top-schriftzug
blockHeaderEditIcon

Dr. Schlarmann - Mittelstand

aktuelle Informationen für den Mittelstand
block-foto-dr-schlarmann-mittelstand
blockHeaderEditIcon
Banken- und Finanzkrise : Notenbanken auf Abwegen
09.10.2016 21:33 (3085 x gelesen)

Notenbanken auf Abwegen

Die Europäische Zentralbank (EZB) stößt mit ihrer laxen Geldpolitik laut Euro-Barometer bei 58 Prozent der Bundesbürger auf Misstrauen und Ablehnung. Dies ist für den Euro als eine Währung, die auf Vertrauen basiert, ein verheerendes Ergebnis. Denn ohne Vertrauen in die Stabilität des Euro und in die Funktionsfähigkeit des Bankensystems wird der Euro nicht überleben.

Das mangelnde Vertrauen in die EZB überrascht angesichts der Tatsache, dass die EZB bei ihrer Kernaufgabe, der Sicherung der Preisstabilität, durchaus  erfolgreich war. Die aktuelle Inflationsrate liegt nahe null. Zudem hat die EZB mit ihrer Geldpolitik in der europäischen Finanzkrise einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität des Finanzsystems geleistet.

Offensichtlich reichen solche Ergebnisse aber nicht aus, um den Unmut der Menschen zu beseitigen. Den entscheidenden Grund dazu hat die EZB selbst geliefert: seit der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sie als Retter von Staaten und Banken, als Aufkäufer von Staatsanleihen und mit ihrer Null-Zinspolitik immer mehr Aufgaben übernommen, die nicht zu ihrem eigentlichen Auftrag gehören. Sie ist dadurch zu einer machtvollen Institution herangewachsen, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegt. Das schafft Misstrauen.

I
Die Unabhängigkeit der Notenbank

Die in den europäischen Verträgen garantierte Unabhängigkeit der EZB soll gewährleisten, dass sie frei von politischen oder wirtschaftlichen Zwängen entscheiden kann. Zusätzlich sehen die Verträge vor, dass es der EZB untersagt ist, den nationalen Regierungen zur Finanzierung ihrer Ausgaben Geldmittel zur Verfügung zu stellen (Verbot der  monetären Staatsfinanzierung).  

Gleichwohl kauft die EZB auf dem Kapitalmarkt Monat für Monat Anleihen von 80 Milliarden Euro, neben Bundesanleihen auch portugiesische, spanische und italienische Staatanleihen. Die Bilanzsumme der EZB hat sich dadurch auf 2,77 Billionen Euro bzw. auf 27 Prozent der Wirtschaftsleistung der Euro-Zone erhöht.

In gleicher Weise handeln die anderen Notenbanken. Die vier großen Zentralbanken in den USA, Japan, Großbritannien und der Euro-Zone haben ihre Bilanzsumme zusammengenommen in den letzten zehn Jahren auf 10,4 Billionen Euro vervierfacht. Bewegten sie vor zehn Jahren maximal 20 Prozent der Wirtschaftsleistung ihres Landes in ihren Bilanzen, sind es inzwischen in der Spitze 80 Prozent. 

Der Nobelpreisträger Edward Prescott sieht die Notenbanker inzwischen als Handlanger der Politik. Die Staaten würden ihre Schulden einfach auf die Notenbanken übertragen, lautet sein Vorwurf. Die Kernaufgabe einer Notenbank bestehe jedoch darin, ein effizientes Bezahl-  und Kreditsystem bereitzustellen. „Die aufgeblähte Bilanz der US-Notenbank ist ein Zeichen für die Verlogenheit der Finanzpolitiker, die ihre Schulden einfach auf die Bücher der Notenbank überwälzen“, kritisiert der Ökonom. 

