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Europäische Krisen : Die verfehlte Rettungstrategie
09.07.2015 22:00 (3892 x gelesen)

 Die verfehlte Rettungsstrategie

Mit dem ESM haben die EU-Staaten einen  dauerhaften Stabilitätsmechanismus zur Finanzierung notleidender Staaten im Euro-Raum geschaffen. In dem dazu neu gefassten  Artikel 136 Absatz 3 AEUV sind die Voraussetzungen für seine Aktivierung festgelgt worden. Danach darf der ESM nur  tätig werden, "wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Währungsraums insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen".

Die Euro-Länder und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben sich im Juli 2015 darauf verständigt, dass der ESM den Griechen weitere Finanzhilfen über insgesamt 90 Milliarden Euro zur Verfügung stellen wird, um den Staatskonkurs abzuwenden. Hierzu wurde zwischen der sog. Troika (Vertreter der EU, EZB und IWF) und der griechischen Regierung  ein „memorandum of understanding“  unterzeichnet, in dem die erforderlichen Auflagen für die Gewährung der Finanzhilfen festgelegt wurden. 

Es bestehen jedoch erhebliche Zweifel, ob die Finanzhilfen an Griechenland rechtlich zulässig, wirtschaftlich sinnvoll und politisch zweckmäßig sind.

Rechtliche Voraussetzungen

Nach Artikel 125 AEUV sind Finanzhilfen an einen in Zahlungsschwierigkeiten befindlichen Euro-Staat grundsätzlich unzulässig. Eine Abweichung von diesem Verbot ist nach Artikel 126 Abs. 3 AEUV nur unter der Voraussetzung zulässig, dass dies als Ultima Ratio notwendig ist, um eine Gefahr für die Finanzstabilität des ganzen Eurowährungsgebietes abzuwehren. Es reicht nicht aus, dass die Finanzstabilität des hilfesuchenden Mitgliedsstattes gefährdet ist. Der AEUV und der ESM-Vertrag nehmen in Kauf, dass ein einzelner Euro-Staat pleite geht, wenn das nicht zu Dominoeffekten in anderen Eurostaaten führt.

Die früheren Hilfeleistungen an Griechenland, an Irland, Spanien und Portugal waren damit begründet worden, dass man nicht in Kauf nehmen könne, dass infolge des Bankrotts eines Landes die Währungsunion im Ganzen zusammenbräche. Inzwischen handelt es sich bei den Gläubigern Griechenlands jedoch zu 80 Prozent um öffentliche Institutionen (EFSF, IWF, EZB und div. Staaten),  die die Banken als Gläubiger abgelöste haben. Mit Dominoeffekten rechnet deshalb niemand mehr ernsthaft. Im Fall Griechenland ist evident, dass ein Bankrott dieses Landes sich auf die Finanzstabilität der gesamten Eurozone nicht gravierend auswirken würde. 

Auch unter einem weiteren Aspekt ist das neue Hilfsprogramm für Griechenland nicht mit dem ESM-Vertrag vereinbar: Stabilitätshilfen nach dem Vertrag setzen nämlich die Schuldentragfähigkeit voraus. Der hilfesuchende Staat muss aufgrund seiner Wirtschaftsleistung und Steuerkraft in der Lage sein, alle Kredite mit Zins und Tilgung dauerhaft zu bedienen. Dies trifft für Griechenland, dessen Schuldenquote über 180 Prozent liegt, offensichtlich nicht zu. Das neue Hilfsprogramm dient deshalb nur dazu, die Verpflichtungen aus schon erhaltenen Darlehn zu erfüllen. Die Rückzahlung der neuen Darlehen ist in keiner Weise gewährleistet.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine neue Finanzierungshilfe waren demnach nicht gegeben. Wenn die Staats- und Regierungschefs sie dennoch beschlossen haben, brachten sie damit nur erneut zum Ausdruck, dass die rechtlichen Regeln der Währungsunion für sie nichts mehr bedeuten (Dietrich Murswiek).

