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Europäische Krisen : Wohin treibt Europa?
31.12.2016 20:22 (2673 x gelesen)

Wohin treibt Europa ?

Die Europäische Union steht derzeit vor ihrer bisher größten Bewährungsprobe. An der Spitze der Herausforderungen steht das Thema der Migration. Auf Fragen, wie die EU-Außengrenzen wirksam zu sichern sind oder wie Flüchtlinge einigermaßen fair auf die EU-Mitgliedstaaten verteilt werden könnten, wurden bis heute keine angemessenen Antworten gefunden.

Ebenso planlos wirken die Versuche, die wirtschaftlich und fiskalisch angeschlagenen Mitgliedstaaten der EU zu stabilisieren. Bis heute sind über die Rettungsschirme und den Internationalen Währungsfonds IWF allein nach Griechenland rund 240 Milliarden Euro geflossen, ohne dass sich dort die Wirtschafts- und Haushaltslage verbessert hätte.

Gleichzeitig bewegt sich die Europäische Zentralbank mit ihrer Nullzinspolitik und dem Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen ordnungspolitisch und rechtlich auf  sehr dünnem Eis. Während die positiven Effekte der monetären Expansion immer geringer werden, nehmen die negativen Nebenwirkungen deutlich zu.

Die EU ist ökonomisch geschwächt und institutionell gelähmt. Die Politik wirkt ratlos, erschöpft und zerstritten. Zeit zu kaufen scheint zur Maxime der Rettungspolitiker geworden zu sein. Von überzeugenden Lösungen ist kaum eine Spur zu erkennen.  In allen Mitgliedstaaten befinden sich EU-skeptische Parteien im Aufwind.

Deshalb ist die Frage nach der Richtung, in die Europa treibt und in die es sich entwickeln sollte, selten so aktuell gewesen wie derzeit.

I
Das Führungsdefizit

Die EU hat ein massives Führungsproblem. Seit Beginn des europäischen Einigungsprozesses wurden europäische Initiativen meistens von Deutschland und Frankreich gemeinsam auf den Weg gebracht. Diese Zusammenarbeit funktioniert aber schon seit geraumer Zeit nicht mehr, weil die Bundesregierung im Unterschied zur französischen Regierung keine klaren Vorstellungen hat, wie sich die EU und insbesondere die Eurozone langfristig weiterentwickeln sollen. „Weder die Bundesregierung noch Opposition machen dazu Aussagen, die auf einen konsistenten Plan schließen lassen, es wird auf  ´Sicht geflogen´, und nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel“, schreiben Clemens Fuest und Johannes Becker in der FAZ vom 2. Dezember 2016.

Es gibt in Deutschland weder eine Langzeitstrategie noch eine Debatte darüber, in welche Richtung die Europäische Union weiterentwickelt werden soll. Die deutsche Europapolitik ist vielmehr ein Aneinanderreihen von Hauruckbeschlüssen, unterbrochen von langen Pausen, in denen einfach gar nichts stattfindet. Substantielle Initiativen kommen deshalb nicht aus Deutschland, sondern eher aus Frankreich, das die südlichen Länder anführt und mit konkreten Plänen vorprescht. Das langfristige Ziel der Südländer ist es, die EU politisch weiter aufzurüsten und die Eurozone in eine Solidarhaftungs- und Transferunion umzubauen, was angesichts der Verschuldung und wirtschaftlichen Schwäche dieser Länder in ihrem nationalen Interesse liegt.

In dieser Situation balanciert die Bundesregierung regelmäßig zwischen den Forderungen der Nachbarstaaten und dem Unwillen in der eigenen Fraktion hin und her. „Die Rolle Deutschlands ist rein reaktiv“, monieren die Ökonomen Fuest und Becker. Andere Möglichkeiten als zu verhindern, zu verschleppen und abzuwiegeln bleiben der deutschen Regierung auch gar nicht. Wer in Brüssel seine langfristigen Interessen durchsetzen will, braucht nicht nur Fraktion und Partei hinter sich, sondern muss sich auch die Zeit nehmen, über die aktuelle Rettungspolitik hinaus an grundsätzlichen Konzepten und Strategien zu arbeiten.

