf bezieht sich Scheuer, wenn er sagt: „Wir werden die Kommunen in die Pflicht nehmen.“ Die Vertreter der Städte und Gemeinden warnen jedoch davor, den Kommunen den Schwarzen Peter zuzuschieben. Die Verantwortung für Luftreinhaltepläne liege meistens bei den Ländern und Regierungsbezirken. Zudem sei die Autoindustrie gefordert, für bessere Luft zu sorgen – auch mit Nachrüstungen bei den Fahrzeugen.
Unverhältnismäßige Überwachung
Wie künftige Dieselsünder festgestellt und bestraft werden, hat Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) inzwischen entschieden. Schon bald werden die Behörden alle Autos samt Fahrer auf Straßen mit Dieselfahrverboten mit Kameras erfassen, abspeichern und überprüfen. Der Gesetzentwurf dazu liegt bereits im Bundestag. Nach dem neuen Paragrafen 63c Straßenverkehrsgesetzes (StVG) sollen die Landesbehörden künftig folgende Daten „automatisiert“ erheben: Das Kennzeichen von Fahrzeugen, das Bild des Fahrzeugs und des Fahrers sowie Ort und Zeitpunkt. Anschließend soll die Behörde den Datensatz automatisch mit den beim Zentralen Fahrzeugregister hinterlegten Informationen abgleichen und klären, ob ein Bußgeld fällig ist oder nicht.
Mit der Zahl und Größe der gesperrten Straßen und Plätze werden auch die Kontrollen zunehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass ganze Innenstädte überwacht werden. Kritiker sehen deshalb den Datenschutz gefährdet und fürchten das Wachsen des Überwachungsstaats. Der Bundesverkehrsminister hält jedoch dagegen: „Wir haben uns gegen die Blaue Plakette entschieden. Aber wenn wir saubere Diesel auf den Straßen haben wollen, müssen wir die Einhaltung der Vorschriften auch kontrollieren dürfen“, sagte er auf einer Konferenz „Mobilität in Deutschland“.
Frederick Richter von der Stiftung Datenschutz ist demgegenüber skeptischer: Er habe „große Bedenken“, ob eine stärkere automatische Verkehrsüberwachung zur Durchsetzung von Fahrverboten verhältnismäßig sei, sagte er. In vielen Städten seien die Messstellen fehlerhaft plaziert. „Auf dieser wackeligen Grundlage darf keine Kontrollinfrastruktur zulasten der Privatsphäre der Autofahrer ausgebaut werden.“
Und Holger Appel schreibt in der FAZ vom 15. November 2019: "Es ist hohe Zeit, denjenigen, die es erst auf den Verbrennungsmotor und dann auf die individuelle Mobilität abgesehen haben, entschieden entgegenzutreten und der Vernunft eine Rettungsgasse zu bilden."