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Klima und Energiewende : Merkels Energiewende vom 11. März 2011
15.08.2015 18:22 (3900 x gelesen)

Merkels Energiewende vom 11. März 2011

Am Freitag, dem 11. März 2011, erschütterte um 14.46 Uhr Ortszeit ein Beben der Stärke 9,0 den Nordosten von  Japan . Zwei Minuten später schaltete sich das Kernkraftwerk Fukushima automatisch ab. Gleichzeitig sprangen die Dieselgeneratoren an, um die Notkühlung der Generatoren zu übernehmen. Doch dann kam ein gewaltiger Tsunami und spülte die Dieselgeneratoren ins Meer. Ohne Kühlung waren die heißen Brennstäbe sich selbst überlassen, so dass sich im Reaktorgebäude explosiver Wasserstoff sammeln konnte. Der Betreiber Tepco versuchte, durch Ablassen der Gase eine  drohende Explosion zu verhindern. Vergeblich: Nacheinander kam es in mehreren Blöcken des Kraftwerks zu Wasserstoffexplosionen und zur Freisetzung radioaktiver Substanzen. Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf.

Der vorzeitige Atomausstieg

Die politische Führung in Berlin reagierte auf die Katastrophe unverzüglich mit hektischer Betriebsamkeit. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) setzte  noch am gleichen Tag einen Krisenstab ein. „Alles hat sich radikal geändert“, sagte er. Am gleichen Abend gab es ein Treffen im Kanzleramt, um die Frage zu erörtern, wie man auf die Katastrophe  „politisch“ reagieren müsse. In Baden-Württemberg standen Landtagwahlen vor der Tür. Man war sich einig, dass die Katastrophe ein „Umdenken“  erfordere und etwas gegen die Verunsicherung in der Bevölkerung, über die Wahlkämpfer berichtet hatten,  getan werden müsse. Es galt, aus machtpolitischen Gründen, den steilen Anstieg der Umfragewerte für Bündnis90/Die Grünen zu stoppen. Fukushima bot Merkel nn ein schmales Zeitfenster, um eine atompolitische Kehrtwende um 180 Grad ohne Gesichtsverlust durchtzuziehen.

Am nächsten Tag, einem Samstag, telefonierte die Kanzlerin mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten  Stefan Mappus, der nervös auf  politische Signale aus Berlin wartete, um sich gegen die Attacken der Grünen zu wehren. Dazu trafen sich am Sonntagabend wichtige Politiker der schwarz-gelben Koalition im Kanzleramt. Man verständigte  sich darauf, dass die Verlängerung der Laufzeiten, die wenige Monate zuvor beschlossen worden war, angesichts der neuen Lage „nicht vollzogen“ werden sollte. Außerdem sollten einige Kraftwerke „vom Netz“, um deutlich zu machen, dass die Union die Sorgen der Menschen ernst nahm. Damit war das sog. „Moratorium“ geboren, mit dem sieben ältere  Atomkraftwerke befristet für drei Monate still gelegt wurden.

Am darauf folgenden Montag teilte Angela Merkel der Öffentlichkeit ihre Entscheidung mit und erklärte dazu, sie sei hinsichtlich des Risikos von Atomkraftwerken "zu einer neuen Beurteilung gekommen". Dies war´s! Eine weitere Begründung hielt sie nicht für erforderlich. Ihr Interesse galt einer schnellen Umsetzung, schon wegen der in Baden-Württemberg anstehenden Landtagswahl. Zur Rechtslage war sie der Meinung: „Ich glaube, dass wir keine Gesetzesänderung brauchen“. 

Die Umsetzung des Moratoriums konnte nur in der Weise erfolgen, dass die Atomaufsichtsbehörden der Länder, in denen sich die Kraftwerke befinden, ihre befristete Stilllegung anordneten. Um solche Stilllegungsverfügungen vorzubereiten, fanden sich die betroffenen Ministerpräsidenten  - allesamt Politiker der Union - einen Tag später mit ihren Fachbeamten im Kanzleramt ein. Zu klären waren zwei Fragen:   Wer sollte für eine evtl. rechtswidrige Entscheidung haften? Und wie ließ sich ein Abschalten rechtfertigen?