Das Ergebnis von Verhandlungen zwischen einer Seite, die entschieden ihre Interessen verfolgt, und einer Gegenseite, die kein klares Ziel hat und Konflikte scheut, ist abzusehen. Ein Vertrauter des EZB-Präsidenten Mario Draghi hat das vor einiger Zeit so beschrieben: „Die Euro-Krise ist eine Geschichte von Dingen, die Deutschland ´niemals akzeptieren wird´…aber letztendlich doch hinnimmt.“ Der ehemalige griechische Finanzminister Giannis Varoufakis formulierte es etwas drastischen: „Was immer die Deutschen sagen, am Ende werden sie zahlen.“

Die eigentliche Aufgabe der Bundesregierung  besteht dann darin,  ein solches Ergebnis der eigenen Fraktion schmackhaft zu machen, wozu notfalls die Staatsraison herhalten muss: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Diskussion ist unerwünscht, man will – so hat es Merkel einmal formuliert – zum Gelingen beitragen.

II
Der Schengen-Raum

Die größte Gefahr droht der europäischen Integration von einem europäischen Lieblingsprojekt, dem Recht auf Freizügigkeit. Dieses Recht garantiert allen EU-Bürgern, sich überall im Unionsgebiet frei zu bewegen und aufzuhalten. 

Am Anfang der europäischen Integration standen die Zollunion sowie der freie Güterverkehr zwischen den Mitgliedern der Union. Die Personenfreizügigkeit kann  erst 1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte hinzu. Seit 1992 (Maastrichter Vertrag) wurde das Recht auf Freizügigkeit - unabhängig von einer etwaigen Erwerbstätigkeit - allen EU-Bürgern als Unionsbürgerrecht zuerkannt. Zudem gelten für Unionsbürger, die in einem EU-Land Arbeit suchen, die arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen des Gastlandes.

Die Einführung der Personenfreizügigkeit - sichtbar vor allem in der Beseitigung der zwischenstaatlichen Grenzanlagen -  hatte für die Bürger praktische wie symbolische Vorteile. Die freie Fahrt vom Nordkap bis nach Sizilien galt als Beweis für die großen Fortschritte bei der europäischen Integration. Einige sahen darin sogar die Überwindung der „Tyranei der Geographie“.  Für die Funktionsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes war die Abschaffung der Grenzkontrollen jedoch nicht zwingend oder erforderlich.

Inzwischen ist an die Stelle früherer Begeisterung kritische Nüchternheit getreten. In der Bevölkerung bröckelt die Zustimmung zu offenen Grenzen. Bei nicht wenigen Bürgern ist der Eindruck entstanden, Zuwanderer profitierten von den öffentlichen Leistungen, ohne dafür angemessen bezahlen zu müssen. Diese Sorge wird vor allem durch die stark steigende Zahl an Migranten aus Ländern außerhalb der EU genährt, auf die das europäische Sozialmodell wie ein „Zuwanderungsmagnet“ (Hans-Werner Sinn) wirkt. „Die mangelnde Fähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten, eine nachhaltige gemeinsame Politik für ihre Außengrenzen zu formulieren, geschweige denn entschlossen umzusetzen, verunsichert ihre Bürger enorm“, schreibt Christop Franz, Verwaltungsratspräsident von Roche.

Von dieser Entwicklung profitieren vor allem die links- und rechtspopulistischen Parteien in vielen Teilen Europas. In fast allen Diskussionen um die Zukunftsfähigkeit der EU steht die Frage im Vordergrund: „Wie steht es um das Selbstbestimmungsrecht der europäischen Staaten bei der Einwanderung?“ Großbritannien hat bereits deutlich gemacht, dass es nur dann weiter am Europäischen Wirtschaftsraum teilnehmen wird, wenn es die Bedingungen der Einwanderung frei und selbstbestimmt regeln kann. So sehen es auch die osteuropäischen Länder, so dass es für die EU eine Existenzfrage ist, hierzu eine gemeinsame Politik zu haben.

