Deutschland kapituliert
In Fragen der Wirtschafts- und Finanzpolitik bestehen zwischen Deutschland einerseits und Frankreich sowie Italien andererseits nicht zu übersehende Unterschiede. Die Gründe dafür ergeben sich aus den jeweiligen Wirtschaftskulturen. Ludwig Erhard verstand unter Wirtschaftspolitik in erster Linie Ordnungspolitik, d.h. die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Der Grundsatz der Haftung spielt dabei eine zentrale Rolle. Demgegenüber standen der Staat und seine Gestaltungsmacht in Frankreich immer im Vordergrund der Wirtschaftspolitik. Wichtige Anliegen sind vor allem die Handlungsfähigkeit und Flexibilität einer starken Exekutive.
Aus solchen Unterschieden ergeben sich in der Geld- und Wirtschaftspolitik gegensätzliche Handlungsempfehlungen: Für die deutsche Notenbank war die Stabilität der Währung oberstes Gebot. Damit sollte Sparen und solides Haushalten belohnt werden. Demgegenüber sehen französische Politiker in der Währung ein Mittel, um Wachstum und Beschäftigung zu fördern. Schulden von Banken oder Staaten interpretieren sie eher als ein Liquiditätsproblem, das sich mit staatlicher Hilfe lösen lässt.
Die südlichen Länder in Europa folgen weitgehend der französischen Denkweise, während der Norden eher den deutschen Positionen zuneigt. Mehr und mehr hat sich aber in den europäischen Institutionen die französische Sichtweise durchgesetzt, weil die Bundesregierung in der Währungsunion ständig Zugeständnisse machte und gegenüber den südeuropäischen Ländern kapitulierte. Der Deutsche Bundestag leistete dagegen kaum Widerstand, weil man die Bundeskanzlerin nicht brüskieren wollte.
Die italienische Offensive
Derzeit ist es die italienische Regierung, die einen weiteren Angriff vorbereitet, um die noch verbliebenen Reste der deutschen Vorstellungen abzuräumen. Thomas Mayer berichtete in der FAS vom 23. September 2018 von einem Treffen, an dem Innenminister Salvini, Außenminister Di Maio und Finanzminister Tria teilnahmen. Anlass der Sitzung war die Formulierung einer italienischen Position in den Verhandlungen über die Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Die Ministerriege forderte unter anderem eine Erweiterung der Satzung der Europäischen Zentralbank. Außer auf Preisstabilität soll die EZB zukünftig auch auf die Förderung von Wirtschaftswachstum verpflichtet werden, wie dies in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Außerdem soll die EZB den Wechselkurs des Euro durch Interventionen am Devisenmarkt steuern können und als Kreditgeber der letzten Instanz für Staaten zur Abwehr „spekulativer Angriffe“ im Markt für Staatsanleihen agieren.
Des Weiteren wollen die italienischen Minister eine „europäische Investitionspolitik“ einleiten, um das unbefriedigende Wirtschaftswachstum zu erhöhen und die Unterschiede in der Produktivitätsentwicklung zwischen den Euro-Staaten abzubauen. Diese Politik soll „von den finanziellen Zwängen des europäischen Haushalts“ losgelöst werden, also nicht den Beschränkungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts unterliegen.
Thomas Mayer erklärt diesen Vorstoß damit, dass es die italienische Wirtschaft nicht geschafft hat, sich den Zwängen der europäischen Währungsordnung anzupassen. Das Versagen sei besonders in den zehn Jahren seit der Finanzkrise deutlich geworden. Heute befänden sich die Industrieproduktion 15 Prozent und das reale Bruttoinlandsprodukt 3,4 Prozent unter ihren Niveaus von 2008. Zehn Jahre Minuswachstum seien für jede Gesellschaft schwer erträglich.
Zu den Ursachen gibt es allerdings divergierende Meinungen: Aus deutscher Sicht sind der Grund dafür Italiens strukturelle Verkrustungen, die eine Anpassung der Wirtschaft an die durch den Euro erzeugten Erfordernisse verhindern. Aus italienischer Sicht ist dagegen das Ende der Politik der Währungsabwertungen und schuldenfinanzierten Staatsausgaben, das durch die Währungsunion erzwungen werden sollte, für das Minuswachstum verantwortlich, Diese Zwänge zu beseitigen, ist das Ziel der italienischen Regierung.