Zur ersten Frage soll die Kanzlerin den Ministerpräsidenten gesagt haben: „Wir lassen die Länder nicht im Regen stehen“. Zur zweiten Frage versprach Norbert Röttgen den Anwesenden, er werde ihnen den Entwurf eines „quasi unterschriftsreifen Stilllegungsbescheids“ zuschicken. Als dieser Entwurf bei der Hessischen Landesregierung eintraf, fanden die dort zuständigen Fachbeamten der Abteilung Kerntechnische Anlagen und Strahlenschutz die Begründung  jedoch für unzureichend, um die Stilllegung der Meiler in Biblis zu rechtfertigen. Da aber politisch entschieden war, dass die Stilllegungsverfügung „zum 18. März raus sein“ sollte, verfiel man auf eine ungewöhnliche Idee: Die ganze Abteilung wurde von ihrer fachlichen Verantwortung entbunden und zu einem Büro für „qualifizierte Schreibarbeit“ herabgestuft. So sollte insbesondere vermieden werden, dass die Bedenken der Fachleute aktenkundig wurden. Die Verantwortung für die Stilllegung lag demnach bei dem damaligen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) und der Umweltministerin Lucia Puttrich (CDU). 

Der Stilllegungsverfügung wurde erlassen, ohne den Biblis-Betreiber RWE anzuhören, so dass der Bescheid schon aus diesem Grund anfechtbar war. Laut Abschlussbericht des vom Hessischen Landtag installierten Biblis-Untersuchungsausschusses war die Verfügung aber auch aus materiellen Gründen rechtswidrig, weil mögliche Risiken der Atomkraft für Deutschland nicht ausreichend begründet waren. Damit musste sich der Untersuchungsausschuss auch mit der Frage befassen, wer für die Stilllegungsverfügung und den dadurch RWE entstandenen Schaden verantwortlich ist. Der Untersuchungsausschuss sagt dazu, dass "die Grundentscheidung" in Berlin getroffen worden sei. Den betroffenen Ländern sei "kein eigener Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der Rechtsgrundlage" geblieben.  

Politische Legende

Von den verwaltungsinternen Bedenken und den seltsamen Abläufen erfuhr die Öffentlichkeit nichts. Ihr wurde vielmehr von Norbert Röttgen (CDU) folgende Geschichte erzählt: „Ich habe die Reaktorsicherheitskommission mit einer Untersuchung aller Kraftwerke beauftragt, und gleichzeitig haben wir mit der Ethikkommission einen Ort geschaffen, an dem gesellschaftliche Pluralität abgebildet werden sollte und um die politische Diskussion intellektuell und kompetent zu begleiten. Am Ende stand die von einer breiten Mehrheit in der Gesellschaft, aber auch in der Partei getragene Entscheidung, schneller als bisher geplant aus der Kernenergie auszuscheiden.“

Diese Darstellung von Norbert Röttgen stellt den Ablauf der Ereignisse auf den Kopf. Die Entscheidung, „schneller als bisher geplant aus der Kernenergie auszuscheiden“, stand nicht am Ende einer „politischen Diskussion“, sondern wurde bereits am Anfang von einem kleinen Kreis um Angela Merkel getroffen. Die Reaktorsicherheitskommission und die Ethikkommission hatten nur noch die Aufgabe, die bereits endgültig getroffene Entscheidung nachträglich zu legitimieren.

Die mit der Sicherheitsprüfung beauftragte Reaktorsicherheitskommission jedenfalls kam sehr schnell zu einem eindeutigen Ergebnis:  Danach genügten alle 17 deutschen Atommeiler, einschließlich der älteren Kraftwerke,  den gesetzlichen Sicherheitsanforderungen. Sie waren vor allem gegen Überflutungen und Notstromausfälle deutlich besser gesichert als die japanischen Reaktoren in Fukushima. Die von der Bundeskanzlerin für ihre Entscheidung angeführte „neue Beurteilung“  konnte sich deshalb schwerlich auf die Sicherheitslage der deutschen Kernkraftwerke bezogen haben.

Aufgabe der Ethikkommission war es, dem im Kanzleramt längst beschlossenen Atomausstieg das Siegel der „ethischen Alternativlosigkeit“ aufzudrücken. Die Kommission, die aus Kirchenvertretern, Risikoforschern und Philosophen, Wissenschaftlern der Fachrichtung „Umwelt“, Gewerkschaftlern und einem Manager bestand, erledigte diesen Auftrag erwartungsgemäß: „Der Ausstieg ist nötig und wird empfohlen, um Risiken, die von der Kernkraft in Deutschland ausgehen, in Zukunft auszuschließen.“

Auch Jürgen Hambrecht, Chef der BASF, und Michael Vassiliadis, Chef der IG Chemie, beide Mitglieder der Ethikkommission, stimmten dieser Empfehlung zu. Vier Jahre später sahen sie Deutschland aber mit der Energiewende „auf dem Weg in die Sackgasse“ (FAZ vom 30. Mai 2015). In einem dramatischen Appell warnten sie vor den fatalen Konsequenzen, vor den Arbeitsplatzverlusten und vor der Nutzlosigkeit des Energiekonzepts für das Weltklima. Diese späte Einsicht überraschte, weil Energieexperten genau dies vorausgesagt hatten.