Wirtschaftspolitische Kritik

Die Rettungsstrategie der EU in der Eurokrise war von Beginn an umstritten. Die Deutsche Bundesbank fasste diese Kritik folgendermaßen zusammen: „Mit diesen Beschlüssen erfolgt ein weiterer großer Schritt in Richtung gemeinschaftlicher Haftung und geringerer Disziplinierung durch die Kapitalmärkte, ohne dass im Gegenzug die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten auf die nationalen Finanzpolitiken spürbar verstärkt werden. Dies waren in der Tat die entscheidenden Punkte:

Mit den Hilfskrediten des ESM für Griechenland wurde die kollektive Haftung der Euro-Staaten für die Schulden eines einzelnen Landes weiter ausgebaut. Mit ihrer Beteiligung am ESM übernahmen sie gemeinschaftlich die Haftung für die Gelder, die der ESM am Kapitalmarkt aufnahm, um sie an Griechenland weiterzureichen.  Für Griechenland war dies ein gutes Geschäft: Ihre teuren Staatsanleihen wurden durch billige Rettungskredite ersetzt. Ihnen zahlt der griechische Staat für seine Schulden  durchschnittlich nur 2,4 Prozent Zinsen.  Zum Vergleich: Die Bundesrepublik zahlt auf ihre Anleihen durchschnittlich 2,7 Prozent.

Eine solche Finanzierung löst natürlich Fehlanreize aus, worauf die Bundesbank zu Recht hingewiesen hat: Die disziplinierende Wirkung der Kapitalmärkte verschwindet mehr und mehr. Gleichzeitig erhöhen billige Kredite, die ohne Prüfung der jeweiligen Bonität gewährt werden, den Anreiz, sich weiter zu verschulden und auf wirtschaftliche Reformen zu verzichten. Der Versuch der Euro-Retter, dem im Gegenzug mit Konsolidierungs-  und Reformauflagen sowie entsprechenden Kontrollen der Troika entgegenzuwirken, ist an der politischen Realität gescheitert.

Denn die Umsetzung der Auflagen ist  für jede Regierung mit erheblichen politischen Risiken verbunden, nicht zuletzt mit der Gefahr des Regierungs-  und Machtverlustes. In den Auflagen und Kontrollen der Troika sehen die Krisenländer und insbesondere Griechenland Eingriffe in ihre „staatliche Souveränität“, was keine Regierung zulassen kann, ohne sich selbst infrage zu stellen. Nach fünf Jahren Krisenmanagement kann man rückblickend feststellen, dass die Hilfsgelder gern entgegengenommen wurden, die Umsetzung der damit verbundenen Auflagen aber nur teilweise oder gar nicht gelang. Immer wieder gab es auf Seiten der Krisenländer, insbesondere Griechenlands,  ausreichend Gründe, die Erfüllung der Auflagen zu verschieben, zu umgehen oder abzulehnen.

Der Machbarkeitsglaube

Das Rettungskonzept der EU beruht auf einem „Machbarkeitsglauben“, wie man ihn aus Ländern mit staatlicher Planung kennt. Die Rettungseuropäer sind offenbar der Meinung, dass man ein Land wie Griechenland mit Hilfe von Sparauflagen und Reformkonzepten grundlegend ändern und wettbewerbsfähig machen kann. Dies kann man ernsthaft nur glauben, wenn man die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Realitäten in diesem Land ausblendet. Wie es in der griechischen Gesellschaft aussieht, hat Richard Fraunberger, ein intimer Kenner Griechenlands,  in der FAZ vom 3. Juni 2015 eindrücklich beschrieben:

„Auf staatlichen Gehaltslisten zu stehen, ohne je zur Arbeit zu gehen, fingierte Abrechnungen an die Krankenkasse einzusacken, Einkommen zu versteuern, die in Wirklichkeit zwanzigmal höher sind, Häuser zu bauen, wie und wo man will, obgleich es strenge Bauvorschriften gibt, eine Invalidenrente zu beziehen, obgleich man kerngesund ist, Rechnungen zu fälschen und nebenbei das Haushaltsdefizit zu frisieren, Schmiergelder zu zahlen an das Finanzamt, Bauamt, im Krankenhaus, beim Zoll und Gesundheitsamt, all diese kleinen und großen Betrügereien sind keine Vergehen einzelner Interessengruppen. Es ist gelebte Kultur. Keine Schummelei, kein Skandal entfacht einen echten gesellschaftlichen Diskurs. Jeder nimmt die größte Gaunerei als gegeben hin. Mogeln ist Volkssport. Jeder betreibt ihn. Und jeder hat eine Entschuldigung dafür: Alle bedienen sich. Warum nicht auch ich?“