Die Euro-Währung
Für die Euro-Mitgliedsländer war die Einführung des Euro mit dem Verzicht auf wichtige wirtschaftspolitische und fiskalische Kompetenzen verbunden. Die nationalen Zentralbanken verloren ihre geldpolitische Zuständigkeit und damit die Möglichkeit, Geld zu schöpfen, um die nationalen Haushalte zu finanzieren. Außerdem verschwanden mit dem einheitlichen Euro innerhalb der Euro-Zone die Wechselkurse, mit denen man bis dahin die unterschiedliche Preis- und Kostenentwicklungen in den Ländern ausgeglichen hatte. Zudem unterwarfen sich die Mitgliedsstaaten in ihrer Haushaltsführung und Schuldenpolitik vertraglichen Regeln, die ihre Handlungsfähigkeit einschränkten.
Vor allem für die Politiker in den ehemaligen Weichwährungsländern im Süden Europas war dies eine grundlegend neue Lage. Jahrzehntelang hatten sie eine expansive Haushalts- und Geldpolitik betrieben, ohne sich um die Finanzierung der staatlichen Defizite und Schulden zu kümmern. Denn diese Aufgabe erledigten die nationalen Notenbanken, indem sie den Regierungen die benötigten Kredite gaben oder Staatsanleihen kauften. Auch die mit einer solchen Politik verbundenen hohen Inflationsraten empfand man nicht als Katastrophe. Wenn die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft darunter zu sehr litt, wertete man die nationale Währung ab. So ging das Spiel bis zur Einführung des Euro. Danach wurde alles anders.
Die deutsche Seite erwartete, dass die neue Währungsordnung nach den von ihr vorgeschlagenen und durchgesetzten Regeln funktionieren werde. Tatsächlich geriet die EZB jedoch schon bald unter den Einfluss von Geldpolitikern aus dem Süden Europas, für die das Stabilitätsziel und solides Haushalten flexible Größen waren, die sich den politischen Zielen der jeweiligen Regierung anzupassen hatten. Nach ihrer Einschätzung hatte die EZB die vorrangige Aufgabe, die Regierung bei ihren wirtschaftspolitischen Zielen mit den Instrumenten der Geldpolitik zu unterstützen.
Deutsche Positionen
Die von Deutschland bei Einführung des Euro vertretenen Positionen zur Einheitswährung und der Haushaltsführung der Euro-Staaten finden sich im Maastricht-Vertrag.
Die deutsche Stabilitätskultur ist vertraglich im Artikel 105 Abs. 1 des Vertrages verankert: „Das vorrangige Ziel des Europäischen Zentralbanksystems ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft“. Mit diesem Kernsatz des Vertrages haben alle Mitgliedsstaaten und europäischen Institutionen einschließlich die Europäische Zentralbank (EZB) akzeptiert, dass die Preisstabilität das vorrangige Ziel der Geldpolitik sein sollte.
Im Maastricht-Vertrag wurden außerdem „fiskalische Regeln“ für die Haushaltsführung und Schuldenpolitik in den Mitgliedsstaaten vereinbart. Art. 104 verbot allen öffentlichen Haushalten in der EU, bei den nationalen Notenbanken und der Europäischen Zentralbank Kredite aufzunehmen. Mit diesem Verbot der monetären Staatsfinanzierung sollte der Finanzierung von Haushaltsdefiziten durch die Notenbanken ein Riegel vorgeschoben werden.
Außerdem regelte Art. 104b, dass eine Haftung der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten für die Kredite anderer öffentlicher Körperschaften oder Einrichtungen generell ausgeschlossen war. Mit diesem Beistandsverbot wurde das Haftungsprinzip in der Währungsunion ein zentraler Grundsatz. Jeder Staat war für seine Kredite selbst verantwortlich, und andere Staaten durften dafür nicht verantwortlich gemacht werden („no-bail-out“).
