Der Target2-Skandal
Der Target2-Skandal besteht darin, dass die Target2-Forderungen der Bundesbank gegen die Europäische Zentralbank (EZB), die per Ende Juni 2018 auf den Rekordwert von 976 Milliarden Euro geklettert sind, faktisch uneinbringlich sind. In dem für Target2 geltenden Regelwerk ist festgelegt, dass Target2-Forderungen weder fällig gestellt werden können noch zu besichern sind. Umgekehrt sind Target2-Verbindlichkeiten zu keinem Zeitpunkt auszugleichen. Die derzeit gültige Regelung stammt aus dem Jahr 2007, als Axel A. Weber Präsident der Deutschen Bundesbank war.
In seiner Wirkung kommt das Target-System damit einem Kontokorrentverhältnis gleich, aus dem sich die europäischen Schuldnerländer jederzeit in unbegrenzter Höhe zu einem derzeitigen Zinssatz von 0,0 Prozent finanzieren können. Davon machen vor allem Italien und Spanien Gebrauch, wie an den Target-Verbindlichkeiten dieser Länder zu erkennen ist. Die Verbindlichkeiten von Italien belaufen sich inzwischen auf 481 Milliarden Euro und die von Spanien auf 398 Milliarden Euro.
Die wachsenden Target-Salden bringen die EZB in Erklärungsnot. Ihr Präsident Mario Draghi weicht Fragen zur Tilgung oder Besicherung der Salden aus. Frühere EZB-Mitarbeiter wie der DIW-Präsident Marcel Fratzscher und der Ökonom Martin Hellwig verteidigen sich mit dem Argument, es handele sich doch nur um belanglose Salden.
Das Target-System
Das Target-System ist ein Zahlungssystem, über das nationale und grenzüberschreitende Überweisungen abgewickelt werden. Über Target2 fließen pro Tag im Durchschnitt rund 340.000 Zahlungen im Wert von 1,7 Billionen Euro. Diesen Transaktionen können ganz unterschiedliche Geschäfte zugrunde liegen: Die Zahlung einer Warenlieferung, der Kauf oder Verkauf eines Wertpapiers, die Gewährung oder Rückzahlung eines fälligen Darlehens, die Geldanlage bei einer Bank und vieles mehr.
Die Funktionsweise des Abrechnungssystems lässt sich mit folgendem Beispiel erklären:
Bei einer grenzüberschreitenden Transaktion etwa aus Frankreich nach Deutschland (z.B. als Bezahlung eines Imports) sind sowohl die Banque de France als auch die Deutsche Bundesbank beteiligt. Zunächst belastet die in Frankreich ansässige Geschäftsbank des französischen Käufers das Konto ihres Kunden und reicht eine Überweisung an eine in Deutschland ansässige Geschäftsbank des deutschen Verkäufers ein. Die Banque de France belastet das Target-Konto der französischen Geschäftsbank bei ihr und verbucht eine Verbindlichkeit gegenüber der Bundesbank. Die Bundesbank wiederum verbucht eine Forderung gegenüber der Banque de France und schreibt den Betrag dem Target2-Konto der deutschen Geschäftsbank gut. Diese verbucht den Geldeingang letztendlich auf dem Konto des deutschen Verkäufers.
Am Ende des Geschäftstages werden alle innertäglichen bilateralen Verbindlichkeiten und Forderungen im Target2-Abrechnungssystem automatisch in einem multilateralen Verrechnungsverfahren zusammengeführt und auf die EZB übertragen (Novation), so dass nur noch eine einzige Verbindlichkeit oder Forderung der nationalen Zentralbank gegenüber der EZB besteht.
Die Target-Forderungen der Bundesbank sind ein bilanzieller Anspruch gegen die EZB, dem Verbindlicheiten anderer Notenbanken gegenüberstehen. Es ist deshalb eine irreführende Verharmlosung, darin bloße Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs zu sehen. Die Target-Salden messen die Nettoüberweisungen anderer Länder nach Deutschland, die die Bundesbank verpflichten, im Auftrag anderer Notenbanken Zahlungsaufträge auszuführen.
