Das Scheitern der Konjunktursteuerung
Nach dem Rücktritt von Ludwig Erhard als Bundeskanzler im Jahr 1966 wurde Karl Schiller (SPD) Wirtschaftsminister in der unter Kurt Kiesinger gebildeten Bundesregierung. Kaum im Amt legte er zwei Konjunkturprogramme auf, um der damaligen Mini-Rezession der deutschen Wirtschaft zu begegnen. Der Ehrgeiz von Karl Schiller ging jedoch weiter: er wollte die antizyklische Konjunktursteuerung zu einem festen und dauerhaften Bestandteil der deutschen Wirtschaftspolitik machen. Zu diesem Zweck ließ er in seinem Ministerium das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabWG)“ erarbeiten, das der Deutsche Bundestag im Juni 1967 mit großer Mehrheit verabschiedete.
Ziel des Gesetzes was es, Bund und Länder auf eine Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verpflichten, die „im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum“ beitrug. Um die Umsetzung dieser vier Ziele, die als „magisches Viereck“ bezeichnet wurden, zu gewährleisten, wurden der Bundesregierung zwei Instrumente an die Hand gegeben: Einmal der Jahreswirtschaftsbericht mit konkreten Zielprojektionen und zum anderen die „konzertierte Aktion“.
Zielprojektionen und konzertierte Aktion
Die Zielprojektionen bestanden aus quantitativen Zielgrößen, wie die Wachstumsrate, die Beschäftigungshöhe etc., die mit konkreten politischen Maßnahmen unterlegt werden sollten. Die „konzertierte Aktion“ war eine korporative Veranstaltung, an der Gewerkschafts- und Wirtschaftsvertreter, der Sachverständigenrat, zahlreiche Regierungsvertreter sowie jeweils ein Repräsentant der Bundesbank und des Kartellamtes beteiligt waren. Ihr Zweck sollte es sein, die staatliche Globalplanung mit den Entscheidungen der Wirtschaft und Tarifpartner zu koordinieren.
Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz war der endgültige Bruch mit den Grundlagen und Zielen der Erhard´schen Wirtschaftspolitik. Ludwig Erhard hielt es für eine „Anmaßung“, die Wirtschaft anhand einiger globalen Daten steuern zu wollen. Die Wirtschaft war für ihn kein technokratisches Konstrukt, das Fachleute steuern und notfalls reparieren konnten. Er sah in der Wirtschaft einen lebendigen Organismus, der eine vernünftige Ordnung brauchte. Ludwig Erhard warnte, dass mit dem „neuen Interventionismus“ der für die Soziale Marktwirtschaft tragende Gedanke einer „institutionellen Ordnung“ aufgegeben werde. Er prophezeite, es werde nicht bei der „Globalsteuerung“ bleiben, sondern der Staat werde zunehmend intervenieren, dirigieren und regulieren.
An der „konzertierten Aktion“ kritisierte Ludwig Erhard den korporativen Charakter. Es gehörte zu seinen Grundüberzeugungen, dass die politische Verantwortung des Staates nicht von Interessengruppen untergraben werden durfte. Der Staat war dem Gemeinwohl verpflichtet. In der „konzertierten Aktion“ sah er einen permanenten Verstoß gegen dieses Prinzip, weil Gewerkschaften und Unternehmensverbände dadurch die Möglichkeit bekamen, auf wirtschaftspolitische Ziele und Maßnahmen des Staates Einfluss zu nehmen. Dies war für ihn schon deshalb problematisch, weil nicht alle Ziele des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes miteinander kompatibel waren und Prioritäten gebildet werden mussten.
Das Scheitern der Globalsteuerung
Die Globalsteuerung scheiterte schon nach wenigen Jahren. Dies lag nicht an dem fehlenden Bemühen der Politiker und Ministerien, die damit beschäftigt waren, sondern an den Eigeninteressen der beteiligten Institutionen und an grundsätzlichen Widersprüchen.