Thilo Sarrazin hat in einem in der FAZ veröffentlichten Beitrag von 7. März 2016 drei Bedingungen formuliert, die vorliegen müssen, damit der Schengen-Raum funktionieren und langfristig stabil sein kann:

1. Es gibt ein Grenzregime an den Außengrenzen, das die Nationalstaaten vor unerwünschtem Zutritt ebenso wirksam schützt, wie dies zuvor das nationale Grenzregime garantiert hat.
2. Es gibt eine völlige Übereinstimmung in der Einwanderungspolitik aller Mitgliedstaaten, denn wer einmal eingewandert ist, kann sich ja frei bewegen.
3. Es gibt eine völlige rechtliche und tatsächliche Übereinstimmung bei der Behandlung von Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und illegalen Einwanderern aller Art. Dazu gehört die Gewährung oder Verweigerung von Aufenthalt, Abschiebungsregeln sowie deren identischer Vollzug. Dazu gehören aber auf jeden Fall auch vergleichbare sozialstaatliche Leistungen in den Mitgliedstaaten, damit kein Sozialtourismus aufkommt und sichergestellt ist, dass die solidarisch zu tragenden Lasten gleichmäßig verteilt werden.

Dreißig Jahre nach dem ersten Schengen-Abkommen ist keine dieser Bedingungen erfüllt. Das Grenzregime an den Außengrenzen ist trotz Rückgang der Flüchtlingszahlen kein wirksamer Schutz vor illegaler Einwanderung, wie die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln und auf Sizilien zeigen. Wenn italienische oder griechische Behörden die illegalen Einwanderer in Züge nach Deutschland schicken, ist der deutsche Innenminister machtlos. Nur in Fällen des Notstandes darf er die Grenzen befristet schließen. Für eine komplette Grenzsicherung fehlen derzeit auch die erforderlichen Grenzanlagen und Grenzbeamten.

Auch von gemeinsamen Regeln für Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge, illegale Einwanderer oder Abschiebungen und von Maßnahmen gegen unerwünschte Sozialstaatsarbitrage ist die EU weiter entfernt denn je. Das Dublin-Abkommen von 1991 hatte zwar geregelt, dass Flüchtlinge und Asylbewerber sich in dem Land registrieren lassen und den Asylantrag stellen müssen, in dem sie zum ersten mal den Schengen-Raum betreten. Es gelang aber bis heute nicht, sich auf  Verteilung der Asylbewerber zu einigen. „So schlich sich insbesondere an südlichen Grenzen des Schengen-Raums die Praxis ein, Flüchtlinge in das Land ihrer Wünsche durchzuwinken, und alle machten stillschweigend mit“, schreibt Thilo Sarrazin. Hundert Tausende, überwiegend junge Männer,  reisten so nach Deutschland, ohne dass sie registriert wurden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat wiederholt erklärt, dass sie es für aussichtslos hält, den Zustrom von Flüchtlingen durch eine bessere Sicherung der deutschen Grenzen aufhalten zu wollen. Sie setzt stattdessen auf  bessere Grenzsicherung in Griechenland und Italien unter Einbindung der Türkei und Libyen, auf eine einvernehmliche Verteilung der Flüchtlinge auf die Staaten des Schengen-Raumes und auf die Beseitigung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern. Jeder dieser Ansatzpunkte ist hilfreich und ehrenswert, es fehlt aber der Beweis, dass sich damit der Zustrom an Flüchtlingen stoppen lässt. Eher ist davon auszugehen, dass sich die Bemühungen der Bundeskanzlerin als zwecklos, wenn nicht sogar als illusorisch erweisen werden.

Auch Deutschland wird deshalb früher oder später zu nationalen Grenzkontrollen zurückkehren müssen. Die EU wird daran nicht zerbrechen, weil der gemeinsame Markt auch ohne das Recht auf Freizügigkeit funktioniert.  Eher besteht die konkrete Gefahr, dass die EU mit dem Schengenprojekt scheitert, wenn sich herausstellt, dass die Außengrenzen des Schengenraumes nicht wirksam geschützt werden. Spätestens dann werden die Bürger ihre Politiker auffordern, das europäische Grenzregime durch ein nationales zu ersetzen. Und keine Regierung wird sich dauerhaft an der Macht halten können, wenn sie ihr Staatsgebiet nicht vor unkontrollierter Zuwanderung schützt. 

III
Die Währungsunion

„Wenn dieses Europa 1997 oder 1999 eine gemeinsame Währung von Kopenhagen bis Madrid, von Den Haag bis Rom haben wird, wird niemand in einer europäischen Amtsstube den Prozess der politischen Einigung aufhalten können“, verkündete Helmut Kohl am 13. Dezember 1991 im Bundestag, kurz nachdem er vom Gipfeltreffen in Maastricht zurückgekehrt war. Kohl sah in der Einheitswährung ein Instrument auf dem Weg in eine möglichst unumkehrbare politische Union. Der Euro war für ihn kein ökonomisches, sondern ein politisches Projekt.