Mit dem Stabilitätspakt von 1996/97 wurden zudem die Obergrenzen für Haushaltsdefizite auf 3 Prozent und für die Gesamtverschuldung auf 60 Prozent des Bruttosozialprodukts festgelegt. Für den Fall, dass gegen diese Obergrenzen verstoßen wurde, sah der Vertrag die Möglichkeit von Sanktionen vor.
Frühe Regelverstöße
Schon im Sommer 2007, also vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, begann der damalige EZB-Chef Jean-Claude Trichet mit dem Ankauf von zunächst griechischen, dann auch spanischen und italienischen Staatsanleihen, um notleidende Banken mit Liquidität zu versorgen. Dies geschah unbemerkt von der Öffentlichkeit, nur einige Regierungschefs wie Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden davon informiert.
Jean-Claude Trichet sagte der FAS am 29. Dezember 2013 in einem Interview: "Eine weitere sehr bedeutende Entscheidung fiel im August 2007, als die Krise begann und der Geldmarkt zusammenbrach. Damals haben wir zum ersten Mal beschlossen, den Banken so viel Geld zu geben, wie sie haben wollten, ohne Grenze. Das war eine schwierige Entscheidung, weil sie völlig unkonventionell war und weil wir sie in kürzester Zeit treffen mussten, innerhalb weniger Stunden.“
Der EZB-Chef rechtfertigte diese Ankaufspolitik mit der „Gefährdung des Euro“ und stellte die rhetorische Frage: „Wie sollte die Notenbank sich um die Stabilität des Geldwertes kümmern, wenn der Fortbestand der Währung selbst gefährdet ist?“ Er verstand die EZB nicht als neutrale Hüterin des Geldes, sondern nach französischer Tradition als eine politische Institution an der Seite der Regierung. Wenn nötig, gehörte auch der Ankauf von Staatsanleihen dazu.
Damit erklärte der EZB-Chef eigenmächtig die Finanzmarktstabilität zu einem weiteren Ziel der EZB. Dass er damit außerhalb der vertraglichen Kompetenzen der EZB handelte, störte weder Jean-Claude Trichet noch die in diese Ankäufe eingeweihten Regierungschefs einschließlich Angela Merkel.
Ebenso großzügig gingen die Regierungen und die EU-Kommission mit den im Maastricht-Vertrag vereinbarten Fiskalregeln um. Nach der Einführung des Euro ließen die Bemühungen, die Haushaltsdefizite und die Verschuldung zu verringern, rapide nach. Infolgedessen häuften sich die Verstöße gegen die Obergrenzen für Haushaltsdefizite (3 Prozent) und für die Gesamtverschuldung (60 Prozent). Unter den Sündern befanden sich auch Länder wie Deutschland und Frankreich.
Die EU-Kommission bemühte sich anfangs um die Einhaltung der Regeln, Sanktionen konnten aber nicht durchgesetzt werden, weil der Europäische Rat darüber zu entscheiden hatte. Die Regelverstöße blieben demnach ohne Folgen, so dass auch die Fiskalregeln mehr und mehr ihre Verbindlichkeit verloren. Inzwischen sind sie so weit aufgeweicht worden, dass sie allenfalls noch den Charakter von unverbindlichen Empfehlungen haben.
Der vorläufige Rettungsschirm
Das Vehikel zur Beseitigung des im Maastricht-Vertrag verankerten Beistandsverbots sind die europäischen Rettungsschirme. Den ersten Schritt dazu machte Angela Merkel Anfang 2010 mit ihrer Zusage an die griechische Regierung, Griechenland zu helfen, um das Land vor der Staatspleite zu retten. Daraufhin wurde für Griechenland ein europäisches Hilfspaket in Höhe von 110 Mrd. Euro geschnürt, dem der Deutsche Bundestag am 7. Mai 2010 zustimmte. Schon damit verstießen die europäischen Regierungen gegen das Beistandsverbot des Maastricht-Vertrages. Angela Merkel begründete diese Hilfe jedoch mit dem Satz: „Scheitert der Euro, scheitert Europa.“
Während der Bundestag der Griechenlandhilfe zustimmte, trafen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel, um über die kritische Lage einiger Eurostaaten zu beraten. In Vorbesprechungen hatten die Südländer ihre Forderungen für die Verhandlungen festgelegt: Für alle Euro-Staaten sollte das Beistandsverbot („No-bail-out-Regel) abgeschafft werden. Außerdem sollte die EZB veranlasst werden, unbeschränkt Staatsanleihen der südlichen Problemländer anzukaufen. An diesen Vorbesprechungen war aus Deutschland niemand beteiligt.