Als am 14. Februar 1967 die erste Sitzung der „konzertierten Aktion“ stattfand, waren die Tarifpartner grundsätzlich bereit, ihre Entscheidungen einem gesamtwirtschaftlichen Rahmen unterzuordnen. Das änderte sich aber schon nach zwei Jahren, als die Wirtschaft wieder kräftig wuchs. Die Regierung hatte diesen Aufschwung in ihrer Zielprojektion erheblich unterschätzt. So war für 1969 ein Wachstum von nominal 7 Prozent und real 4,5 Prozent geplant, tatsächlich betrug es aber nominal 11,6 Prozent und real 8,0 Prozent.
Die Gewerkschaften, die sich bei den Lohnverhandlungen an den niedrigeren Plandaten ausgerichtet hatten, fühlten sich irregeführt. Als es im Herbst zu wilden Streiks kam, lehnten die Gewerkschaften jede weitere Orientierung an den Zielprojektionen ab. Stattdessen wurde mit aggressiven Lohnforderungen versucht, den angeblichen Lohnrückstand wieder auszugleichen. Von der „konzertierten Aktion“ ging seitdem für die Lohnpolitik kein Steuerungsimpuls mehr aus. Der Versuch, mit der „Überzeugungskraft von Zahlen“ das Verhalten der Tarifpartner zu beeinflussen, war an den falschen Zieldaten gescheitert.
Der staatlichen Ausgabenplanung des Staates ging es nicht viel besser. Zunächst trieb Karl Schiller mit den beiden Konjunkturpaketen das Ausgabenwachstum kräftig an. Dann startete die neue sozial-liberale Bundesregierung unter Willy Brandt unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ ein Reformprogramm, mit dem die staatlichen Sozialausgaben auf breiter Front massiv ausgeweitet wurden. Als dann auch noch die Gewerkschaften Lohnforderungen stellten, die deutlich über dem Produktionsfortschritt lagen, verloren die Zielprojektionen der Regierung immer mehr den Bezug zur Realität und damit an Überzeugungskraft. Der mahnenden Zuruf von Karl Schiller „Genossen, lasst die Tassen im Schrank!“ konnte daran auch nichts mehr ändern.
Als der damalige Finanzminister Alexander Möller im Mai 1971 aus Protest gegen die Ausgabenpolitik seiner Regierung zurücktrat, übernahm Karl Schiller für kurze Zeit auch dieses Amt. Doch schon nach gut einem Jahr, im Juli 1972, trat er ebenfalls er zurück und schied damit aus der Regierung aus. Gescheitert war der Versuch, „die traditionelle Politik überflüssig zu machen und sie durch die Herrschaft der Wissenschaftler zu ersetzen“ (FAZ vom 24.04.2011). In seinem Rücktrittsbrief warf Karl Schiller dem Bundeskanzler Willy Brandt vor, ihn nicht ausreichend unterstützt zu haben. Den Kollegen im Kabinett machte er den Vorwurf, dass sie ihre Einzelinteressen nicht gegenüber einer gemeinsamen Strategie zurückstellen wollten. Diese ständigen Konflikte seien für ihn nicht mehr tragbar: „Es gibt auch für mich Grenzen - diese sind gegeben, wenn ich der auf meinem Amt beruhenden Verantwortung diesem Staat und seinen Bürgern gegenüber nicht mehr gerecht werden kann, weil ich nicht unterstützt bzw. sogar daran gehindert werde.“
Die Epigonen der Globalsteuerung
Mit dem Ausscheiden von Karl Schiller aus der Politik endeten aber nicht die Versuche der sozial-liberalen Koalition, die Konjunktur mit Hilfe von kreditfinanzierten Ausgabenprogrammen anzufeuern. Anlass dazu waren in den 70er Jahren die massiven Ölpreiserhöhungen des OPEC-Kartells, wodurch die inländischen Produktionskosten stiegen und der Volkswirtschaft Kaufkraft entzogen wurde. Als sich beispielsweise der Ölpreis von 1973 bis 1974 vervierfachte und die Zahl der Arbeitslosen auf 1 Million stieg, reagierte die Bonner Regierung mit einem Konjunkturpaket, zu dem neben autofreien Sonntagen ein umfangreiches Ausgabenprogramm des Staates gehörte. Infolgedessen stieg die Inflation auf 7 Prozent, worauf die Gewerkschaften mit aggressiven Lohnforderungen von 12 Prozent antworteten. Für die Konjunktur war nichts gewonnen, aber die Lohn-Preis-Spirale kam in Gang, wofür der Name „Stagflation“ erfunden wurde.