Schon kurz nach „Maastricht“ warnten namhafte Wissenschaftler und Politiker aus ökonomischen Gründen vor einer Einführung des Euro. Die wirtschaftlich schwächeren Länder könnten mit einer Einheitswährung nicht mehr abwerten und würden stärkerem Konkurrenzdruck ausgesetzt, was aufgrund ihrer geringeren Wettbewerbsfähigkeit zu Stagnation, Arbeitslosigkeit und Ebbe in den öffentlichen Kassen führen werde. Zu vermeiden sei dies nur durch eine  - politisch kaum durchsetzbare  - Anpassung von Produktivität, Preisen und Löhnen. Geschehe dies nicht oder nicht ausreichend, würden hohe Transferzahlungen von den starken zu den schwachen Ländern notwendig, prophezeiten die Professoren. Mangels einer politischen Union sei eine solche Transferunion aber demokratisch nicht legitimiert. Und weiter: Die Währungsunion werde die Europäische Union starken ökonomischen Spannungen aussetzen, die „in absehbarer Zeit zu einer politischen Zerreißprobe führen können und damit das Integrationsziel gefährden“.

Exakt das ist in der Europäischen Währungsunion passiert. Ihre südlichen Länder - Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland  - befinden sich seit dem Wachstumseinbruch der Jahre 2008/2009 in einer andauernden Stagnationsphase mit hoher Arbeitslosigkeit und steigender Staatsverschuldung.  Zu tiefgreifenden Reformen, um die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, ist keines dieser Länder in der Lage. Ihr Bestreben geht vielmehr dahin, in Europa dauerhafte Garantiestrukturen und Finanzierungsströme zugunsten des Südens zu etablieren. Auf dem Weg dahin wurden im Mai 2010 die  Sicherungen des Maastricht-Vertrages - kein Bailout für öffentliche Haushalte und keine Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB) -  über Bord geworfen. Gleichzeitig installierten die Euro-Länder mit dem ESM ein Rettungssystem für den Bailout von notleidenden Staatshaushalten. Schließlich sorgten die Südländer mit ihrer Mehrheit im EZB-Rat dafür, dass die Zentralbank mit ihrer Geldpolitik zuverlässig  die  finanziellen Interessen des europäischen Südens bedient. 

Die Entwicklung der Währungsunion zu einer Haftungs- und Transferunion hat  - wie Ökonomen  bereits vor 25 Jahren prophezeit hatten - die Eurogruppe tief gespalten. Im Norden will man nicht für die Fehler im Süden haften und letztendlich zahlen. Im Süden werden die Sanierungsauflagen, die mit den Finanzhilfen verbunden sind, als Angriff auf die staatliche Souveränität und als deutsches Diktat wahrgenommen. Solche Spannungen drohen die EU bereits heute zu lähmen. Thilo Sarrazin sagt der Europäischen Währungsunion sogar „ein langes Siechtum voraus und will nicht ausschließen, dass sie irgendwann doch zerbricht“.

Was müssen die verantwortlichen Politiker tun, um diesen Prozess zu stoppen? Dazu gibt es aus dem vorpolitischen Raum geeignete Vorschläge, die Hans-Werner Sinn folgendermaßen zusammenfasst hat:

1. Alle Mitglieder der Eurozone, die EU und die EZB erkennen die Sicherungen des Maastricht-Vertrages - kein Bailout für öffentliche Haushalte und keine Staatsfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB) - für sich als verbindlich an.
2. Die Eurozone wird zu einer atmenden Währungsunion umgewandelt, die geregelte Ein- und Austritte erlaubt. Länder, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben, können den Euro verlassen, um sie durch eine Abwertung wiederzuerlangen. Beim Austritt erhalten sie Übergangshilfen für den Kauf sensibler Importprodukte, die sie sich nicht mehr leisten können. Zu einem späteren Zeitpunkt können sie, wenn sich ein stabiler Wechselkurs ihrer neuen Währung herausgebildet hat, zu den üblichen Bedingungen, wie sie auch für neu eintretende Länder gelten, wieder in den Euroverbund eintreten.
3. Neben der Austrittsmöglichkeit vereinbart die EU-Staatengemeinschaft (in Erfüllung der bereits vorhandenen Vorgaben der EU-Verträge) Regeln für den geordneten Konkurs eines Staates. Im Falle von vorübergehenden Liquiditätsproblemen müssen die Inhaber der fällig werdenden Staatspapiere zunächst eine Laufzeitverlängerung akzeptieren. Wenn sich danach trotzdem keine Entspannung der Liquiditätsproblematik zeigt, ist die Insolvenz zu erklären. Dann werden die Staatspapiere einem Schuldenschnitt unterworfen, und das Land tritt zumindest temporär aus dem Euro aus, um durch die Verbesserung seiner Wettbewerbsfähigkeit wieder kreditwürdig zu werden.
4. Die Stimmrechte im EZB-Rat werden nach der Größe der Haftung der Länder vergeben, die selbst wiederum gemäß der Landesgröße (Mittelwert von Bevölkerungs- und BIP-Anteil) verteilt ist. Entscheidungen des EZB-Rates, die fiskalischen, also potentiell umverteilenden Charakter haben, sind mit einer Mehrheit von 85 Prozent der Stimmen zu treffen.
5. Die EZB darf im Rahmen ihres Mandats nur noch erstrangige Wertpapiere mit einem AAA-Rating am offenen Markt kaufen. Staaten, die nicht über ein AAA-Rating verfügen, sind gehalten, hinreichend mit Pfändern besicherte Staatspapiere auszugeben, so dass dieses Rating erreicht wird.
6. Nationale Notenbanken dürfen nur noch im Verhältnis zur Landesgröße Geld durch die Kreditvergabe an die lokale Volkswirtschaft schöpfen. Weichen sie von dieser Regel ab und lassen sie durch Nettoüberweisungen an andere Länder Target-Verbindlichkeiten entstehen beziehungsweise drucken sie physisch überproportional viele Banknoten, müssen sie diese Verbindlichkeiten jährlich durch die Hergabe von Gold oder erstklassig besicherten Staatspapieren tilgen. Der jeweilige Nationalstaat hat eine Nachschusspflicht für etwaige Verluste seiner Notenbank.

Es liegt an der Bundesregierung,  diese Vorschläge aufzugreifen und sie zum Gegenstand ihrer Europapolitik zu machen.

IV
Kompetenzhunger der EU

Eine Erhebung des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Juli 2016 ergab, dass 86 Prozent der Bürger in Deutschland die EU mit dem Stichwort Bürokratie und 84 Prozent mit dem Stichwort Vorschriften verbinden. 72 Prozent denken bei Europa an Zerstrittenheit und nur noch 52 Prozent an Zukunft.

Die Krise der EU ist in der Tat „existenziell“, wie auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jüngst in seiner Rede zur Lage der EU sagte. Viele Menschen sind verunsichert und nehmen die europäische Integration inzwischen als Elite-Projekt wahr, das über die Köpfe der Bürger hinweg  durchgepeitscht werden soll, „koste es was es wolle“. Die Präsidenten von EU-Parlament und Kommission ließen daran jüngst auch keinen Zweifel: Ohne innezuhalten forderten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker unmittelbar nach dem britischen Brexit-Votum, bei der Integration jetzt erst recht aufs Tempo zu drücken.

Um diesen Schub zu erzeugen, hat die EU-Kommission im März 2017 ein Weißbuch mit allerlei Vorschlägen vorgelegt. Darin taucht die Idee eines europäischen „Schatzamts“ mit umfangreichen Kompetenzen und einem eigenen Haushalt für den Euroraum ebenso auf wie der Vorschlag einer gemeinsamen Einlagensicherung. Vorgreiflich hat sich die Kommission auch schon selbst zum „Eurofinanzminister“ ausgerufen, was bei den 19 nationalen Finanzministern auf wenig Verständnis stieß.  Nur jene Mitgliedstaaten, die sich davon unmittelbare Vorteile versprechen, können solchen Ideen etwas abgewinnen. Generell will aber kein Mitgliedstaat noch mehr Zuständigkeiten nach Brüssel abgeben wollen. Im Gegenteil: die Überlegungen gehen dahin, den Brüsseler Kompetenzhunger einzugrenzen.