Und über das griechische Staatsverständnis schreibt Fraunberger: „Jeder klagt über den Staat, und jeder träumt von einem Beamtensessel. Griechen lieben ihre Nation, das Griechentum, die Kirche. Staatlichen Institutionen misstrauen sie. Der Staat ist der Feind. Er hält die Hand auf, wann immer er kann. Er ist korrupt und korrumpiert, er bekämpft Korruption und schafft sie, er macht seinen Bürgern oft das Leben schwer, oft versüßt er es aber auch. Seine Bürokratie ist ein Alptraum, ein Labyrinth mit verstaubten Akten auf langen Korridoren. Seine Beamten sind verantwortungsscheu, inkompetent und nehmen jeden in Geiselhaft, der ihre Unterschrift braucht. Zugleich ist der Staat ein Schlaraffenland, reich an Ressourcen. Man betritt es als Eroberer in der Gestalt eines Buchhalters, Bürgermeisters, Ministers. Man plündert ihn und bringt die Beute in den sicheren Hafen der Familie. Eine Weltanschauung, die seit Generationen an die nächste weitergereicht wird. Wozu Reformen, wenn man persönliche Vorteile verliert? Reformen, die, so sieht es die Mehrheit der Bevölkerung, von außen aufgezwungen sind. Reformen, die einen Kultur- und Mentalitätswechsel voraussetzen und damit Einsicht und Zustimmung. Die Schuld an verschleppten, verhinderten und sabotierten Reformen liegt nicht allein bei den Politikern. Das Land wurde mit dem Votum seiner Bürger heruntergewirtschaftet. Und die Europäische Union sah tatenlos zu.“

Unter solchen Voraussetzungen ist die Durchsetzung von Reformauflagen nahezu chancenlos. Selbst wenn die griechischen Politiker das Land reformieren wollten, so würden sie an den gesellschaftlichen und staatlichen Realitäten scheitern. Was griechische Politiker nicht vermögen, wird auch den europäischen Rettungspolitikern nicht gelingen. Wer anderes glaubt oder sich einredet, ist ein Illusionist.

Die gescheiterte Rettungspolitik

Inzwischen liegen fünf Jahre Rettungspolitik hinter Griechenland, ohne dass sich die Verhältnisse gebessert haben. Es haben sich weder die Wirtschaft noch der Arbeitsmarkt erholt.  Im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2008, indexiert mit 100, stand Griechenland im Jahr 2014 bei 74, weil produktive Unternehmen fehlen. Die Arbeitslosigkeit liegt über 25 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei über 50 Prozent.

Aus diesen Gründen hat sich auch die Staatsschuldenquote trotz massiver Schuldenerlasse nicht gebessert. Die griechischen Staatsschulden beliefen sich Anfang 2012 auf etwa 360 Mrd. Euro, was einer Staatsschuldenquote  (Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt) von etwa 170 Prozent entsprach. Im März 2012 sanken die nominalen Schulden durch einen Schuldenschnitt um ca. 105 Mrd. Euro, wodurch die Staatsschuldenquote auf 150 Prozent zurückging. Dieser Entlastungseffekt hielt aber nicht lange an. Obwohl sich  die Staatsschulden aktuell (2014) nur auf etwa 320 Mrd. Euro belaufen, kletterte die Staatsschuldenquote auf einen  neuen Rekord von  über 175 Prozent, weil das BIP schneller schrumpfte als der Schuldenberg. Bei dieser Ausgangslage wird sich Griechenland nie aus der  Schuldenfalle befreien können.