In der entscheidenden Sitzung des EU-Gipfels, an der auch Angela Merkel teilnahm, wurden die Forderungen der Südländer einstimmig beschlossen. Der Beschluss sah vor, dass ein auf drei Jahre befristeter Euro-Rettungsfonds (ESFS) mit einem Gesamtvolumen von 500 Mrd. Euro geschaffen werden sollte. Außerdem wurde die EZB aufgefordert, flankierend Staatsanleihen kriselnder Länder anzukaufen.
Mit diesem Doppel-Beschluss wurden zwei Grundregeln der Euro-Ordnung, das Beistandsverbot und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung, faktisch außer Kraft gesetzt. Damit vollzog die Bundesregierung – nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit – eine grundsätzliche Kehrtwende der deutschen Europapolitik. Es war eine Kapitulation vor den südlichen EU-Ländern.
Darüber hinaus verabschiedete sich die von Angela Merkel geführte Bundesregierung von einer Zusage, die Helmut Kohl dem deutschen Volk vor Einführung des Euro gegeben hatte: „Deutschland muss nicht für die Schulden anderer Länder aufkommen. Der Maastrichter Vertrag verbietet ausdrücklich, dass die Europäische Union oder ein anderer EU-Partner für die Schulden eines Mitgliedstaates haften.“
Rechtsanwalt Markus C. Kerber, einer der späteren Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht, verurteilte das Verhalten der Bundeskanzlerin und ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble scharf: „Dass man die faktische Revision des Maastricht-Vertrages nun nolens volens akzeptiert, veranschaulicht das mangelnde Selbstbewusstsein deutscher Politik.“
Der endgültige Rettungsschirm
Am 27. Oktober 2010 erklärte Angela Merkel im Deutschen Bundestag, dass der vorläufige Rettungsschirm (ESFS) planmäßig im Jahr 2013 auslaufen werde. Vier Wochen später galt dies schon nicht mehr. Denn in Brüssel hatte sich die südlichen EU-Länder mit ihrer Auffassung durchgesetzt, dass der ESFS durch einen dauerhaften Rettungsschirm mit deutlich erweiterten Kompetenzen ersetzt werden sollte.
Um dies zu ermöglichen, beschloss der Europäische Rat auf Veranlassung der deutschen Regierung am 25. März 2011 zu Artikel 136 AEU-Vertrag folgende Vertragsergänzung: „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ Mit dieser Ergänzung sollte der Verletzung des Beistandsverbots eine rechtliche Grundlage gegeben werden.
Die Verhandlungen der europäischen Staats- und Regierungschefs über den geplanten (dauerhaften) ESM-Rettungsschirm fanden auf dem Euro-Gipfel am 21. Juli 2011 statt. Für diese Verhandlungen beschloss der Deutsche Bundestag Richtlinien (Beschluss vom 17. März 2011, DS 17/4880), die die Bundesregierung binden sollten. Denn es gab inzwischen in den Koalitionsfraktionen deutliche Vorbehalte gegenüber der Rettungspolitik der Bundesregierung. Nach dem Beschluss des Bundestages sollte es das Ziel aller zukünftigen Hilfsprogramme sein, die Haushaltsdisziplin der Schuldnerländer zu verbessern und keine Anreize für die Fortsetzung des Schuldenkurses zu bieten. Zu diesem Zweck sollten Hilfskredite zu marktüblichen Zinsen gewährt werden. Der Beschluss sah weiter vor, dass Hilfen nur im „äußersten Notfall“ gewährt werden durften. Ausgeschlossen waren außerdem „gemeinsam finanzierte oder garantierte Schuldenaufkaufprogramme“.