 Rechtfertigung der Energiewende

Zur Rechtfertigung des Moratoriums berief sich Umweltminister Norbert Röttgen auf Paragraph 19 Absatz 3 des Atomgesetzes, wonach Kernkraftwerke stillgelegt werden können, wenn sich „durch die Wirkung ionisierender Strahlen Gefahren für Leben, Gesundheit oder Sachgütern ergeben können“.  Eine solche Begründung hielten viele Verfassungsrechtler nicht für stichhaltig. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier bezeichnete das Moratorium  als eine „illegale Maßnahme“. Ein Gesetz aussetzen könne nur das Bundesverfassungsgericht, aber nicht die Bundesregierung.

Trotz dieser Bedenken fanden die hastigen Entscheidungen der Bundesregierung in der Öffentlichkeit und den Medien breite Zustimmung, was die Bundesregierung in ihrem Vorgehen bestärkte. Dass hierbei gröblich gegen rechtstaatliche Grundsätze verstoßen wurde, regte niemanden auf. Auch in der Union war nirgends der Wunsch zu spüren, über den neuen Kurs der Regierung  eine grundsätzliche Debatte zu führen. Als Angela Merkel im Bundesvorstand der CDU über die beschlossenen Maßnahmen referierte, wurden diese nur von Arnold Vaatz (MdB) und von Dr. Josef Schlarmann kritisiert. Alle anderen akzeptierten, was die Parteivorsitzende als richtig befunden und angeordnet hatte. 

Gestützt wurde diese Reaktion durch die typisch deutsche Reaktion auf den Reaktorunfall. Die deutschen Medien berichteten nicht nur intensiver als ausländische  Medien über diese Katastrophe, sondern thematisierten vor allem die Kernenergie im eigenen Land. Japan schien aus Sicht vieler Journalisten nur das zu bestätigen, was man schon lange zu wissen glaubte, nämlich die Unbeherrschbarkeit der Kernenergie. Es war die von den Medien in der Bevölkerung verbreitete Angst vor einem Atomunfall, die dazu führte, dass die Entscheidung über den Atomausstieg eine so breite Zustimmung fand.

Das für den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie erforderliche Gesetz beschloss der Deutsche Bundestag erst am 20. Juni 2011 mit der 13. Änderung des Atomgesetzes. Die auf Grund des Moratoriums bereit abgeschalteten sieben älteren Reaktoren wurden endgültig vom Netz genommen. Für alle anderen Kraftwerke wurde ein festes Enddatum in das Gesetz geschrieben. Damit entfiel für die Betreiber die Möglichkeit, nicht ausgeschöpfte Produktionsmengen von einem Kraftwerk auf ein anderes zu übertragen. Die Betriebserlaubnis des letzten Kraftwerks sollte im Jahr 2022 erlöschen.

Folgeprobleme

Gerichtsverfahren:

Die Energiekonzerne wehrten sich gegen die Stilllegung der Atomkraftwerke durch Anrufung der Gerichte. Im Februar 2013 entschied der Hessische Verwaltungsgerichtshof  zugunsten der RWE, dass die befristete Stilllegung der beiden Reaktoren in Biblis rechtswidrig war. Das Urteil diente RWE als Grundlage für eine zivilrechtliche  Klage in Höhe von 235 Millionen Euro. Eon folgte mit einer Klage über 380 Millionen, nachdem Vergleichsverhandlungen gescheitert waren.