Das Schuldenmachen ist für Staaten dank der Niedrigzinsen billig wie nie. Zudem garantiert die EZB mit ihrem Ankaufsprogramm, dass sie diese Schulden als Gläubiger in ihre Bilanz nimmt. Rund 84 Prozent aller ausstehenden deutschen Staatsanleihen rentieren mittlerweise unter null. Selbst in Italien, das eine Verschuldung von mehr als 130 Prozent der Wirtschaftsleistung aufweist, wird ein Großteil der kurz laufenden Staatsanleihen negativ verzinst. Alle politischen Versprechen, mit dem Schuldenmachen endlich Schluss zu machen, sind längst vergessen. Die nach der Finanzkrise aufgehäuften Schuldenberge schrumpfen nicht, sondern wachsen weiter.

Je länger die expansive Geldpolitik fortgeführt wird, desto stärker werden jedoch die negativen Folgen für die EZB selbst. Vor allem ist  ihre Unabhängigkeit in Gefahr. „Zu glauben, dass eine Notenbank mit einer solchen Macht noch unabhängig sein kann, ist naiv“, sagte der ehemalige Chefökonom der EZB Otmar Issing. Nach seiner Meinung hat die EZB den Fehler begangen, den versammelten Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel im Mai 2010 den Kauf von Staatsanleihen zugesagt zu haben, um notleidende Staaten zu retten. „Niemand ist immun gegen die Versuchung, immer bedeutender zu werden. Doch der Preis ist hoch.“

Insbesondere können Notenbanken mit dem Ankauf von Staatsanleihen zu Gefangenen ihrer eigenen Politik werden, was die Federal Reserve (Fed)   aktuell erfährt. Trotz mehrfacher Ankündigung, die Zinsen im Jahr 2016 anzuheben, zögert der Fed diesen Schritt immer wieder hinaus, weil sie die möglichen Risiken und Konsequenzen scheut. Dies brachte ihr bereits den Vorwurf der Abhängigkeit ein. Der republikanische Präsidentschaftsbewerber Donald Trump kritisierte, dass die Fed die Zinsen absichtlich niedrig halte. Vielleicht zum Wohle der Banken, aber natürlich in erster Linie, um seine demokratische Konkurrentin Hillary Clinton zu unterstürzen.

Fed-Präsidentin Janet Yellen versicherte daraufhin: „Die Federal Reserve ist politisch nicht befangen.“ Für Misstrauen sorgte jedoch, dass sie in einer Pressekonferenz nicht schlüssig erklären konnte, warum die Notenbank  acht Jahre nach der Finanzkrise immer noch davor zurückschreckt, die Zinsen anzuheben und den Märkten die Rückkehr zur Normalität zuzumuten. Am mangelnden Vertrauen in die Kraft der amerikanischen Wirtschaft jedenfalls liege es nicht, aber der richtige Zeitpunkt sei noch nicht gekommen, ließ Yellen wissen, was als weitere Beleg für die Abhängigkeit gegenüber der Finanzwelt und dem politischen Establishment gewertet wurde.
 
Japan ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Notenbank zum „Handlanger der Politik“ degradiert werden kann. Von dem Platzen der Immobilien-Spekulationsblase Anfang der 90er Jahre und der darauf folgenden Rezession hat sich das Land nie wirklich erholt. Die Industrieproduktion in Japan liegt heute auf dem gleichen Niveau wie 1989. Immer neue Ausgabenprogramme der Regierung führten nur zu kurzfristigen Wachstumsimpulsen, nachhaltig stieg nur die Staatsverschuldung von knapp 50 Prozent im Jahr 1990 auf fast 250 Prozent der Wirtschaftsleistung im Jahr 2016.