Die Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs auf dem Euro-Gipfel vom 21. Juli 2011 gingen jedoch weit über das hinaus, was der Deutsche Bundestag konzedieren wollte: So sollte das Hilfsprogramm für Griechenland um weitere 109 Mrd. Euro aufgestockt wurde. Die neuen Kredite für Griechenland lagen zudem weit unter den vom Bundestag geforderten „Marktbewertungen“.
Darüber hinaus sollten die Interventionsinstrumente des Euro-Krisenfonds deutlich ausgeweitet werden. Er sollte die Möglichkeit erhalten, auch "präventiv tätig" zu werden, also nicht nur im „äußersten Notfall“, wie es der Bundestag gefordert hatte. Weiter wurde der Fonds ermächtigt, auf dem Sekundärmarkt Anleihen von Krisenländern aufzukaufen, obgleich der Bundestag dies ausdrücklich ausgeschlossen hatte.
Der Deutsche Bundestag hätte deshalb allen Grund gehabt, die Beschlüsse des Euro-Gipfels vom 21. Juli 2011 abzulehnen. Tatsächlich stimmten die Regierungsfraktionen ihnen jedoch in der Bundestagssitzung am 23. September 2011 zu, um die Bundesregierung nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Die Chance, wenigstens Reste der ehemals deutschen Position zu erhalten, wurde damit vertan.
Das OMT-Programm
Was der EZB-Chef Jean-Claude Trichet begonnen hatte, vollendete sein Nachfolger Mario Draghi. Vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Lage auf den Finanzmärkten hielt Draghi am 26. Juli 2012 in der Londoner City eine Rede, in der er - außerhalb des offiziellen Redemanuskriptes wie zufällig - sagte: „Innerhalb ihres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, um den Euro zu retten. Und glauben Sie mir – es wird reichen“. Die Akteure auf den Finanzmärkten hatten ihn sofort verstanden: Die EZB werde zukünftig alles tun, um überschuldete Euro- Staaten zu retten, koste es was es wolle. Endlich hatte Draghi die „große Bazooka“ herausgeholt!
Draghis Ankündigung war keine spontane Äußerung, sondern von langer Hand vorbereitet und mit der deutschen und französischen Regierung abgestimmt. Vor seiner Rede in London hatte er sich mit Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande getroffen, die ihm den Rücken stärkten. Mario Draghi sollte die Aufgabe des Retters in Europa übernehmen, weil die EU-Kommission samt ESM-Rettungsschirm damit überfordert waren.
Sechs Wochen nach seiner Rede stellte Mario Draghi das OMT-Programm vor, mit dem unbegrenzt Staatsanleihen von Euroländern gekauft werden konnten. Bedingung war, dass sich die Staaten einem Sanierungsprogramm des ESM unterwarfen, die Anleihen eine Laufzeit von drei Jahren hatten und die Ankäufe auf dem Sekundärmarkt erfolgen konnten.
Die Wirkung des OMT-Programms war verblüffend. Die Risikoaufschläge für Staatspapiere der Krisenstaaten gingen zurück, und die Finanzmärkte beruhigten sich, ohne dass das von der EZB vorsorglich aufgelegte OMT-Programm zur Anwendung kommen musste. So fiel beispielsweise der Renditeabstand deutscher und spanischer Staatsanleihen, der Mitte 2012 bei etwa 5,5 Prozentpunkte lag, bis Ende 2014 auf nur noch 1,0 Prozentpunkte.
Das OMT-Programm war so konstruiert, dass es formal nicht gegen den Maastricht-Vertrag verstieß. Materiell beinhaltete es aber einen massiven Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung. Die Bundesregierung kommentierte das OMT-Programm lediglich mit dem Hinweis, dass die EZB unabhängig sei.