Dies wiederholte sich, als der Ölpreis Ende 1979 nach der Revolution im Iran abermals kräftig in die Höhe schnellte. Diesmal stieg die Zahl der Arbeitslosen aber schon auf 2 Millionen an. Abermals versuchte nun Kanzler Helmut Schmidt, dem Abschwung mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen zu begegnen. Auch diesmal entzündete er nur ein Strohfeuer, das schnell wieder erlosch. Nur der staatliche Schuldenberg erhöhte sich von 1979 bis 1982 um 50 Prozent.
Karl Schiller hat daraus die folgende Lehre gezogen: „Expansive Nachfragepolitik war unter den Bedingungen von Angebotsschocks – wie der Ölverknappung – und tiefgreifenden Strukturwandlungen in der Tat nicht angemessen. Mit anderen Worten: Durch Abusus unter nicht-keynesianischen Bedingungen geriet sie in Misskredit. Wir haben daher heute mit der Nachfragepolitik – im Guten wie im Schlechten – einen genügend großen Erfahrungsschatz gewonnen, um ihre Grenzen zu definieren.“
Der Einfluss von John Maynard Keynes auf die Wirtschaftspolitik endete in den 70er Jahren. Eine neue Generation von Volkswirten war zu dem Ergebnis gekommen, dass die von ihm verkündete Lehre entscheidende Schwächen aufwies. In seinem mechanistischen Denken hatte er nicht gesehen, dass die Wirkung staatlicher Interventionen entscheidend von den „Erwartungen“ abhängt, die die Menschen damit verbinden. So lösen beispielsweise schuldenfinanzierte Staatsausgaben die Erwartung höherer Steuern aus, was die Haushalte veranlasst, mehr zu sparen und weniger privat auszugeben. Damit verpufft die Wirkung, die Konjunkturpolitiker mit höheren Staatsausgaben verbinden.
Zudem hatte das "antizyklische Konzept" der Konjunktursteuerung nicht funktioniert. Den Regierungen war es nicht gelungen, die Impulse zeitgerecht zu setzen: Oft stärkte die Politik nicht die Nachfrage im Abschwung, sondern überhitzte den Aufschwung. Im politischen Wahlzyklus waren die Regierungen auch nicht bereit, im Aufschwung fiskalisch zu bremsen, um Rücklagen für den Abschwung zu bilden. Deshalb hatte die Globalsteuerung nur den dauerhaften Anstieg der Staatsverschuldung in Gang gesetzt.
Hans-Werner Sinn kam deshalb bereits in der 90er Jahren zu dem Schluss: „Es gab früher einmal Keynesianer, die sind ausgestorben, und ansonsten sind jetzt praktisch alle Ökonomen Neoklassiker. Was nicht bedeutet, dass es auf politischer Ebene dann nicht doch Reflexe auf früher einmal existierende Schulen gibt.“
In der Tat gibt es „auf der politischen Ebene“ immer noch die weit verbreitete Meinung, dass schuldenfinanzierte Staatsausgaben und eine lockere Geldpolitik geeignet sind, Vollbeschäftigung und wirtschaftliches Wachstum zu schaffen.