Die japanische Notenbank hat mittlerweise so viel Geld in den Markt gepumpt,  dass die Bilanzsumme bereits auf  79 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung angestiegen ist. Doch auch das reicht noch nicht. Die Bank von Japan will den Finanzmärkten zukünftig zwei Zinswerte für den kurzfristigen und für den Zehnjahreszins vorgeben, um die gesamte Zinskurve zu kontrollieren. Damit verspricht die Zentralbank, alle angebotenen Staatspapiere zu diesem Preis zu kaufen. Angeblich soll die Kontrolle der Zinskurve der Geldpolitik dienen und helfen, die Wirtschaft flott zu machen. Tatsächlich stellt die Notenbank der Regierung damit jedoch einen Freibrief aus, noch mehr Schulden zu machen. Dazu passt, dass in diesem Jahr die Ausgaben der Regierung erstmals seit 2013 wieder 100 Billionen Yen (885 Milliarden Euro) überschreiten und die Staatsschulden beschleunigt steigen werden.

II
Wirtschaftspolitische Agenda

Die Zentralbanken stecken in einem Dilemma: „Einerseits die übersteigerte Erwartung, dass es die Notenbanken wieder und immer wieder richten werden. Und andererseits das Misstrauen, dass die Hüter des Geldes durch ihre vielen Eingriffe viel zu mächtig geworden sind. Dabei sind die Währungshüter zu Gefangenen ihrer eigenen Politik geworden – unfähig, den Geldhahn wieder zuzudrehen, ohne Banken und Staaten ins Wanken zu bringen“, schreiben Anja Ettel und Holger Zschäpitz in der WamS vom 25. September 2016.

 Vor Mitgliedern des Bundestages verteidigte Mario Draghi seinen Kurs damit, dass die wirtschaftliche Lage besser als noch vor vier Jahren sei und die Arbeitslosigkeit zurück gehe. Die EZB sei auch nicht blind für die Risiken der Niedrigzinspolitik: „Einige Banken halten das sehr gut durch, andere sind stärker betroffen.“ Er verwahrte sich aber dagegen, mit seiner Zinspolitik den Bankensektor geschwächt zu haben. Die deutschen Banken hätten gemessen an ihren Einnahmen einfach zu hohe Kosten. Eine schnelle Kurskorrektur schloss Draghi aus. „Die EZB arbeitet jetzt weiter, bis sie ihr Ziel erreicht hat: bis wir eine Inflationsrate dicht unter 2 Prozent erreichen.“ Dann könnten auch die Zinsen wieder steigen. „Wir brauchen heute niedrige Zinsen, damit wir in Zukunft wieder höhere haben können“, sagte er.  Draghi sah sich auch als Opfer der Politik: „Zur Steigerung von Wachstum und Produktivität müssten auch andere Politikbereiche … wesentlich entschlossener beitragen.“

Die bisherigen Ergebnisse  seiner Politik rechtfertigen einen solchen Optimismus allerdings nicht:  Seit 2012 verzeichnet der Euro-Raum kaum wirtschaftliches Wachstum, die schlechteste Arbeitsmarktentwicklung unter den Industriestaaten mit zweistelligen Arbeitslosenquoten, nicht tragfähige Verschuldungsquoten und weit unter dem EZB-Ziel liegende Inflationsraten. Ohne die starke Konjunktur in Deutschland sähe es noch düsterer aus. Daher muss man fragen, inwieweit „die extrem aggressive, unkonventionelle und völlig unerprobte Geldpolitik der EZB – bis hin zu negativen Zinsen – zur Verschärfung der Probleme Europas beiträgt“ (David Folkerts-Landau).

Nach den Berechnungen der US-Bank Citi hat die EZB bereits ein Fünftel aller ausstehenden Staatsanleihen der Euro-Zone gekauft. Allein das Volumen der Bundesanleihen in ihren Büchern beträgt mittlerweile 240 Milliarden Euro. Prominente Experten sehen dafür die nationalen  Regierungen in der Verantwortung. „Die Zentralbanken sind durch das Versagen der Fiskalpolitik geradezu mit  Verantwortung überfrachtet worden“, sagte Wirtschaftsprofessor Stephen Cecchetti.  Man müsse aber die Frage stellen, warum die Notenbanken überhaupt derart umfangreich und womöglich sogar wider besseres Wissen eingreifen, obwohl ihre Erfolgsbilanz denkbar bescheiden ausfällt.