Es gibt auf der ganzen Welt kein Zahlungs- bzw Clearingsystem, in dem negative Zahlungssalden nicht auszugleichen oder zu besichern sind. In den USA müssen die zwischenstaatlichen Salden aus dem Federal Reserve System regelmäßig und zeitnah ausgeglichen werden. In dem frühere Bretton-Woods-System waren aufgelaufenen Devisensalden durch den Umtausch in Dollar oder Gold auszugleichen. Auch das Target2-System kennt einen Saldenausgleich für Zentralbanken außerhalb des Eurosystems und Geschäftsbanken, die am Target2-System teilnehmen. Diese Banken müssen am Tagesende ausgeglichene oder positive Target2-Salden vorweisen.
Nur für die Zentralbanken innerhalb des Eurosystems gilt die Ausnahme, dass positive oder negative Target2-Salden gegenüber der EZB nicht auszugleichen sind. Für die Schuldnerländer ist dies ein Privileg, für das es keine Begründung gibt. Für die Gläubigerländer ist ein Ärgernis, dass abgeschafft werden sollte. Doch erstaunlicherweise gibt es keine Regierung oder Zentralbank, die solches fordert. Selbst die Deutsche Bundesbank, die wegen ihres hohen Guthabens allen Grund hätte, eine Änderung des Regelwerks einzufordern, hüllt sich in Schweigen. Es gibt ganz offensichtlich starke Interessen, die sich hinter diesem Schweigekartell verbergen.
Stimmen zu Target2
Auch die Bundesregierung schweigt zu dem rekordartigen Anstieg der Target2-Forderung der Bundesbank. Nur die Opposition meldete sich zu Wort. Mit der neuen italienischen Regierung, die mit dem Austritt Italiens aus dem Euroraum liebäugelt, müsse sich die Bundesregierung auf ein „Worst-Case-Szenario bei den Target-Salden einstellen“, sagte der FDP-Fraktionsvize Christian Dürr. Finanzminister Olaf Scholz verschließe davor leider die Augen. „Wenn der Ausfall in Milliardenhöhe für den deutschen Steuerzahler droht, ist es für den Finanzminister höchste Zeit, das Thema auf die politische Agenda zu setzen“, mahnte Dürr.
Der AfD-Abgeordnete Peter Boehringer hatte schon Mitte Mai in der Bundestagsdebatte zum Hauhalt 2018 kritisiert, dass das Finanzministerium keine Risikovorsorge für einen Ausfall der Target-Guthaben getroffen habe. Er bezeichnete die Target-Guthaben als uneinbringlich. Die Bundesbank werde sie eines Tages zulasten des Steuerzahlers abschreiben müssen. In der Unionsfraktion wollte man davon aber nichts wissen. Mit der Rückkehr des Vertrauens in die südeuropäischen Peripherieländer werde sich die Lage schon verbessern.
Auch unter den Ökonomen in Deutschland wird heftig über die Bedeutung der Target-Salden und mögliche Folgen gestritten. Thomas Mayer von der Universität Witten/Herdecke sieht in den wachsenden Target-Salden einen „Risikotransfer“, mit dem der Bundesbank enorme Kreditrisiken aufgebürdet werden. Demgegenüber vermutet der belgische Ökonom Paul De Grauwe, dass das Target2-System zum Sündenbock gemacht wird. Es gebe keine zusätzlichen Risiken aus den Target2-Salden; vielmehr würden nur Deutschlands Risiken „umverpackt“, die sich aus den jahrelangen Leistungsbilanzüberschüssen ergeben hätten.