Die Unternehmen Eon, RWE und Vattenfall legten außerdem beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde gegen die endgültige Stilllegung ihrer Kernkraftwerke ein. Sie begründen dies mit der Verletzung ihres verfassungsmäßig garantierten Eigentumsrechts. Zusätzlich verklagte der schwedische Staatskonzern Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland vor dem Schiedsgericht der Weltbank in Washington wegen der  entschädigungslosen Abschaltung der beiden Kraftwerke Brunsbüttel und Krümmel. Vattenfall wählte das Schiedsgerichtsverfahren, weil seine Klagebefugnis als Staatsunternehmen vor dem Bundesverfassungsgericht fraglich war. Die Bundesregierung reagierte auf diese Klagen mit Entrüstung: „Wir nehmen mit Verwunderung und Bedauern zur Kenntnis, dass der große gesellschaftliche Konsens zu Atomausstieg und Energiewende bei den Energiekonzernen offenbar noch nicht angekommen ist.“  

Die mündliche Verhandlung vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe fand am 15. März 2016 statt, also erst fünf Jahre nach dem Atommoratorium . Insgesamt ging es um einen Schaden, den die klagenden Energiekonzerne mit 22 Milliarden Euro bezifferten. Das Bundesverfassungsgericht entschied jedoch am 6. Dezember 2016, dass es sich bei der AKW-Stilllegung nicht um eine Enteignung gehandelt habe, weil sich der Staat nichts angeeignet, sondern den Betreibern lediglich Produktionslinien gestrichen habe. Dazu sei die Politik berechtigt gewesen, weil Atomkraft grundsätzlich einen starken "Sozialbezug" habe.

Trotzdem erkannten die Richter den Energiekonzernen RWE, Eon und Vattenfall eine Entschädigung zu, weil die Bundesregierung ihnen mit der Novelle des Atomgesetzes entschädigungslos Reststrommengen genommen hatte, die ihnen im Atomkonsens von 2002 zugesichert worden waren. Außerdem hatte das Kabinett von Angela Merkel noch Ende 2010 den  Beschluss über eine Laufzeitverlängerung von immerhin zwölf Jahren gefasst, der aber schon nach vier Monate wieder gekippt wurde. Hierdurch wurde die Eigentumsgarantie des Grundgestzwes "unzumutbar, teilweise auch gleichheitswidrig beschränkt", urteilten die Verfassungsrichter. Solche Eingriffe seien nur dann verfassungsmäßig, wenn der Staat die Konzerne für deren Folgen entschädige. 

Die Verfassungsrichter verurteilten die Regierung jedoch nicht zur Leistung eines der Höhe nach bestimmten Schadensersatzes, sondern zur Herstellung eines "verfassungsmäßigen Zustandes"  beim Atomausstieg. In welcher Form die Regierung dieser Aufforderung Folge leistete, blieb ihr überlassen. Denkbar waren nach Meinung der Verfassungsrichter ein künftiges "Entschädigungsgesetz" oder eine politische Lösung, z.B. in Form längerer Laufzeiten für einzelne Kernkraftwerke. Zudem stellte das Verfassungsricht fest, die Bundsregierung müsse nicht zwingend vollen Wertersatz, sondern nur einen angemessener Ausgleich leisten. Als Frist für die Wiedergutmachung setzten die obersten deutschen Richter den 30. Juni 2018. 

Erst im Mai 2018 präsentierte das Umweltministerium den Entwurf eines Entschädigungsgesetzes, wonach die Konzerne RWE und Vattenfall ab dem Jahr 2023 (nach Stilllegung des letzten Atomkraftwerks) eine Entschädigung erhalten sollen, doch eine konkrete Summe  sah der Referententwurf nicht vor. Zuvor sollten die beiden Atomkonzerne versuchen, sich die übrig geliebenen Laufzeiten von der Konkurrenz abkaufen zu lassen. Vattenfall reagierte mit Empörung auf dieses Vorschlag und kritisierte, dass das Umweltministerium eine Entschädigungsvariante gewählt habe, die das Gericht als unzumutbar verworfen habe.

Kommission Kernenergieausstieg

Parallel zu den Rechtsstreitigkeiten setzte die Bundesregierung eine  "Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs" (KFK) mit dem Auftrag ein, für die Finanzierung der Folgen des abrupten Atomausstiegs (Abriss sowie End- und Zwischenlagerung) eine Lösung zu finden. Ende April 2016 schlug die Kommission folgendes vor: Der Bund übernimmt die Verantwortung und die Kosten für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls, für den die Atomkonzerne bislang voll gehaftet hatten. Im Gegenzug zahlen die vier Stromkonzerne E.on, RWE, Vattenfall und EnBW bis zum Jahr 2022 ratenweise rund 23,3 Milliarden Euro in einen staatlichen Fonds. Außerdem übernehmen sie die Kosten für Stilllegung und Abriss der Atomkraftwerke. 