 „Ich wundere mich schon, warum die Zentralbanker in die sogenannten freien Märkte eingreifen, um eine Realität zu schaffen, die sich im Grunde nicht schaffen lässt“, sagte William O´Donnell von der Citi. Als besonders aussichtslos empfindet er das Ziel der Notenbanker, eine einheitliche Inflationsrate von zwei Prozent in so verschiedenen Wirtschaftsräumen wie den USA, Europa und Japan erreichen zu wollen. Der frühere Chefvolkswirt der Deutschen Bank Thomas Mayer erklärte dies mit dem planwirtschaftlichen Ansatz der derzeitigen Geldpolitik: „Wir leben in einer Welt der monetären Zentralplanung. Die Zentralbanken dominieren den gesamten Kapitalmarkt, mit Marktwirtschaft hat das nichts mehr zu tun, weil es keinen Marktanpassungsmechanismus mehr gibt.“
 
Dabei überschätzen die Notenbanken offensichtlich ihre Möglichkeiten. Die Geldpolitik kann zwar in normalen Zeiten über die Geld- und Kreditversorgung das Preisniveau beeinflussen. Viele Notenbanken verbinden dieses Ziel aber mit der Vorstellung, über die Beeinflussung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage auch auf die Konjunktur einzuwirken. Unmittelbar erreicht die Notenbank mit ihren Instrumenten jedoch nur die Finanzmärkte, ihr Zugriff auf den Rest der Wirtschaft ist allenfalls indirekt. Daraus hat schon der britische Ökonom John Maynard Keynes den richtigen Schluss gezogen, dass die Fähigkeit der Geldpolitik, eine lahmende Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückzuführen, nur begrenzt sein kann.

Die Grenzen der geldpolitischen Möglichkeiten werden besonders an der Nullzinspolitik deutlich, mit der unternehmerische Investitionen durch eine vermehrte Kreditvergabe der Banken angeregt werden sollen. Aufgrund der niedrigen Zinsen verdienen die Banken im Kundenkreditgeschäft wenig, weil der Abstand zwischen den Zinsen, zu denen sie sich Geld leihen, und den Zinsen, zu denen sie es weiter geben, klein ist. Je unprofitabler das Kreditgeschäft, umso geringer ist die Neigung, mit Risiko verbundene Kredite zu vergeben, was den mit der Niedrigzinspolitik angestrebten Zielen entgegenläuft. Vielmehr haben die Banken Anlass, das zusätzliche Geld zur Reparatur ihrer eigenen Bilanzen verwenden. Es kommt dann überhaupt nicht bei den Investoren an.

Der Ökonom Edward Prescott bestätigt diesen Zusammenhang: „Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Geldpolitik keine nachhaltigen Effekte auf Wachstum und Beschäftigung hat.“ Zu dem gleichen Ergebnis kommen die Ökonomen  Gunther Schnabl und Naoyuki Yoshino: „Japan zeigt deutlich, dass die sehr expansive Geldpolitik keine Investitionen anstößt. Für die Investitionsentscheidungen der Unternehmen sind die niedrigen Zinsen schon lange nicht mehr entscheidend. Vielmehr bremsen die trüben Geschäftserwartungen im Binnenmarkt.“

Die OECD sieht die Weltwirtschaft in einer „Falle“, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfindet. Ihre Experten fordern deshalb die  Regierungen der wohlhabenden Länder auf, die historisch niedrigen Zinssätze zu nutzen, im großen Umfang Schulden zu machen und das Geld in Konjunkturpakete zu stecken. Groß angelegte öffentliche Investitionen etwa in digitale Netze, Straßen und Bildungseinrichtungen könnten dafür sorgen, dass nachhaltiges Wachstum an Fahrt gewinnt.