Die Target2-Salden wurden erstmals Thema der wissenschaftlichen Debatte, als der ehemalige ifo-Präsident Hans-Werner Sinn im Februar 2011 in einem Artikel in der Wirtschaftswoche auf die Zunahme der Target-Salden und ihre Bedeutung hinwies. Für Sinn ist aus dem Abrechnungssystem Target2 ein „Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig stellen kann“.
Die Finanzbranche sieht dies naturgemäß ganz anders, weil ein solcher „Selbstbedienungsladen“ für sie von großem Nutzen ist. Der Finanzökonom Folker Hellmeyer warnt deshalb vor unnötiger Dramatik: „Die Salden müssen beobachtet werden, aber solange die Euro-Zone zusammenhält, halten sich die praktischen Auswirkungen doch sehr in Grenzen.“
Erste Welle
Im August 2012 erreichte das Target2-Guthaben der Bundesbank mit 751 Milliarden Euro seinen ersten Höhepunkt. Nach dem Lehman-Crash waren die Kapitalmärkte nicht mehr bereit, die Leistungsbilanzdefizite der südeuropäischen Länder mit Kapitaltransfers zu finanzieren. Die ausländischen Anleger wollten zudem das verliehene Geld zurückhaben. Außerdem versuchten inländische Kapitalbesitzer, ihr Geld ins Ausland zu bringen.
In dieser Situation begannen die südeuropäischen Zentralbanken, die nationalen Märkte mit Geld zu fluten (Hans-Werner Sinn). Dazu waren sie aufgrund des föderalen Charakters des Euro-Systems und verschiedener institutioneller Regelungen in der Lage:
1. Die erste Regelung war die Einrichtung des Target-Systems als Abrechnungssystem für den Euro-Zahlungsverkehr. Der Maastricht Vertrag sagt dazu nichts.
2. Die zweite Regelung war die 2008 beschlossene „Vollzuteilungspolitik bei Refinanzierungskrediten“. Danach dürfen sich Geschäftsbanken gegen "gute Pfänder" unbegrenzt Kredite bei der eigenen Notenbank besorgen, um damit Überweisungen in andere Länder durchzuführen.
3. Die dritte Regelung bestand darin, dass die Mindestqualität dieser Pfänder sukzessiv bis unter das BBB-Minus-Rating, also bis auf Schrottniveau, gesenkt wurde.
4. Die vierte Regelung bestand aus den sogenannten Ela-Notfall-Krediten, die es einer jeden Notenbank erlauben, nach eigenem Gutdünken beliebig viel Geld zu drucken, es sei denn, zwei Drittel der Stimmen des EZB-Rates sind dagegen.
5. Die fünfte Regelung versteckte sich im sogenannten Anfa-Geheimabkommen, wonach eine Notenbank mit selbst gedrucktem Geld Wertpapiere kaufen kann.
Aufgrund der Geldschöpfung durch die nationalen Zentralbanken waren die südeuropäischen Krisenländer in der Lage, weiterhin in den europäischen Kernländern einzukaufen und dorthin Geld zu transferieren. Der mit den Auslandsüberweisungen verbundene Geldentzug wurde durch die Kreditschöpfung der nationalen Notenbanken ausgeglichen. Anderenfalls wäre die nationale Wirtschaft durch die Nettoüberweisungen mangels Geld schnell zum Stillstand gekomen.
Da aus den südeuropäischen Ländern wesentlich höhere Zahlungen nach Deutschland geleistet wurden als umgekehrt, erreichte das Target2-Guthaben der Deutschen Bundesbank nach der ersten Welle fast eine Billionen Euro. Dem standen entsprechend hohe Target2-Verbindlichkiten der südeuropäischen Krisenländer gegenüber.
