Karl Schiller: Theorie und Praxis
Professor Karl Schiller (SPD) war von 1966 bis 1972 Bundesminister für Wirtschaft, zunächst im Kabinett von Kurt Georg Kiesinger und dann unter Willy Brandt. Er war Ende der 1960er Jahre der populärste deutsche Politiker. Niemals in der Geschichte der Bundesrepublik besaßen wissenschaftliche Expertise und die Nationalökonomie eine solche Reputation wie in dieser Zeit.
Karl Schiller war das Gegenbild zu Ludwig Erhard. Er verkörperte den politischen Technokraten, der sein Verständnis von der Nationalökonomie an den Natur- und Ingenieurwissenschaften orientierte. Er sah darin eine „exakte Wissenschaft“, die nicht auf Werturteilen beruht, sondern sich mit objektiven Wahrheiten beschäftigt. Er war zutiefst davon überzeugt, dass „die Politik bald zum Geschäft der kühlen Rechner und unpolitischen Experten“ werden würde. An diesen Rationalitätsethos hat er sein ganzes Leben lang geglaubt.
Schiller und Erhard
Wie Ludwig Erhard war auch Karl Schiller ein Kind seiner Zeit. In seinen Vorlesungen an der Universität Hamburg, an die sich der Verfasser gut erinnert, zeigte er sich als überzeugter Anhänger der Lehren des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Unter den Nationalökonomen hatte sich der Glaube durchgesetzt, dass die Wirtschaft - wie es Keynes gelehrt hatte - mit Hilfe der staatlichen Fiskal- und Geldpolitik gesteuert werden kann. Die Konjunktur, so Karl Schiller „ist nicht unser Schicksal, sondern unser Wille.“ Dies war ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik, von dem man sich dauerhaftes Wirtschaftswachstum versprach. Auch der 1963 gegründete Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung folgte anfangs diesem Glauben.
Karl Schiller war wie John Maynard Keynes in seinen wirtschaftspolitischen Einstellungen durch die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre geprägt worden. Er war überzeugt, dass es in einer Marktwirtschaft regelmäßig zu gesamtwirtschaftlichen Störungen mit Arbeitslosigkeit und Wohlstandsverlusten kommen muss. Um solche Störungen zu vermeiden und zu beseitigen, setzte er nicht auf die Selbstheilungskräfte der Märkte, sondern auf den Staat. Mit Hilfe kreditfinanzierter Staatsausgaben („deficit spending“) und einer expansiven Geldpolitik sollte die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stimuliert werden, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Sein Vorbild war Franklin D. Roosevelt, der in den USA auf die Weltwirtschaftskrise mit dem „New Deal“ reagiert hatte.
Ludwig Erhard hat diese neue Wirtschaftspolitik aus grundsätzlichen Gründen abgelehnt. In einer Rede vor der Mont Pelerin Gesellschaft am 1. September 1968 sagte er:
„Jene nationalökonomische Schule, die sich Ökonometrie nennt, glaubt, ihre Widersacher, zu denen ich mich zähle, mit der Charakterisierung „altmodisch“ und „überlebt“ abwerten oder schlechthin abtun zu können. … Ich behaupte, dass diese moderne Art von Wirtschaftspolitik im höchsten Maß dazu beiträgt, die wirtschaftliche Freiheit zu unterhöhlen. … Damit leugne ich selbstverständlich nicht die Berechtigung oder vielleicht sogar Notwendigkeit, zu gegebener Zeit vom verfügbaren wirtschaftspolitischen Instrumentarium Gebrauch zu machen. Mir scheint es jedoch notwendig zu betonen, dass die Wirtschaftspolitik immer einer Orientierung an gesellschaftspolitischen Wert- und Orientierungsvorstellungen bedarf. Das Wesen der Marktwirtschaft erschöpft sich nicht in Technik und Mechanik. … Das Leben lässt sich nicht rechenhaft einfangen, und das gesellschaftliche Geschehen entzieht sich der Machbarkeit. … Die einen werden sagen, dass die Unübersichtlichkeit und das Unwägbare eine volkswirtschaftliche Planung erforderlich machen, während die anderen umgekehrt der Überzeugung sind, dass aus den gleichen Gründen jede Planung versagen muss und dass nur eine gleichgewichtige Ordnung die Funktionsfähigkeit des Marktes sichern und uns damit die Freiheit bewahrt.“
Gegenüber dem Bonner Superstar Schiller, der 1969 bei der berühmten „Schiller-Wahl“ den Wahlkampf in ein ökonomisches Oberseminar verwandelte, wirkten diese liberalen Gedanken in der Tat altmodisch und überlebt.
Die Mini-Rezession 1966
Mitte der sechziger Jahre gab es in der jungen Bundesrepublik die erste Rezession seit der Währungsreform. Nach jährlichen Wachstumsjahren von 5,0 und mehr Prozent bremste die Konjunktur im Jahr 1966 plötzlich ab, weil die Exporte nachließen und die inländischen Investitionen ausblieben. 1967 schrumpfte die Wirtschaft um 0.3 Prozent, und die Arbeitslosenquote kletterte von 0.5 auf 2,1 Prozent. Die deutsche Öffentlichkeit war stark beunruhigt, wodurch sich das Klima in der von Ludwig Erhard geführten liberal-konservativen Koalition verschlechterte. Ende 1966 trat Erhard als Bundeskanzler zurück.
Diese Mini-Rezession nahm Karl Schiller als neuer Wirtschaftsminister zum Anlass, die Keynes´sche Lehre, die international ihren Zenit schon überschritten hatte, auch in der Bundesrepublik auszuprobieren. Mit zwei ambitionierten Konjunkturprogrammen wollte er diesen Konjunkturabschwung aufhalten. Tatsächlich erholten sich die Exporte aber schneller, als die Programme wirken konnten. Schon im zweiten Jahre nach dem Wachstumseinbruch sank die Arbeitslosenquote wieder unter 1,0 Prozent. Die wirtschaftliche Erholung war somit eher den Selbstheilungskräften der Wirtschaft als dem staatlichen Konjunkturprogramm zu verdanken.
Ludwig Erhard hielt solche Konjunkturprogramme nicht nur für nutzlos, sondern auch für schädlich. Der Staat, so sein Credo, sollte die Rahmenbedingungen so setzen, dass der Marktmechanismus reibungslos funktionieren konnte. Er sollte aber nicht aktiv in den Wirtschaftsverlauf eingreifen - dieser Grundsatz war für seine Wirtschaftspolitik prägend. Kennzeichnend für Ludwig Erhard war vor allem der bewusste Verzicht auf jede quantitative Wirtschaftsplanung. „In schwächeren Wachstumsraten sah er kein Malheur - weder ein Markt - noch ein Politikversagen“ (Horst Friedrich Wünsche). Nicht die Politiker, sondern die Akteure in der Wirtschaft sollten über die Art und Höhe des Wachstums entscheiden. Erhard wollte Wirtschaftsfreiheit garantieren.