Die Entfremdung von Politik und Wirtschaft
Es ist paradox: Einerseits steht die deutsche Wirtschaft voll im Saft. Das Land nähert sich der Vollbeschäftigung, auf dem Arbeitsmarkt sind kaum Fachkräfte zu finden. Die Maschinen laufen bis ans Limit.
Andererseits kritisiert die Wirtschaft die neue Bundesregierung massiv. Wirtschaftsverbände und Experten übertreffen sich insbesondere gegenseitig mit vernichtenden Bewertungen des Koalitionsvertrages. „Eine klare Schieflage in Richtung Umverteilung anstatt Zukunftssicherung“, bemängelt BDI-Chef Dieter Kempf.
Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Zugespitzt: Sind Wirtschaft und Politik Partner oder Gegner? Dazu einige Überlegungen:
I
Wirtschaft und Politik sind zwei unterschiedliche Bereiche mit verschiedenen Aufgaben und Arbeitsweisen.
Der Zweck der Wirtschaft besteht darin, die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Dies geschieht bei uns nach den Regeln, die die Marktwirtschaft vorgibt. Demgegenüber hat die Politik den Auftrag, die öffentlichen Angelegenheiten zu regeln. Dies erfolgt zumeist durch hoheitliche Tätigkeit nach den Regeln der Verfassung.
Trotz dieser Unterschiede sitzen Wirtschaft und Politik aber in einem gemeinsamen Boot, ob sie es wollen oder nicht. Jeder ist auf den anderen angewiesen, was leicht vergessen wird. Ohne eine produktive Wirtschaft gibt es kein geordnetes Staatswesen, und ein geordnetes Staatswesen ist Voraussetzung für eine funktionierende Wirtschaft.
Für den Zustand jeder Gesellschaft ist deshalb das Verhältnis von Wirtschaft und Politik von entscheidender Bedeutung.
II
Dies beginnt schon bei der Frage, wie die angehenden Manager und Politiker ausgebildet und ausgewählt werden.
In Großbritannien und in den USA gibt es die Traditionsuniversitäten, wie z.B. Oxford, Harvard oder Yale, an denen die angehenden Manager und Politiker gemeinsam studieren; in Frankreich sind es die Grandes Ecoles, wie z.B. die ENA. Schon hier lernt man sich kennen und knüpft Verbindungen. In Deutschland gibt es kein vergleichbares Netzwerk zwischen Wirtschaft und Politik.
London oder Paris sind zugleich politisches und ökonomisches Zentrum ihres Landes. Dies bringt die maßgeblichen Leute in Wirtschaft und Politik schnell zusammen. In Deutschland fallen die Zentren auseinander: Die Politiker sind in Berlin, die Herren der Finanzwelt in Frankfurt und die Industriekapitäne im Westen und Süden. Hier ist die Gefahr der Entfremdung deshalb deutlich größer.
Dazu trägt die zunehmende Spezialisierung bei. In den Chefetagen der großen deutschen Konzerne findet man kaum noch Juristen, die aufgrund ihrer Ausbildung Erfahrungen im öffentlichen Sektor mitbringen. Dafür viele Techniker und Ökonomen, die betriebswirtschaftlich und international ausgebildet sind. Erfahrungen aus dem öffentlichen oder politischen Bereich bringen nur die wenigsten mit.
In der Politik und den Ministerien dominieren demgegenüber die Juristen, die über keine wirtschaftlichen Erfahrungen verfügen. Parallel zur Entstehung politikfreier Zonen in der Wirtschaft wächst so der ökonomische Substanzverlust in der Politik.
Dies hat für das Verhältnis von Wirtschaft und Politik erhebliche Folgen: In den Vorstandsetagen ist vor allem betriebswirtschaftliches Unternehmensverständnis gefragt – und nicht etwa politische Kompetenz. Demgegenüber wird der politische Betrieb vor allem durch juristisch ausgebildete Politiker geprägt. Für Ökonomen gibt es dort nur noch wenig Raum. So bleiben die Welten getrennt.
Dies ist einer der Gründe, warum der Wechsel von Führungspersonen aus der Wirtschaft in die Politik und umgekehrt so gut wie nicht vorkommt. Und wenn es doch passiert, geht es häufig schief, wie bei Roland Koch, der beim Mannheimer Industrieunternehmen Bilfinger ein- und wieder ausgestiegen gestiegen ist.
III
Was müssen Wirtschaft und Politik tun, um ihr Verhältnis zu verbessern? Zunächst sollten sich die Partner über ihre jeweiligen Aufgaben verständigen.
Die Politiker können hierbei von Ludwig Erhard lernen, der dazu eine praktikable Regel aufgestellt hat: Danach hat die Politik die Aufgabe, der Wirtschaft eine Rahmenordnung zu geben und die erforderlichen öffentlichen Güter zur Verfügung zu stellen. Aus der Planung und Lenkung der wirtschaftlichen Prozesse hat sie sich aber herauszuhalten, weil dies in der Marktwirtschaft Sache der Unternehmen und Verbraucher ist.