Gegen das OMT-Programm wurden beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zahlreiche Verfassungsbeschwerden eingelegt, um seine Rechtswidrigkeit feststellen zu lassen. In seinem Vorlagebeschluss für den Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom Februar 2014 stellte das BVerfG fest, dass der „OMT-Beschluss nicht vom Mandat der Europäischen Zentralbank gedeckt sein dürfte“. Nach Auffassung der Verfassungsrichter handelte es sich bei dem OMT-Programm um eine wirtschaftspolitische Maßnahme, für die die EZB keine Zuständigkeit besaß. Als Notenbank darf sie nach den europäischen Verträgen nur Währungspolitik betreiben.
Anteilskäufe der EZB
Das OMT-Programm wurde von der EZB nie umgesetzt. Am 22. Januar 2015 beschloss die Europäische Zentralbank (EZB) jedoch ein weiteres Programm zum Ankauf von Euro-Staatsanleihen (PSPP). Das Programm sah zunächst vor, dass die Zentralbank von europäischen Banken monatlich für 60 Milliarden Euro Staatsanleihen im Volumen von insgesamt 1,8 Billionen Euro ankauft. Für den Ankauf galt der Kapitalschlüssel der nationalen Notenbanken bei der EZB. Ein Fünftel der Käufe erwarb die EZB auf Gemeinschaftsrechnung, der Rest wurde auf getrennte Rechnung der nationalen Notenbanken erworben. Das Ankaufprogramm wurde mehrfach erweitert.
Die Entscheidung der EZB löste unter Ökonomen und Juristen eine heftige Diskussion über die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit eines solchen Programms aus. Der ehemalige Ifo-Chef Hans-Werner Sinn warf ihr Selbstherrlichkeit, Überdehnung ihres Mandats und Umgehung demokratischer Hürden vor. Und Nikolaus von Bomhard, Chef des Dax-Konzerns „Munich Re“, nutzte eine Pressekonferenz zu einer Generalabrechnung mit der aktuellen Geldpolitik der Zentralbank. Er kritisierte die Erosion des Rechts und eine massive Umverteilung zulasten der Ärmeren. Mario Draghi müsse von der Politik gestoppt werden. „Dass wir nichts von der Bundesregierung hören, finde ich in höchstem Maße befremdlich“, sagte von Bomhard.
Der Präsident der EZB, Mario Draghi, verwahrte sich umgehend gegen diese Kritik aus Deutschland: Die EZB habe ein Mandat, die Preisstabilität zu wahren, worunter sie eine mittlere Inflationsrate von knapp 2 Prozent verstehe. "Wir gehorchen dem Gesetz, nicht Politikern, weil wir unabhängig sind", sagte Draghi. Die EZB mache Geldpolitik für die gesamte Eurozone, nicht nur für Deutschland. Kritik könnte als Gefährdung der Unabhängigkeit gesehen werden, die notwendigen Maßnahmen zu tun. Draghi betonte, wenn es nötig sei, werde die EZB die Geldpolitik noch weiter lockern und "alle Instrumente innerhalb ihres Mandats" einsetzen.
Daraufhin meldete sich Wolfgang Schäuble (CDU) zu Wort: Die Nullzinspolitik der EZB würde Bankbilanzen zerrütten, die Altersvorsorge der Deutschen ruinieren und den Aufstieg populistischer Parteien begünstigen. Er warnte aber gleichzeitig davor, die Unabhängigkeit der EZB anzuzweifeln: "Wenn wir nun den Fehler machen, die Unabhängigkeit der EZB in Deutschland anzugreifen, wären die Schäden größer als der Nutzen", sagte er. Die Deutschen seien für die Unabhängigkeit der EZB eingetreten. "Dann muss man ihre Entscheidungen auch akzeptieren, wenn sie einem nicht gefallen. Die Unabhängigkeit der EZB in Frage zu stellen, halte ich nicht für gut.“
Wolfgang Schäuble kündigte gleichzeitig an, er werde auf dem bevorstehenden G-20-Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs für einen Ausstieg aus der extrem lockeren Geldpolitik werben. Dem amerikanischen Finanzminister Jack Lew habe er telefonisch bereits empfohlen, die Federal Reserve zu ermutigen, in einer koordinierten Aktion aus der Politik des leichten Geldes „langsam rauszugehen“. Nach seinem Eindruck seien auch die Amerikaner inzwischen "hoch besorgt" über die Volatilität an den Finanzmärkten, die durch die extrem lockere Zinspolitik der Notenbanken entstanden sei. Die Einsicht wachse, dass "das Übermaß der Liquidität inzwischen mehr Ursache als Lösung des Problems" ist.