Auch die Bundesregierung  befindet sich mit ihrer Rettungspolitik in der Euro-Falle: Angela Merkel hat fälschlicherweise Europa mit dem Euro identifiziert: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“. Mit dieser Koppelung Europas an den Euro kann sich die Bundesregierung gegen weitere Hilfszahlungen, Kredite und Garantien zur Rettung des Währungsgebietes nicht wehren. Mit den damit verbundenen konkreten Auflagen fühlen sich die Empfänger aber in ihrer Souveränität eingeschränkt und in wichtigen Politikfeldern bevormundet. Statt durch den Euro Freunde zu gewinnen, sieht sich Deutschland in Europa Feindseligkeit und Misstrauen gegenüber, wie zu keinem Zeitpunkt nach dem zweiten Weltkrieg. Die Bundesregierung befindet sich in einer Euro-Falle, in der sie  zwischen Protesten im Ausland gegen ein deutsches Diktat oder Protesten im Inland gegen unbegrenzte Hilfen an Krisenstaaten wählen kann.

Diesen Konflikt konnte die Öffentlichkeit Anfang 2015 miterleben, als Alexis Tsipras, der neu gewählte griechische Ministerpräsident, das laufende Hilfs-Programm, soweit es die Konsolidierungs- und Reformauflagen betraf, aufkündigte, weil er darin eine Verletzung der griechischen Souveränität und Staatswürde sah. Der „Troika“, die die Durchführung des Programms überwachen sollte, untersagte er die Rückkehr nach Griechenland. Sein Finanzminister Giannis Varoufakis erklärte: „Unser Land weigert sich, mit der Troika zu kooperieren.“ Gleichzeitig verlangte er jedoch von der Euro-Gruppe, die laufenden Finanzierungszusagen aufrechtzuerhalten und verlangte von den Gläubigern Griechenlands einen weiteren Schuldenschnitt.

Daraufhin gab es zwischen den Euro-Ländern einen heftigen Disput. Die deutsche Bundesregierung forderte von der griechischen Regierung Vertragstreue ein. Gleichzeitig wurde in der Öffentlichkeit ein Austritt Griechenlands aus dem Euro (Grexit)   erwogen. Die Wirtschaftsweisen Lars Feld, Christoph Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland, sämtlich Mitglieder des Sachverständigenrates,  sahen darin eine Stärkung des Euros: „In der aktuellen Situation könnte ein Grexit die Glaubwürdigkeit des heutigen institutionellen Rahmenwerks stärken und so die Integrität des Euroraums festigen, statt außerhalb Griechenlands Chaos auszulösen“. Aus dem Bundesfinanzministerium wurde ein Papier bekannt, in dem ein vorübergehender Austritt Griechenland zur Debatte gestellt wurde.

In der Euro-Gruppe setzten sich jedoch die Staats- und Regierungschefs durch, die einen Austritt Griechenlands aus dem Euro  unter allen Umständen verhindern wollten. Dies war die Bestätigung für die griechische Regierung, die in ihrer Verhandlungsstrategie davon ausging, dass es die Euro-Gruppe nicht wagen würde, Griechenland vor die Tür zu setzen. Denn ein Grexit wäre das Eingeständnis vom Scheitern der  bisherigen Rettungspolitik. Außerdem wäre deutlich geworden, dass es sich bei den Hilfsgeldern nicht um Darlehn, sondern faktisch um verlorene Zuschüsse handelte. Insgesamt standen 322 Mrd. Euro im Feuer, wovon 142 Mrd. Euro auf den EFSF/ESM, 53 Mrd. Euro auf europäische Staaten, 35 Mrd. Euro auf den IWF, 27 Mrd. Euro auf die EZB und 65 Mrd. Euro auf private Investoren entfielen. 80 Prozent der Schulden lagen also bei öffentlichen Gläubigern, für die letztendlich der Steuerzahler bürgte.

Für schnelle Finanzhilfen an Griechenland gab es jedoch im Juli 2015 weitere Gründe, die Angela Merkel in der Öffentlichkeit geheimnisvoll als "geostrategisch" bezeichnete. Was sich darunter verbarg, offenbarte sich sehr schnell, als in Griechenland immer mehr Flüchtlinge eintrafen, die über die Balkanroute nach Norden weiter reisen wollten. Offensichtlich verband Angela Merkel mit dem dritten Hilfspaket auch die Erwartung, die griechische Regierung als Partner bei der Lösung der drohenden Flüchtlingskrise zu gewinnen. Bis heute sieht es nicht so aus, als wolle die griechische Regierung diese Erwartung erfüllen.    


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