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Der diskreditierte "Neoliberalismus"
29.12.2015 22:58 (3344 x gelesen)

Der diskreditierte "Neoliberalismus" 

Ludwig Erhard wurde bei seiner Wirtschaftspolitik von einem Kreis liberal-konservativer Ökonomen beraten und unterstützt, die sich schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dem  antiliberalen Zeitgeist entgegen gestemmt hatten. Darunter waren Persönlichkeiten wie Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow.

Alexander  Rüstow sorgte im Jahr 1932 in einer Rede vor dem Vereins für Socialpolitik, dem Verein deutschsprachiger Ökonomen, für Furore, als er sagte: „Die deutsche Krise ist zu einem erheblichen Teil durch Interventionismus und Subventionismus der öffentlichen Hand verursacht.“ Und Wilhelm Röpke  warnte bereits  im Jahr 1930  öffentlich vor den Nationalsozialisten: „Niemand, der am 14. September nationalsozialistisch wählt, soll später sagen können, er habe nicht gewusst, was daraus entstehen könnte. Er soll wissen, dass er Chaos statt Ordnung, Zerstörung statt Aufbau wählt. Er soll wissen, dass er für den Krieg nach innen und nach außen für sinnlose Zerstörung stimmt.“

So überrascht es nicht, dass beide Ökonomen während der Nazi-Herrschaft ins Ausland auswandern mussten und erst nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrten. 

Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow waren auch Teilnehmer des "Colloque Walter Lippman", eines Kolloquiums, das im August 1938 in Paris stattfand. Zu dieser Tagung waren 26 Persönlichkeiten aus aller Welt, liberale Ökonomen, Philosophen und Publizisten, darunter neben Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow auch Friedrich A. von Hayek und  Ludwig von Mises, eingeladen worden, um über die Krise des Liberalismus zu sprechen.

Die politische Lage war düster: Die Weltwirtschaftskrise war noch nicht ganz abgeklungen. Der Liberalismus in Europa befand sich auf dem Rückzug. Sozialistische und kollektive Ideologien beherrschten das gesellschaftliche und politische Leben.  Überall waren faschistische oder autoritäre Parteien an die Macht gekommen, die im Liberalismus ihren gemeinsamen Feind sahen. In der Sowjetunion herrschte Stalin, in Deutschland Hitler. Der Zweite Weltkrieg stand vor der Tür. Ralf Dahrendorf beschrieb diese Zeit später als „Versuchung der Unfreiheit“ -  „Der Faschismus lockte mit Bindung und Führung. Der Kommunismus lockte mit Bindung und Hoffnung“.

Der in Paris versammelte Kreis liberaler Persönlichkeiten hatte also allen Grund, über die Zukunft des Liberalismus nachzudenken. In den von dem Philosophen Louis Rougier angefertigten Mitschriften heisst es: "Jeder Teilnehmer wusste, dass er auf der Schwelle dramatischer Ereignisse lebte, in denen der Frieden zwischen den Völkern und das Schicksal Europas auf dem Spiel standen. Es war ein Treffen aufrichtiger, guter, freier Männer, überzeugt davon, dass die beste Chance der westlichen Zvisation darin bestand, zu einem wohlverstandenen Liberalismus zurückzufinden, dem einzigen Weg, für einen verbesserten Lebensstandard der Massen zu sorgen, für Frieden zwischen den Völkern, für die Freiheit der Gedanken und die Ehre des menschlichen Geistes." 

Dieses Treffen gilt als die Geburtsstunde den Neoliberalismus. Eine Art Fortsetzung fand das Colloque Lippmann erst nach dem Krieg in der 1947 auf Initiative Hayeks gegründeten Mont Pèlerin Society, einer bis heute bestehenden Plattform für den geistigen Austausch und die Kontaktpflege liberaler Denker. 

In einem entscheidenden Punkt waren sich die Teilnehmer der Kolloquiums schnell einig: Der Liberalismus des „Laissez-faire“, wie er das 19. Jahrhundert dominiert hatte, war gescheitert. Er hatte das Entstehen von wirtschaftlicher Macht zugelassen und soziales Leid in Kauf geommen. Die Unternehmen hatten das Grundprinzip der Vertragsfreiheit dazu genutzt, den wirtschaftlichen Wettbewerb durch  Bildung von  Monopolen,  Konzernen oder Kartellen weitgehend auszuschalten. Außerdem hatte der Nachtwächterstaat kein Konzept zur Lösung der sozialen Fragen gefunden, so dass er in den Augen vieler Menschen mit dem zynischen "Laissez-souffrir" gleichzusetzen war. 

Um solches in Zukunft zu vermeiden, sollte der Staat nicht abgeschafft, sondern gestärkt werden. Alexander Rüstow hatte schon 1932 nach einem "starken Staat" gerufen, "oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört". Die Begründung hierfür sah Rüstow in dem Entstehung wirtschaftlicher Macht, die zu Lasten der Verbraucher ging. Auch in Paris sprach Rüstow wieder von der "strikten Marktpolizei", die endlich notwendig sei, um den Wettbewerb tatsächlich zu einer Leistungsauslese zu machen.

Als Konsequenz forderten die Teilnehmer des Kolloquiums, dass der Staat sich nicht auf die Selbstorganisation der Wirtschaft verlassen darf, sondern ihr einen normativen und durchsetzbaren Ordnungsrahmen vorgeben muss. Dieser Ordnungsrahmen soll Wirtschaftssubjekten Grenzen für ihr Handeln setzen, damit die Freiheit aller  garantiert ist.

Einen starken Staat zu schaffen, bedeutete für die Neoliberalen aber nicht, dass er sich auch immer mehr Kompetenzen aneignete. Darin sahen sie vielmehr eine Gefahr für den Rechtsstaat und die Demokratie. Sie verstanden die moderne liberale Demokratie vielmehr als Kombination aus "Begrenzung der Staatsgewalt, Gewährleistung der Grund- und Bürgerrechte sowie Unterwerfung der legislativen und exekutiven Gewalt unter eine höhere Instanz der Rechtsprechung". Mit der Machtergreifung Hitlers vor Augen war ihnen bewusst, dass  anderenfalls Demagogie und totalitärer Staat drohen.

Eine  solche „Ordnung der Freiheit“ sollte den unternehmerischen Wettbewerb durch eine aktive Wettbewerbsordnung  absichern. Dies war die neue liberale Botschaft, die von dem Pariser Treffen ausging. Der Staat sollte weiterhin schlank bleiben, aber gleichzeitig stark genug sein, um sich gegenüber gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessengruppen durchzusetzen. So hat es später auch Ludwig Erhard immer wieder formuliert.

Die Teilnehmer des Kolloquiums verständigten sich darauf, diese neue Denkschule „Neoliberalismus“ zu nennen. Darunter verstanden sie nicht Marktradikalismus, wie heute diskreditierend behauptet wird, sondern im Gegenteil eine vom Staat organisierte Wettbewerbswirtschaft.


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