Europäischer Gerichtshof
Mitte August 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht über mehrere Verfassungsbeschwerden im Sinne der Beschwerdeführer und legte den Beschluss dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor. Dieser beraumte Mitte 2018 einen Anhörungstermin an, in dem die Beteiligten ihren Standpunkt darlegen konnten.
Bemerkenswert waren dabei die Einlassungen der Bundesregierung, mit denen sie sich auf die Seite der EZB und EU-Kommission schlug. In früheren Verlautbarungen hatte sie immer wieder betont, sie wolle zu Entscheidungen der EZB nicht Stellung nehmen, weil diese „unabhängig“ sei. Insidern war jedoch bekannt, dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel der EZB für die umstrittenen Anleihekäufe grünes Licht gegeben hatte.
Vor dem Luxemburger Gericht musste die Bundesregierung allerdings Farbe bekennen. In ihrer Stellungnahme gegenüber dem Europäischen Gerichtshof unterstützte sie offen die Linie der EZB bei ihrer Ankaufspolitik und distanzierte sich damit von der kritischen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. In ihrer „Erklärung“ räumt die Bundesregierung zwar ein, dass die expansive Geldpolitik „teilweise nicht unproblematisch“ sei, abschließend stellt sie jedoch fest, dass das umstrittene Staatsanleihekaufprogramm nicht gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung verstoße. So äußerte sich plötzlich auch Wolfgang Schäuble.
Sehr viel reservierter klang demgegenüber die Argumentation der Bundesbank. Ihr Präsident Jens Weidmann hatte schon im EZB-Rat gegen das von EZB-Präsident Mario Draghi forcierte Kaufprogramm gestimmt. Auch im Gerichtstermin blieb er kritisch: Dieses Programm sei zwar „deutlich weniger problematisch“ als das frühere OMT-Programm, dennoch seien „Staatsanleihekäufe in der Wirtschafts- und Währungsunion grundsätzlich ein mit besonderen Problemen behaftetes unkonventionelles Instrument, insbesondere wenn sie einen substantiellen Umfang annehmen.“
Mit seiner ablehnenden Haltung steht Jens Weidmann in der Tradition der Deutschen Bundesbank, die die Wahrung einer stabilen Währung seit ihrer Gründung als erstes und wichtigstes Ziel verfolgte. Diesem Ziel musste sich alles andere unterordnen, insbesondere auch die Wirtschaftspolitik. Staatsfinanzierung unter dem Deckmantel der Geldpolitik war für die Deutsche Notenbank undenkbar.
Demgegenüber erinnert die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank unter Mario Draghi an die Art, wie die Italiener einst ihre Notenbankpolitik betrieben. Im Zentrum dieser Geldpolitik stand nicht die Währungsstabilität, sondern die Stabilisierung der Banken und Belebung der Wirtschaft. Man sah auch nichts Verwerfliches darin, den Staat zu finanzieren, wenn die Staatsausgaben anders nicht zu decken waren.
Für die Deutsche Bundesbank war die neue Geldpolitik unter Mario Draghi ein tiefer Einschnitt, wenn nicht sogar ein Kulturschock. Die EZB hat mit der Deutschen Bundesbank nur noch wenig gemeinsam, in Wirklichkeit gleicht sie heute eher der Banca d´Italia. Die Verantwortung dafür trägt nicht zuletzt die deutsche Bundesregierung mit ihrer Politik des ständigen Lavierens und Nachgebens. Dazu gehört auch ihre Zurückhaltung bei der Besetzung des Postens des EZB-Präsidenten, wenn Mario Draghi demnächst ausscheidet. Mit Jens Weidmann kann Deutschland einen vorzüglichen Kandidaten anbieten, wenn die derzeitige Bundesregierung dies nur will.