Dieser Vorschlag fand die Zustimmung der Regierungsparteien und der Grünen. Die Regierung erklärte, dass sie der Empfehlung der Kommission folgen wolle. "Die Bundesregierung wird den Bericht nun genau prüfen und die erforderlichen Maßnahmen anschließend umsetzen", teilte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) mit. Dies erfolgte mit dem Gesetz zur "Neuregelung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung", das der Bundestag Mitte Dezember 2016 beschloss.

Mit diesem Gesetz verband die Bundesregierung die Erwartung, dass die Konzerne ihre diversen Klagen gegen den Atomausstieg zurückziehen. Hierzu hatte das Kommissionsmitglied Ole von Beust (CDU) die Atomkonzerne ausdrücklich aufgerufen: "Man kann davon ausgehen, dass die Regierung das so verwirklichen wird." Ein anderes Kommissionsmitglied meinte:  "Mit einem neuen Entsorgungskonsens besteht die Chance, endgültig den Streit um die Nutzung der Kernenergie zu beenden."  Honi soit qui mal y pense.

Der Deal zwischen der Bundesregierung und den Atomkonzernen wurde perfekt, als das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorlag. Schon wenige Tage danach bestätigten die Energiekonzerne in Schreiben an die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Grünen, dass sie ihre Klagen gegen die Betriebseinstellungen von Kernkraftwerken zurücknehmen werden. Dafür wurde ein verbindlicher Vertrag verlangt, der auch künftige Bundesregierungen binden würde. In den Schreiben heißt es dann:  "Weiter gehend sind wir im Gegenzug gegen die vertragliche Vereinbarung einer dauerhaften Enthaftung für den Bereich der Zwischen- und Endlagerung auch bereit, auf Rechtsbehelfe gegen das oben genannte Artikelgesetz sowie darauf zu verzichten, seine Wirksamkeit in anderen Gerichtsverfahren aktiv auf den Prüfstand zu stellen."

Mit Artikelgesetz war das Gesetz zur "Neuregelung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung" gemeint, mit dem der Staat anstelle der Atomkonzerne die Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls übernahm. Die Politik war mit dem getroffenen Deal mehr als zufrieden, weil damit auch die peinlichen Gerichtsverfahren erledigt wurden. "Es ist eine Riesenschritt", sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Michael Fuchs. Den Grund nannte der Grüne Jürgen Trittin auf Twitter: "Auf dem Weg zum Rechtsfrieden - Atomkonzerne ziehen über 20 Klagen zurück, Rückstellungen gehen an den Staat."

Schiedsgericht der Weltbank

Nicht erledigt war jedoch die Schiedsklage, die Vattenfall 2012 beim Schiedsgericht der Weltbankgruppe (ICID) in Wahington eingereicht hatte. Vattenfall verlangt Schadensersatz in Höhe von 4,4 Milliarden Euro zuzüglich Zinsen, weil durch den beschleunigten Atomausstieg Reststrommengen für die AKWs Brunsbüttel und Krümmel entschädigungslos enteignet wurden. 

Seine Klage stützt der schwedische Konzern auf den völkerrechtlichen Energiecharta-Vertrag aus dem Jahr 1994, den auch die EU mit ratifiziert hat. Der Vertrag soll ausländische Investoren im Energiesektor vor staatlicher Willkür schützen und sichert ihnen eine "faire und gerechte Behandlung" zu. Mit einem Urteil des Schiedsgerichts wurde im ersten Quartal 2018 gerechnet. Die Bundesregierung setzte jedoch alles daran, dies zu verhindern, weil die Chancen der Schweden nach einer vorläufigen Einschätzung des Gerichts gut aussahen.  

Zunächst behauptete die Bundesregierung, dass für die Entscheidung über den Rechtsstreit nicht das Schiedsgericht, sondern der Europäische Gerichtshof (EuGH) zuständig sei. Sie berief sich dazu auf das Achmea-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), das ein bilaterales Schutzabkommen zwischen zwei EU-Staaten betraf. "Für uns sind auch Intra-EU-Schiedsverfahren nach dem Energiecharta-Vertrag rechtswidrig", argumentiert das Wirtschaftsministerium in Berlin. Vattenfall vertritt demgegenüber die Auffassung, dass das Achmea-Urteil solches nicht hergibt.