Das gelte auch für die Euro-Zone, meinen die Ökonomen der OECD. „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt könnte weniger streng angewandt werden, um höhere Staatsausgaben möglich zu machen“. Mit ihrer Forderung ist die OECD nicht allein: Politiker aus Italien und Griechenland, aber auch der Internationale Währungsfonds (IWF) verlangen seit Längerem, mit höheren staatlichen Ausgaben das Wachstum zu stärken. Die Gegenposition vertritt das Bundesfinanzministerium: Statt schuldenfinanzierter Ausgabenprogramme hält es wirtschaftliche Strukturreformen und fiskalische Konsolidierungsprogramme für erforderlich. 

III
Fehlende Strukturreformen

Im Sommer 2012 stiegen die Zinsen für einige Peripherie-Länder der Euro-Zone enorm an und es bestand ein hohes Risiko, fällige Staatsschulden nicht refinanzieren zu können. Für eine nachhaltige Lösung dieses Problems hätte es Rettungsprogramme mit harten Reformauflagen und unpopulären Ausgabenkürzungen für diese Ländern geben müssen.

Stattdessen versprach Mario Draghi den Krisenstaaten, alles zu tun, was nötig ist („whatever it takes“), um den Euro zu retten. Es folgte die Ankündigung des OMT-Programms, mit dem die EZB unbegrenzt Staatsanleihen von Euroländern kaufen konnte. Die Wirkung war verblüffend. Die Risikoaufschläge für Staatspapiere der Krisenländer gingen zurück und die Finanzmärkte beruhigten sich, ohne dass das OMT-Programm zur Anwendung kommen musste.

Damals lautete die eigenartige Begründung für das OMT-Programm, „dass die auseinanderlaufenden Risikoaufschläge bei Staatsanleihen ein Zeichen unwirksamer geldpolitischer Transmissionskanäle seien und nicht etwa abweichender länderspezifischer Risiken“. Tatsächlich war die Ankündigung jedoch eine großzügige Subvention für die südlichen Peripherie-Länder der Euro-Zone. Der durchschnittliche Risikoaufschlag für Staatsanleihen fiel um fast fünf Prozentpunkte.

Diese gewaltige Entlastung wurde jedoch von den Krisenstaaten nicht genutzt, um die notwendigen Reformen und die Haushaltskonsolidierung durchzuführen. Im Gegenteil: Mario Draghi hatte mit seiner Ankündigung die Disziplinierungskräfte der Märkte und die Reformbereitschaft der Regierungen  ausgeschaltet. Wer reformiert schon freiwillig, wenn es Geld so billig gibt? Stattdessen erhöhten die Staaten ihre Ausgaben und verschuldeten sich weiter. Verstärkt wurden die Fehlanreize noch dadurch, dass Banken die erworbenen Schuldtitel europäischer Länder nicht mit Kapital unterlegen mussten (Nullgewichtung).    

Das OMT-Programm blieb zwar in der Schublade, aber die EZB begann drei Jahre später im Rahmen ihres QE-Programms in ungeahntem Umfang Staats- und Unternehmensanleihen zu kaufern. Wenn dieses Programm - wie allgemein erwartet – bis Ende 2017 verlängert wird, wird die EZB bis dahin ein Fünftel der gesamten Staatsverschuldung des Euro-Raums in ihren Büchern haben. Dies erklärt, warum ernsthafte Reformen in der Euro-Zone nicht in Betracht gezogen werden. Ungeachtet öffentlich bekundeter Absichten hat die EZB die Disziplinierungsmechanismen steigender Anleihezinsen außer Kraft gesetzt und trägt damit eine wesentliche Mitverantwortung für das Ausbleiben der so dringend nötigen strukturellen Veränderungen. Die Politik des billigen Geldes ist nicht die Lösung des Problems, sondern seine Ursache.

Die EZB gibt sich offensichtlich der Illusion hin, dass ihre Geldpolitik irgendwann die erwünschte Wirkung haben wird. Die Probleme Europas sind jedoch struktureller und nicht zyklischer Natur. Die Länder der Peripherie sind nicht in der Lage, ein für den Abbau der Verschuldung und Arbeitslosigkeit ausreichendes Wachstum zu erzeugen. „Ursache hierfür sind mangelnde Reformen der Arbeitsmärkte sowie des Rechts-, Sozial- und Steuersystems. Und die Regierungen haben nicht gehandelt, weil die extrem lockere Geldpolitik der EZB und insbesondere das Versprechen „whatever it takes“ Untätigkeit zur kurzfristig attraktiven Option gemacht haben“ (David Folkerts-Landau).

