Macron oder Lindner ?
Es herrscht wieder Aufbruchstimmung in der Europäischen Union. Es war Mitte September 2017, als der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Abgeordneten im Europäischen Parlamentes sein Vision von Europa erklärte: Mehr Brüssel, mehr Euro und mehr Geld. Geht es nach Juncker, wird es zukünftig nur noch einen Präsidenten von Kommission und Europäischem Rat geben, der als „Spitzenkandidat“ von den Wählern direkt bestimmt wird. Der Euro soll kurzfristig in allen Mitgliedsländern der EU eingeführt werden.
Gleichzeitig unterstützte Juncker den Plan, den Euro-Krisenfonds ESM schrittweise in einen Europäischen Währungsfonds (EWF) umzuwandeln, der selbständig entscheiden kann. Außerdem forderte Juncker einen Eurohaushalt mit deutlich mehr Geld und einen in der Kommission angesiedelten Finanzminister. Dieser solle „alle Finanzierungsstrukturen“ im Euroraum „koordinieren“. Das heißt: Er soll über viel Geld verfügen und es verteilen können. „Leinen los“ rief Juncker am Schluss seiner Rede den Abgeordneten zu.
I
Ende September 2017 hielt der französische Präsident Emmanuel Macron in der Pariser Universität Sorbonne ein flammendes Plädoyer für mehr Europa. Auch er ist der Meinung, „dass Europa schneller und kräftiger voranschreiten muss – für mehr Souveränität, mehr Einheit und mehr Demokratie“. Auch er forderte wie Juncker einen Euro-Haushalt, einen europäischen Finanzminister sowie erweiterte Kompetenzen für den Euro-Krisenfonds ESM.
„Ich bin der festen Überzeugung, dass Europa nicht einfach stehen bleiben darf“, sagte Macron in Anspielung auf ein von dem früheren EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors geprägtes Bild, wonach Europa wie ein Fahrrad sei – bleibe es stehen, falle es um. Dabei geht es ihm vor allem um das französische Sozialsystem, das er nicht reformieren, sondern zum Maßstab für Europa machen will. Die soziale Sicherung und ihre Beiträge lägen in der EU zu weit auseinander und müssten über einen europäischen Sozialfonds angeglichen werden, sagte er. Leiharbeit und der Einsatz von Werkverträgen müssten eingegrenzt werden, um Konkurrenz durch Billigarbeiter einzudämmen.
Die Vorschläge aus Brüssel und Paris beruhen auf der altbekannten These, dass mehr Gemeinschaftskompetenzen und mehr Geld die eigentlichen Treiber für die europäische Integration sind. Die damit verbundenen Nachteile durch eine wachsende Bürokratie, steigende Gemeinschaftshaftung und hohe Sozialtransfers sind die geduldeten Nebenwirkungen. Dies entspricht der französischen Tradition, die sich wirtschaftliche Entwicklung ohne staatliche Eingriffe („planification“) nur schwer vorstellen kann.
Der Gegenentwurf zu diesem Integrationsmodell ist die von Ludwig Erhard geprägte Soziale Marktwirtschaft, die auf der Grundüberzeugung beruht, dass der Staat nur die Rahmenordnung festlegt, innerhalb derer Unternehmen und Konsumenten frei über die wirtschaftliche Entwicklung entscheiden. Dies hat Konsequenzen für die europäische Integration: Ordnungspolitische Entscheidungen im Interesse des Gemeinwohls sind zulässig, dirigistische Eingriffe mit Lenkungswirkung demgegenüber nicht.
Dies war vor allen unter von der CDU geführten Regierungen die deutsche Position. Aber schon Ludwig Erhard hatte die Sorge, dass sich im deutsch-französischen Wettbewerb der Systeme das dirigistische Wirtschaftsmodell der Franzosen durchsetzen könnte. Er sah insbesondere in der deutsch-französischen Zusammenarbeit und in der Brüsseler Bürokratie die Gefahr, dass sich Planung und Dirigismus zulasten des marktwirtschaftlichen Ordnungsmodells ausdehnen würden.