Das Gemeinschaftsrecht besteht inzwischen aus mehr als 20.000 Rechtsakten. Der sog. „Acquis communautaire“, d.h. die Summe aller  europäischen Verträge, Verordnungen, Richtlinien etc.,  kommt auf geschätzte 85.000 Seiten. Bei dieser Menge an Vorschriften kann man nicht mehr davon sprechen,  dass sie notwendig sind, um einen freiheitlichen gemeinsamen Markt zu organisieren. Der ständig wachsende Berg an Direktiven und Normen macht vielmehr deutlich, dass die europäischen Institutionen und Behörden von einem interventionistischen Geist beseelt sind. Daran haben auch „Entbürokratisierungsoffensiven“ nichts ändern können.

Trotzdem  fehlt in kaum einer Brüsseler Rede der Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip, das seit 1992 in den EU-Verträgen verankert ist.  In Wirklichkeit sind die Organe der EU jedoch jahrzehntelang auf "mehr Europa" geeicht worden. So handeln sie auch, wie ein Kommissar  mit entlarvender Offenheit zugab: "Wir überprüfen alle Vorschläge darauf, ob sie besser auf nationaler Ebene geregelt werden könnten - und finden einfach nichts." (FAZ vom 8. August 2016).

Um das Prinzip der Subsidiarität zu stärken,  schlagen Hans-Werner Sinn und andere die Einrichtung eines „Subsidiaritätsgerichtshofs“  vor, der die Aufgabe hat, „EU-Projekte, EU-Verordnungen und EU-Richtlinien daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Subsidiaritätsprinzips entsprechen, nach dem nur solche Aktivitäten auf europäischer Ebene angesiedelt werden, die nachweislich nicht auf untergeordnete Gebietskörperschaften stattfinden können“.

Der ständige Machtzuwachs der Europäischen Union war jedoch vor allem deshalb möglich, weil es in den europäischen Verträgen an einer klaren Zuweisung  von Kompetenzen nach Sachmaterien fehlt.  Stattdessen gibt Artikel 26 AEUV der EU die Befugnis, diejenigen Bestimmungen zu treffen, welche erforderlich sind, um den Binnenmarkt zu verwirklichen und sein Funktionsfähigkeit zu gewährleisten.  Es ist also ein finales Kriterium, das die Kompetenzordnung mitbestimmt. Deshalb können alle Organe der EU bis hin zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine extensive Auslegung der bestehenden Normen praktizieren - mit dem Ziel einer "immer engeren Union".  Ein Subsidiaritätsgerichtshof wird daran voraussichtlich nicht viel ändern können. Es erscheint deshalb sinnvoller zu sein, den Kompetenzhunger der EU durch eine klaren Zuweisung von Kompetenzen nach Sachmaterien zu begrenzen und auf das finale Kriterium ausdrücklich zu verzichten. 

Im Ergebnis hat sich in der EU das institutionelle Integrations- und Planungsmodell der Franzosen durchgesetzt. „Mehr Europa“ heißt regelmäßig mehr Regulierung, Ausweitung der EU-Kompetenzen, Transferunion und neue Hilfspakete. Vor allem die Euro-Retter sehen das Heil in noch mehr zentraler Planung, Lenkung, Egalisierung und Vereinheitlichung. Dieser Integrationsweg zerstört jedoch die Vielfalt und den Wettbewerb – also das, was die bisherige Erfolgsgeschichte Europas ausgemacht hat. Der ehemalige EU-Kommissar Ralf Dahrendorf mahnte deshalb zu Recht, dass Europa nur Sinn macht, „wenn es zur Entfaltung und Verbreitung der liberalen Ordnung beiträgt“.