IV

Null-Zins-Politik

Negative Negative Zinsen sind für viele Menschen sichtbarer Ausdruck einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Sie bestrafen den Sparer und belohnen den Schuldner. Versicherer und Pensionsfonds geraten in Bedrängnis, weil sie ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Kunden wegen der niedrigen Zinsen kaum noch erwirtschaften können. Auf der anderen Seite steigen die Kurse spekulativer Anlagen in bedenkliche Höhen. Hans Werner Sinn spricht von „der größten Vermögensumverteilung in Europa seit der Nachkriegszeit“ durch die Notenbanken. Umverteilt wird von Gläubigern zu Schuldnern, von finanzschwachen zu finanzstarken Unternehmen. 

In den Jahren nach der Weltfinanzkrise konnten die Geschäftsbanken gar nicht genug Notenbankliquidität bekommen. Infolge des Rückgangs der Anleiherenditen stiegen die Kurse sicherer Anleihen in unerwartete Höhen. Zudem mussten die Erlöse aus den massiven Ankäufen von Wertapieren durch die Notenbanken wieder angelegt werden, was zu steigenden Preisen an den Aktien- und Immobilienmärkten führte. Das stabilisierte die Bankbilanzen. Doch inzwischen ist die Nullzinspolitik für die Banken zu einem veritablen  Rendite-Killer geworden.

Die Bankmanager, die die EZB gestern noch als Retter feierten, reagieren inzwischen gereizt auf die aktuelle Notenbankpolitik. Die Geldpolitik wirke den Zielen entgegen, die Wirtschaft zu stärken und das europäische Bankensystem sicherer zu machen, kritisierte der Deutsche-Bank-Chef John Cryan im Handelsblatt. Und der Investmentkenner Bill Gross monierte: „Niedrige oder negative Zinsen erodieren und zerstören historische Geschäftsmodelle, die ursprünglich Investitionen und auch das Wachstum förderten.“

In der Welt ohne Zinsen sind die Banken in eine Zwickmühle geraten:  Einerseits verschlechtert sich die Ertraglage der Banken, weil die Zinsmarge sinkt. Andererseits treibt die Geldpolitik mit ihrem Strafzins die Geschäftsbanken in immer riskantere  Kreditengagements. „Die niedrigen Zinsen führen dazu, dass Investoren immer größere Risiken eingehen“, sagte Harald Hau, Professor in Princeton. Er hat herausgefunden, dass jede weitere Senkung der Kapitalmarktsätze um 0,1 Prozentpunkte die Aktienkurse um zwei bis vier Prozent antreiben. „Dieser Mechanismus macht die Zinspolitik so gefährlich.“ Nicht zuletzt deshalb zählen Banken, Fondsgesellschaften und Versicherungen jetzt zu den schärfsten Kritikern der Geldpolitik. Zudem rücken die Risiken der Geldpolitik für die Finanzstabilität als Folge der Auszehrung von Banken und Versicherungen plötzlich in den Blickpunkt. 

Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet, dass 30 Prozent aller europäischen Geldhäuser auf Dauer nicht überleben werden. Eine Ursache seien faule Kredite, die der Währungsfonds auf 900 Milliarden Dollar beziffert, sowie ineffiziente Geschäftsmodelle. Ein Grund für die europäische Malaise ist laut IWF zwar auch die Niedrigzinspolitik der EZB. Sie verschlechtere die Ertragslage der Kreditinstitute. Doch die Hauptschuld trügen die Banken selbst. „Es gibt schlicht zu viele Banken mit zu vielen Filialen“, sagte IWF-Experte Peter Dattels. Außerdem müssten die Institute beherzter ihre Altlasten abbauen, wobei er explizit die Deutsche Bank kritisierte. Der Fonds plädiert trotzdem dafür, an einer lockeren Geldpolitik festzuhalten, fordert zugleich aber eine stimulierende Fiskalpolitik und Strukturreformen.