Zweite Welle
Die zweite Welle eines steigenden Target2-Saldos wurde in den letzten vier Jahren durch das Anleihekaufprogramm der EZB für etwa 2,4 Billionen Euro ausgelöst, von denen 2,0 Billionen Staatspapiere waren. Obwohl jede Notenbank nur die Staatspapiere ihres eigenen Landes zurückkaufte, stiegen die Target2-Salden nochmals an. Dies lag zum einen an der Kapitalflucht aus Italien und Frankreich, zum anderen aber auch daran, dass die Deutsche Bundesbank in die Rückkäufe südlicher Staatsanleihen eingebunden wurde.
Das Target2-System wurde von Anlegern vor allem genutzt, um sich von Ausfallrisiken südeuropäischer Staatsanleihen zu trennen. Dazu mussten zum Beispiel italienische Staatsanleihen in Frankfurt statt in Mailand zum Kauf angeboten werden. Die deutsche Geschäftsbank schrieb dem Kunden den Geldbetrag gut und holt sich zu dessen Deckung Reservegeld von der Bundesbank im Tausch gegen die Anleihe. Die Bundesbank gab die Anleihe weiter an die Bank von Italien und erhielt dafür eine Target2-Forderung an die EZB und die Bank von Italien eine nicht einlösbare Verpflichtung.
Das Target2-System ist also nicht nur ein neutrales Abrechnungssystem, sondern verteilt auch die durch die Geldpolitik der EZB geschaffene Zentralbankliquidität "asymmetrisch" innerhalb des Eurosystems um. Fließen einem Land auf diesem Wege mehr finanzielle Mittel zu als abfließen, entstehen bei der nationalen Zentralbank des Landes – als Gegenposition zu den gestiegenen Einlagen von Kreditinstituten – Target2-Forderungen gegenüber der EZB. Umgekehrt baut die nationale Zentralbank des Landes, aus dem per Saldo Mittel abfließen, Target2-Verbindlichkeiten gegenüber der EZB auf.
Deutsche Risiken
Das über Target2 nach Deutschland einströmende Geld ist eine Forderung der Geschäftsbanken gegen die Bundesbank, die nur durch eine Target2-Forderung gegen die EZB gedeckt ist. Dies ist aus mehreren Gründen für Deutschland ein schlechtes Geschäft:
• Die Target2-Forderung der Bundesbank kann nicht fällig gestellt werden und ist damit an sich wertlos. Nutznießer sind die Zentralbanken mit Target2-Verbindlichkeiten.
• Fallen die Target2-Verbindlichkeiten endgültig aus, ist die Bundesbank an dem Verlust mit 31 Prozent beteiligt.
• Selbst wenn ein solches Ereignis nicht eintreten wird, stellt das Ausfallrisiko für die Schuldnerstaaten ein glaubhaftes Drohpotential dar.
Das Target2-Guthaben der Deutschen Notenbank stellt etwa die Hälfte des durch Leistungsbilanzüberschüsse aufgebauten deutschen Nettoauslandsvermögens dar. Hans-Werner Sinn fordert deshalb, dass „sich die Politik der Sache annimmt und ihre Schweige- und Verharmlosungsstrategie beendet“. Auch manche Journalisten sollten sich nicht für diese Strategie einspannen lassen.
Er sieht Möglichkeiten, die Target-Salden einzudämmen. Er glaubt allerdings nicht, dass man die beschriebenen Ursachen für die übermäßige Kreditgeldschöpfung beseitigen kann, weil die mächtigen Target-Schuldner im EZB-Rat nicht bereit sein werden, auf ihre Privilegien zu verzichten. Wirksamer wäre es nach seiner Meinung, wenn sich die Gerichte und Parlamente der Sache annähmen und ein System der jährlichen Tilgung der Target-Salden einführen, wie es in den Vereinigten Staaten vorgesehen ist. Denkbar sind auch Obergrenzen oder Strafzinsen bei Überscheitung dieser Obergrenze. Der Zahlungsverkehr müsste darunter nicht leiden, weil dafür auch private Clearinghäuser zu Verfügung stehen.
Für Hans-Werner Sinn ist eines klar: „So wie jetzt kann es nicht weitergehen.“
.