Davon ist die europäische Politik jedoch weit entfernt. Es ist vor allem in Vergessenheit geraten, dass die Europäische Union nach den totalitären Erfahrungen in Europa nicht nur ein "Friedensprojekt", sondern auch ein „Freiheitsprojekt“ sein sollte. „Es ist in der Europäischen Kommission und im Europaparlament schon fast eine intuitive Reaktion, auf ein Problem mit einem Gesetz zu reagieren“, beschreibt EU-Kommissions-Vize Frans Timmermans die Brüsseler Regulierungswut. „Wir sollten das ändern und künftig einmal die Frage stellen, ob es überhaupt eine neue Regel braucht und ob geltende Regeln überhaupt ordentlich umgesetzt wurden.“

Das generelle Ziel der EU-Reform muss es sein, das Integrationsziel am Freiheitsversprechen der europäischen Verträge neu auszurichten. Bei einer so verstandenen Integration  ist der Markt sowohl Integrationsinstrument als auch Integrationsziel. Dieses Freiheitsversprechen hat sich für die Bürger und für die Wirtschaft im Alltag der vier Freiheiten, des  freien Austausches von Arbeit und Kapital, von Gütern und Diensten, weitgehend erfüllt. Hier findet die Europäische Union auch ihre Legitimation und die Erfolge, auf die sie nie dringlicher angewiesen war wie heute.

V

"Weniger ist mehr."

Der liberale Ministerpräsident aus den Niederlanden, Mark Rutte, wird in Brüssel als möglicher Nachfolger von Donald Tusk im Amt des ständigen EU-Ratspräsidenten gehandelt. Gleichzeitig gilt er als Hoffnungsträger jener kleineren Staaten aus dem Norden und Osten der EU, die sich zu einer informellen Gruppe zusammengeschlossen haben, um ihren Forderungen bei der Weiterentwicklung der EU stärkeres Gewicht zu geben. Denn sie sind sich nicht mehr sicher, ob Deutschland auf ihrer Seite steht, wenn es gilt, eine Haftungs- und Umverteilungsunion zu verhindern – wohin der „radikale Schulterschluss mit Frankreich“ führen könnte.

Seine Vorstellungen von einem zukünftigen Europa hat Mark Rutte den Abgeordneten des Europäischen Parlaments Anfang Juni 2018 in einer viel beachteten Grundsatzrede dargestellt. Den Kern seiner Gedanken trug er in deutscher Sprache vor, indem er Goethe zitierte: „In der Beschränkung zeigt sich der Meister.“ Mit anderen Worten: Die „immer engere Union“ sei kein Ziel an sich, die EU müsse künftig weniger versprechen und mehr liefern.

Rutte betonte aber gleichzeitig, dass die EU zukünftig eine wichtigere Rolle denn je spielen müsse. Denn angesichts der jüngeren Entwicklung seien der europäische Lebensstil, die europäische Wirtschaftsverfassung und die multilaterale internationale Ordnung in Gefahr. Deshalb müsse sich Europa schnell über wichtige Streitpunkte einigen, vor allem in der Migrationspolitik.

Solche Einsichten verbreiten auch andere EU-Politiker, Rutte fügte dem aber klare europäische Maßstäbe hinzu:

• Die EU müsse eine auf Regeln aufgebaute Union bleiben, gerade in einer immer regelloser werdenden Welt.
• Das wichtigste, für alle gleichermaßen geltende Prinzip sei das der Rechtsstaatlichkeit – das Rutte im Streit mit der polnischen Regierung genauso durchgesetzt sehen will wie in der Anwendung des EU-Stabilitätspaktes.
• Die Parlamente der Mitgliedstaaten sollten weiter die zentrale Rolle in der demokratischen Kontrolle der Regierungen spielen – „sie sollten entscheiden, wie das Geld der Steuerzahler ausgegeben werden soll“, ein im Europaparlament wenig beliebtes Prinzip.
• Der EU-Haushalt 2021 bis 2027 müsse wegen des Brexit geringer ausfallen und in seiner Struktur „moderner“ werden. Es gehe darum, knappes Geld besser auszugeben. Zusätzlich Mittel für die Eurozone ließen sich möglicherweise in dem bestehenden EU-Strukturfonds finden und nicht in zusätzlichen neuen Töpfen.
• Zum geplanten „Europäischen Stabilisierungsmechanismus“ merkte Rutte an, dass der Stabilitätspakt der beste Stabilisierungsmechanismus sei.

Rutte hat für diese Rede im Europäischen Parlament viel Beifall erhalten, auch von Abgeordneten, die ihn wegen seiner Forderung nach einer Kürzung des EU-Budgets scharf kritisieren. Er hat sich damit als ein für höhere Ämter geeigneter Staatsmann präsentiert. Hoffentlich sieht das die Bundesregierung ebenso. (Werner Mussler in FAZ vom 14. Juni 2018) 


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