Geldpolitscher Mainstream
Aus Äußerungen der Chefs der großen Notenbanken auf den Tagungen in Jackson Hole (USA) lässt sich schließen, dass die Notenbanken ihren geldpolitischen Kurs des billigen Geldes beibehalten wollen. Am deutlichsten war Haruhiko Kuroda, der Präsident der Bank of Japan: Es gebe „keinen Zweifel, dass es noch großen Spielraum für eine zusätzliche Lockerung der Geldpolitik gebe“, sagte er. Das Direktoriumsmitglied der EZB, Benoit Coeuré, kündigte an, man werde noch „tiefer in unseren operationellen Rahmen und unsere Strategie eintauchen“, wenn die Regierungen der Euro-Staaten nicht ihren Teil dazu beitrügen, die Wirtschaft anzukurbeln.
Mit anderen Worten: Wenn die Euro-Länder nicht mehr Geld ausgeben oder keine Reformen durchführen, dann wird die EZB ihre Geldpolitik weiter lockern. Und die Fed-Chefin Janet Yellen meinte: „Künftige Zentralbanker sollten die Möglichkeit des Aufkaufs einer breiteren Auswahl von Vermögenswerten untersuchen.“ Da die Fed nach der Finanzkrise schon praktisch jedweden Vermögenswert aufkaufte, kann sie damit nur Aktien gemeint haben. So wie es Japan bereits vormacht, und so, wie es verschiedene Ökonomen auch von der EZB fordern.
Laut Handelsblatt vom 9. Oktober 2016 dominieren in der geldpolitischen Diskussion derzeit Zeit Ökonomen, die am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als „moderne Keynesianer“ ausgebildet worden sind. Hierzu gehören zum Beispiel Ex-Fed-Chef Ben Bernanke, EZB-Chef Mario Draghi, Fed-Vize Stanley Fischer und der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers sowie der IWF-Chefvolkswirt Maurice Obstfeld. Sie alle sind der Überzeugung, dass die Zinsen niedrig sind, weil viel Kapitalangebot aufgrund einer „säkularen Stagnation“ auf wenig Kapitalnachfrage trifft. Ihre Medizin lautet: Nachfrage schaffen durch staatliche Ausgabenprogramme, flankiert durch eine anhaltende aggressive Geldpolitik.
Die Gegenbewegung zu dieser Denkschule, wozu der BIZ-Ökonom Claudio Borio sowie deutsche Ökonomen wie Hans-Werner Sinn oder Thomas Mayer gehören, befindet sich in der Defensive. Für sie ist die derzeitige Wachstumsschwäche eine Spätfolge der Finanzkrise, in der Kredite und Schulden schneller gewachsen sind als die Wirtschaft. Nun müssten die schlechten Investitionen abgeschrieben werden, bevor Kredite für neue Investitionen möglich sind.
Nach ihrer Meinung hat die aggressive Geldpolitik der EZB „die schöpferische Zerstörung verhindert, die die Basis eines neuen Aufschwungs hätte sein können“. Aus der derzeitigen Situation könne Europa nur mit einer „Reinigungskrise der Schumpeter´schen Art“ hinausfinden, die mit angebotsorientierten Reformen, Schuldenschnitten und Euro-Austritten einhergehen müsse. Dies sei zwar Aufgabe der Politik, die Notenbanken treffe aber eine erhebliche Mitschuld, weil sie mit ihrer ultralockeren Geldpolitik die Politiker vom Reformdruck befreit haben.
„Ob man es mag oder nicht: Die Zentralbanker scheinen entschlossen, sich immer tiefer in das Loch einzugraben, in dem sie sich befinden“, kommentierte Joachim Fels von Pimco die Geisteshaltung der Notenbanker. Sie erhalten dabei von führenden Ökonomen und Finanzwissenschaftlern, die regelmäßig auch in Jackson Hole dabei sind, Rückendeckung.