Die Sorgen von Ludwig Erhard waren nicht unbegründet. In den letzten zwanzig Jahren ist der Verfall der Wirtschaftsordnungen in Europa weit fortgeschritten, ohne dass von deutscher Seite Widerstand geleistet wurde. Auf vielen Gebieten haben sich die Franzosen mit ihren Vorstellungen nicht nur in Brüssel, sondern auch in der EU durchsetzen können. Die von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble gelegentlich gezogenen „roten Linien“ haben diesen Prozess nicht aufhalten können, schon deshalb nicht, weil man nicht als „schlechter Europäer“ gelten wollte.
II
Die Debatte um die Reform der Europäischen Währungsunion hat nicht nur in der Politik, sondern auch unter Ökonomen an Schwung gewonnen. Deutlich wird dies in Aufrufen, die zwei Gruppen von Ökonomen in der F.A.Z. am 27. September und 11. Oktober 2017 veröffentlicht haben. Eine solche Debatte ist notwendig, weil der Euro-Raum nicht wetterfest ist. „Doch scheint es in der Debatte nur noch darum zu gehen, ob die Haftungsgemeinschaft der Staaten mehr oder weniger ausgebaut werden soll“, kritisiert Thomas Mayer diese Debatte.
Der erste Aufruf stammt von 15 bekannten Ökonomen aus Frankreich und Deutschland. Dort wird eine größere Teilung von Finanzrisiken innerhalb des Euro-Gebietes über „nichtfiskalische und nichtmonetäre Instrumente“ gefordert. Gemeint ist damit die marktwirtschaftliche Risikoteilung, etwa durch eine Versicherung zu risikoadäquaten Prämien. Außerdem sollen der Bestand an Staatsanleihen in den Bankbilanzen regulatorisch begrenzt und zum Ausgleich „sichere europäische Wertpapiere“ geschaffen werden. Dadurch sollen „staatliche Umschuldungen ohne Bankenkrise und umgekehrt Bankenrestrukturierungen ohne massive Kosten“ möglich werden. Der diesen Vorschlägen zugrunde liegende Leitgedanke ist folgender: Die Eurozone soll einerseits durch Risikoteilung (das deutsche Zugeständnis) und andererseits durch Stärkung der Marktkräfte (das französische Zugeständnis) gestärkt werden.
Der zweite Aufruf kommt von sieben italienischen Ökonomen. Sie kritisieren die französich-deutsche Gruppe dafür, dass sie die Umschuldung zahlungsunfähiger Staaten zulassen und den Banken den Kauf von Staatsanleihen erschweren wollen. Notwendig sei „neben der Einführung einer gemeinsamen Einlagesicherung (eine) angemessene fiskalische Rückabsicherung für den Bankenabsicherungsfonds und den Einlagensicherungsfonds“. Die italienischen Ökonomen sind für die Vergemeinschaftung der Haftung von Staaten und Banken und halten nichts von Marktdisziplin.
Thomas Mayer hält es für bemerkenswert, dass für 22 führende Ökonomen aus den drei größten Euroländern die Rückkehr zu der für den Euro ursprünglich vereinbarten Geschäftsgrundlage überhaupt keine Rolle mehr zu spielen scheint. Aber warum sollen Risiken umverteilt und die Haftung vergemeinschaftet werden, weil Länder sich nicht an die Regeln halten und über ihre Verhältnisse leben. Die logische Konsequenz wäre, solche Länder aus der Währungsunion zu entlassen.
III
Eine neue Studie der Bayern LB, über die in der Tageszeitung DIE WELT vom 30.09.2017 berichtet wurde, zeigt in erschreckender Weise, wie stark die finanziellen Transfers innerhalb der EU in den letzten zehn Jahren gewachsen sind und durch welche Haftungsgemeinschaften die Länder der EU inzwischen miteinander verflochten sind. In den vergangenen Jahren wurden durch verschiedene Maßnahmen vor allem die Haftungssummen immer weiter in die Höhe getrieben, für die die einzelnen Mitgliedstaaten mehr oder weniger geradestehen müssen. Inzwischen ist der Studie der BayernLB zufolge ein Transfer- und Haftungsvolumen von etwa 3,8 Billionen Euro zusammengekommen. Dies entspricht 35 Prozent der Wirtschaftsleistung der Euro-Länder.