Heute ist eine solche Arbeitsteilung zwischen Wirtschaft und Politik nur noch Geschichte, weil die Regierung aus politischen Gründen in weiten Bereichen der Wirtschaft interveniert. Dies ist aber der Hauptvorwurf der Wirtschaft gegenüber der Politik: Die Wirtschaft wehrt sich dagegen, dass die Politiker Dinge regeln, die nach dem markwirtschaftlichen Modell zur Zuständigkeit der Wirtschaft gehören.
In der Finanzkrise hat die Politik diesen Konflikt auf die Spitze getrieben, wodurch sich das Verhältnis von Wirtschaft und Politik dramatisch verschlechtert hat. Die Wirtschaft ist an dieser Zerrüttung aber nicht unschuldig:
Vor der Krise hatten die Unternehmenschefs mit einer Mischung aus Verachtung und Unverständnis auf die in ihren Augen provinziellen Politiker herabgeblickt. Dutzende Fotografen standen bereit, wenn die Chefs der DAX-Konzerne zu den Treffen ins Kanzleramt anreisten. Nach der Krise kamen sie still und leise, und zwar als „Bittsteller“, wie CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla mit Genugtuung bemerkte. Nun konnten die Politiker es den Managern heimzahlen.
Rezzo Schlauch, ehemaliger Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, warf den Managern vor, „Politik gar nicht verstehen zu wollen und fürchterlich auf dem hohen Ross zu hocken“. Was im Verhältnis von Managern und Politikern unterschwellig immer vorhanden gewesen war, trat plötzlich an die Oberfläche und belastete das Verhältnis zusätzlich.
Die Entfremdung von Politik und Wirtschaft ist nach Meinung von Thomas Straubhaar, dem ehemaligen Chef des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Instituts (HWWI), bereits so weit fortgeschritten, „dass sich die Wirtschaft nicht einmal mehr gegen die Politik wehrt, sondern einfach durch ihre mikroökonomischen Entscheidungen reagiert“. In einfachen Worten: Der Wirtschaft ist es egal, was die Politik in Deutschland macht. Wenn die wirtschaftpolitischen Vorgaben nicht passen, werde „halt weiter automatisiert, rationalisiert, outgesourct, ins Ausland verlagert“, sagt Straubhaar.
Mit persönlichen Kontakten lassen sich solche Störungen nicht beseitigen. Wie alle deutschen Kanzler suchte auch Angela Merkel anfangs den Kontakt und den Austausch mit führenden Vertretern der Wirtschaft. Inzwischen hat sie die meisten Verbindungen jedoch abgebrochen. So zum ehemaligen Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann, weil dieser es in der Finanzkrise abgelehnt hatte, zur Sanierung Staatsgelder anzunehmen. Ordnungspolitisch war diese Aussage korrekt, Angela Merkels sah darin aber einen Affront gegen ihre Politik der Bankenrettung. Ihr Kommentar: „Wir bewegen uns in zwei völlig verschiedenen Welten.“
Ähnlich erging es dem VW-Chef Martin Winterkorn: lange konnte er sich berühmen, dass er bei der Kanzlerin jederzeit einen Termin bekommen könne. Überliefert ist sein Spruch: „Die Kanzlerin liebt mich.“ Mit dieser Liebe war es aber schlagartig vorbei, als die amerikanischen Aufsichtsbehörden ans Licht brachten, dass der Wolfsburger Konzern die Abgaswerte mit Hilfe einer Abschalt-Software manipuliert hatte.
IV
Seit der Finanzkrise ist die Öffentlichkeit gegenüber der Wirtschaft deutlich kritischer geworden. Die Bundesregierung hat daraufhin auch ihr Verhältnis zur Wirtschaft neu justiert und unter das Motto vom „Primat der Politik“ gestellt. Dieses Motto hat Merkel gegenüber der Finanzwirtschaft mit der Ankündigung konkretisiert, dass künftig auf den Finanzmärkten „alle Marktteilnehmer, alle Produkte und alle Märkte überwacht und reguliert“ werden sollen. Vieles ist davon bereits umgesetzt worden.
Noch nie hat ein deutscher Bundeskanzler das Misstrauen in die Marktwirtschaft in einer solchen Weise zum Ausdruck gebracht. Wenn die neue Bundesregierung die Absicht hat, ihr Verhältnis zur Wirtschaft zu verbessern, dann muss also zunächst dieses Misstrauen vom Tisch.
Auf der anderen Seite muss die Wirtschaft verbal abrüsten, damit Gespräche überhaupt beginnen können. Nicht nur die Politik hat übertrieben, sondern auch die Wirtschaft mit ihrer Kritik. Ein jüngstes Beispiel ist die Attacke des Bundesvorsitzenden der Volks- und Betriebswirte, Professor Malcom Schauf, gegen die Bundeskanzlerin: „Merkel macht nichts, oder sie tut Dinge, die Deutschland schaden“, sagte er öffentlich. Solchen Äußerungen vertiefen die Spaltung, anstatt die zerrüttete Beziehung zu reparieren.
Es wird vermutlich noch lange dauern, bis Wirtschaft und Politik wieder zueinander finden. Beide Seiten sind gefordert.