Ende August 2018 erklärte sich das Schiedsgericht entgegen der Ansicht der Bundesregierung für zuständig, so dass es in der Sache entscheiden konnte. Daraufhin beantragte das Wirtschaftsministerium  bei der Washingtoner Schiedsgerichtsorganisation ICSID die sofortige Absetzung des Schiedsgerichts - nach mehr als fünfeinhalb Jahren, in denen sich das Gericht intensiv mit diesem Rechtsstreit befasst hatte. Alle drei Rechtsgelehrten seien "disqualifiziert", weil sie erneut Fragen an die Parteien gestellt hätten, die schon umfassend im Schiedsverfahren erörtert worden seien, erklärte ein Sprecher des Ministeriums. "Der späte Zeitpunkt der Übermittlung des Fragenkatalogs, zwei Jahre nach der mündlichen Verhandlung, sowie der Inhalt der Fragen lassen erhebliche Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Schiedsgerichts aufkommen."

Hierzu erklärte eine Sprecherin von Vattenfall: "Nicht nur wir selbst, sondern auch sonstige Beteiligte haben das Schiedsgericht seit Beginn des Verfahrens als überaus sorgfältig, unparteiisch und professionell wahrgenommen". Sie dürfte vermutlich Recht haben, so dass mit einer Zurückweisung des Befangenheitsantrages zu rechnen ist. Ob es dann zu einem schnellen Schiedsurteil kommt, ist jedoch weiterhin ungewiss, weil sich die Bunderegierung auch um eine politische Lösung bemüht.

Für die Europäische Kommission und viele EU-Staaten handelt es sich bei den privaten Schiedsgerichten um eine "Paralleljustiz", die abgeschafft werden sollte. Inzwischen haben sich 22 EU-Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, dazu verpflichtet, ihre bilateralen Investitionsschutzverträge mit anderen EU-Mitgliedsstaaten bis zum 6. Dezember 2019 zu beenden. Insbesondere "sollen keine innergemeinschaftlichen Investitionsschiedsverfahren mehr eingeleitet" werden, heißt es in dem Schriftstück. Außerdem werden Schedsgerichte angehalten, die noch laufende Verfahren zu beenden und keine neuen Verfahren mehr zuzulassen.

Endlagersuche:   

Mit der Übernahme der Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls rückt die politisch brisante Frage in den Mittelpunkt, wo der strahlende Atommüll in Deutschland gelagert werden soll. Hierzu hat die Bundesregierung aufgrund des 2013 beschlossenen "Standortauswahlgesetz" eine Endlagerkommission mit dem Auftrag eingesetzt, Kriterien für die neue Standortsuche zu definieren, um die "bestmögliche" Deponie zu finden. Das Gremium, das mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen und Fachpolitikern der großen Parteien besetzt ist, hat sich inzwischen auf wichtige Auswahlkriterien geeinigt. Mit dem Einvernehmen in der Kommission war es jedoch schlagartig vorbei, als ein "Kommissionspapier" mit unbekannter Urheberschaft die Runde machte, wonach der Standort Gorleben "politisch nicht durchsetzbar" sei.

Die Co-Vorsitzende Ursula Heinen-Esser (CDU) zeigte sich darüber verärgert: "Die Kommission hat den Anspruch, wissenschaftliche Kriterien für die Standortsuche zu definieren. Dabei ist Deutschland eine weiße Landkarte - in einem Verfahren, dem sich auch Gorleben stellen muss. Wenn wir jetzt plötzlich wieder politische Kriterien zulassen, fallen wir zurück in die Schlachten vergangener Jahrzehnte und werden noch in hundert Jahren nach einem Endlager suchen", warnte sie. Die Warnung bestätigte sich schnell. Über siebzig Anti-Atom-Initiativen und Umweltverbände erklärten, kein Vertrauen mehr in die Arbeit der Kommission zu haben. "Dies ist kein Neustart beim Umgang mit dem Atommüll, sondern die Fortführung eines falschen und gescheiterten Verfahrens." 

Nach der Erledigung der Gerichtsverfahren und dem Deal über die Kosten des Atomausstiegs droht also weiterer Ärger. Michael Fuchs forderte den Bund deshalb auf, so schnell wie möglich ein Endlager zu bauen, und warnte: "Wenn die Politik aber erst alles im Schwarzwald, in der Lüneburger Heide, im Bayerischen Wald oder sonst wo erkunden will, kann es teuer werden." Nach der Neuordnung der kerntechnischen Entsorgung trägt der Steuerzahler auch dieses Risiko.

  


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