Der Anstieg der Transfers und der Haftungsgemeinschaften hat auf verschiedenen Gebieten stattgefunden, vom gemeinsamen EU-Budget über Zahlungsbilanzhilfen bis hin zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB). Die derzeitige Bundesregierung hat sich zwar gegen Eurobonds ausgesprochen, im Übrigen aber aktiv daran mitgewirkt, dass sich auf europäischer Ebene die Gemeinschaftshaftung großflächig ausdehnen konnte. „In den vergangenen Jahren hat die (verdeckten) Vergemeinschaftung im Euro-Raum deutlich zugenommen“, heißt es in der Studie der Bayern LB.
Es sind die folgenden Bereiche, in denen diese Entwicklung laut Studie der Bayern LB stattgefunden hat:
• Bis zum Ausbruch der Finanzkrise war das EU-Budget, das die Mitgliedsländer in Nettoempfänger und Nettozahler aufteilt, der größte Transferposten. Wurden 2007 noch 114 Milliarden Euro umverteilt, so sind es für 2017 schon 143 Milliarden Euro, ein Anstieg von immerhin 25 Prozent.
• Hinzukommen Geldtransfers wie etwa die Zahlungsbilanzhilfen der EU, mit denen Ländern außerhalb der EU bei Zahlungsbilanzproblemen geholfen werden. Das maximale Kreditvolumen für diese Hilfen, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind, beläuft sich auf 50 Milliarden Euro. Ein ähnliches Instrument sind die sogenannten Macro Financial Assistence für Länder auf dem Balkan, die Zahlungsbilanzprobleme haben. Insgesamt stehen bei beiden Programmen derzeit Kredite in Höhe von sieben Milliarden aus.
• Stark gewachsen ist auch das Volumen der Europäischen Förderbanken, zu denen die Europäische Investmentbank oder die Nordic Investment Bank gehören. Die kumulierte Bilanzsumme dieser Banken hat sich in den letzten zehn Jahren von 371 Milliarden Euro auf knapp 500 Milliarden Euro erhöht.
• In der Schuldenkrise hat die EU temporäre Hilfsfonds wie den EFSM oder den EFSF auf den Weg gebracht. Der Höhepunkt der Kreditvergabe ist zwar überschritten, es stehen aber aktuell immer noch 231 Milliarden an Krediten aus. Beim dauerhaften Rettungsschirm ESM sind es derzeit noch 124 Milliarden Euro.
• Der gemeinschaftliche Haftungsrahmen ist vor allem durch das Programm der EZB in die Höhe geschossen, Monat für Monat in Milliardenhöhe Anleihen ihrer Mitgliedsländer zu erwerben. Das Ankaufvolumen summiert sich mittlerweile auf 2093 Milliarden Euro. Davon gehen zwar 1393 Milliarden auf Rechnung der nationalen Notenbanken, die Käufe werden aber mit Euros finanziert, die in der EZB-Bilanz stehen. Letztlich handelt es sich deshalb um eine Form der Vergemeinschaftung von Risiken.
• Eine weitere Position sind die Target-Konten bei der EZB, auf denen die Forderungen und Verbindlichkeiten der nationalen Notenbanken gegen das EZB-System ausgewiesen werden. Die Forderungen der deutschen Bundesbank belaufen sich mittlerweise auf weit über 800 Milliarden Euro. Sie sind nicht besichert und werden nicht verzinst. Schuldner sind vor allem Südländer wie Italien und Spanien. Sollte eines dieser Länder aus dem Euro austreten, müssten diese Forderungen wertberichtigt werden.
Insgesamt summieren sich die vorgenannten Transfers und Haftungsgemeinschaften auf einen Betrag von rund 3800 Milliarden Euro. Auch wenn sich die Maßnahmen und Instrumente im Härtegrad und im Risikopotential unterscheiden, zeigt ihr Volumen, wie weit sich die EU inzwischen von ihren Grundprinzipien wie Subsidiarität und staatlicher Eigenverantwortung entfernt hat. Es mangelt der EU vor allem an der demokratischen Legitimation. Legt man den Anteil Deutschlands von rund 30 Prozent an der Wirtschaftsleistung der Euro-Zone zugrunde, liegt der deutsche Haftungsanteil bei gut 1100 Milliarden Euro. Der deutsche Bundestag hat darüber nie entscheiden dürfen.
IV
Entsprechend skeptisch sollten deshalb die Vorschläge des französischen Präsidenten bewertet werden, ein gemeinsames Euro-Budget oder einen Europäischen Sozialfonds zu schaffen. Das europäische System der Transfers und der Gemeinschaftshaftung würde dadurch einen weiteren und nicht zu kalkulierenden Schub erhalten.
Während sich die Bundesregierung und die SPD grundsätzlich positiv zur Rede von Emmanuel Macron äußerten, reagierte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner auf die Vorschläge in einem Interview mit der FAZ kritisch. „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir wollen das Haftungsprinzip stärken, die Maastricht-Regeln anwenden und bei der Staatsfinanzierung zur Marktwirtschaft zurückkehren“, sagte er der FAZ.
Der FDP-Vorsitzende lehnte auch den von Wolfgang Schäuble unterstützten Vorschlag ab, den Krisenfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds mit deutlich erweiterten Kompetenzen auszubauen. „In einer Währungsunion, in der die Defizitregeln des Vertrages von Maastricht wieder eingehalten werden, wären dauerhafte Rettungsschirme nicht erforderlich“, sagte Lindner. Die FDP wolle stattdessen ein Insolvenzrecht für Staaten und eine freiwillige Austrittsmöglichkeit aus dem Euro durchsetzen. „Vor einem Europäischen Währungsfonds befürchte ich, dass die Vertreter der Stabilitätspolitik dort in der Minderheit wären und ein Pumpwerk für Finanztransfers geschaffen wird.“
ESM-Chef Klaus Regling will den ESM zu einem zentralen Finanzinstitut innerhalb der Währungsunion ausbauen. Unterstützt wird er dabei vor allem von Ländern mit hohen Staatsschulden und faulen Bankkrediten. Im Kern geht es darum, innerhalb der EU die Haftungsgemeinschaft zu vollenden. Hierzu soll der ESM am internationalen Kapitalmarkt Geld besorgen, um es notleidenden Ländern oder dem zentralen EU-Abwicklungsfonds für Banken zur Verfügung zu stellen.
Dazu müssen die EU-Verträge geändert werden. Artikel 136 im Vertrag über die EU-Arbeitsweise sieht vor, dass die Eurostaaten einen Stabilitätsmechanismus einrichten können, der nur aktiviert werden darf, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Eurowährungsgebietes insgesamt zu wahren. Das ehemalige Ausgangsproblem ist längst überwunden. Die Krisenländer Spanien, Italien, Portugal und Irland sind zurück am Kapitalmarkt. Der ESM hat keine Aufgabe mehr und muss geschlossen werden.
Ebenso deutlich lehnte Christian Lindner eine europäische Einlagensicherung als Haftungsverbund ab. „Der einzelne Staat muss für seinen privaten Bankensektor verantwortlich bleiben. Sonst gibt es Fehlanreize. Bei der Finanzstabilität glaube ich an die Zusagen und Stresstests nicht. Italien hat gerade wieder Banken mit öffentlichem Geld gerettet, obwohl Eigentümer und Gläubiger haften sollten. Ich ziehe daraus die Konsequenz, dass eine gemeinsame Einlagensicherung in einer Bankenunion, in der die Risiken geteilt werden, gegenwärtig keine Basis hat.“
Über die von Christian Lindner angesprochenen Themen wird aktuell auch in den Sondierungsgesprächen zur Bildung eine Jamaika-Koalition gesprochen. Man kann nur hoffen, dass sich Christian Lindner mit seinen Vorschlägen nicht nur im Koalitionsvertrag, sondern nach Bildung der Regierung auch gegenüber dem Kanzleramt durchsetzen kann.