 „Es mag zynisch klingen, aber der Arbeitsplatzabbau ist eigentlich das, was die EZB erreichen will“, sagte Nick Andrewa, Stratege beim Analysehaus Gavekal Research. Doch mit ihrer großzügigen Liquiditätspolitik behindere sie gleichzeitig den Strukturwandel. „Die EZB ist dafür verantwortlich, Zombie-Banken am Leben zu erhalten“, sagte Andrewa unter Hinweis auf die italienische Bank Monte die Paschi de Siena.

Die Deutsche Bundesbank teilt diese Analyse. „Die politische Stützung des Bankensektors muss endlich ein Ende haben – dies sehe ich bisher leider nur in beschränktem Maße“, sagte ihr Vorstandsmitglied Andreas Dombret. „Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die nötige Marktbereinigung des Sektors vermutlich noch längst nicht abgeschlossen ist.“ Ansonsten würde es immer schwieriger, ausreichende Gewinnmargen zu erwirtschaften. Zwar hätten deutsche Institute ihre Bilanzen zwischen 2008 und 2015 schon um etwa 30 Prozent verkleinert, doch das reiche noch längst nicht aus. „Der Sektor muss sich auf ein weiteres Schrumpfen seines Anteils an der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einstellen“, sagte Dombret. Auch wegen des Niedrigzinsumfelds trieben die Dinge in Deutschland nun einer Entscheidung zu: „Die Widerstandsfähigkeit der Banken wird nachhaltig auf die Probe gestellt.“

Für Banker und Investoren ist in erster Linie die Niedrig-Zins-Politik der EZB für die Bankenkrise verantwortlich. Sie fordern deshalb ein schnelles Umsteuern. Bond-Investor Jeffrey Gundlach warnte: „Man kann eine stagnierende Wirtschaft nicht dadurch retten, dass man sein Finanzsystem kaputt macht. Wenn diese Negativ-Zinspolitik ausreichend lange beibehalten wird, macht man diese Banken bankrott“. 

V
Selbstverständnis der Zentralbanken

Aus Äußerungen der Notenbanker auf der diesjährigen Tagung in Jackson Hole lässt sich schließen, dass die Notenbanken auf ihrem geldpolitischen Kurs weiter marschieren werden. Am deutlichsten war Haruhiko Kuroda, der Präsident der Bank of Japan: Es gebe „keinen Zweifel, dass es noch großen Spielraum für eine zusätzliche Lockerung der Geldpolitik geben“, sagte er. Dem wollte die EZB nicht nachstehen. Deren Direktoriumsmitglied Benoit Coeuré sagte, man werde noch „tiefer in unseren operationellen Rahmen und unsere Strategie eintauchen“, wenn die Regierungen der Euro-Staaten nicht ihren Teil dazu beitrügen, die Wirtschaft anzukurbeln. Sprich: Geben die Länder nicht mehr Geld aus oder führen sie keine Reformen durch, dann wird die EZB noch aktiver. Und die Fed-Chefin Janet Yellen meinte: „Künftige Zentralbanker sollten die Möglichkeit des Aufkaufs einer breiteren Auswahl von Vermögenswerten untersuchen.“ Da die Fed am Anleihemarkt nach der Finanzkrise praktisch jedweden Vermögenswert aufkaufte, kann sie damit nur Aktien gemeint haben. So wie es Japan bereits vormacht, und so, wie es verschiedene Ökonomen auch von der EZB fordern.

 „Ob man es mag oder nicht: Die Zentralbanker scheinen entschlossen, sich immer tiefer in das Loch einzugraben, in dem sie sich befinden“, kommentiert Joachim Fels von Pimco diese Geisteshaltung. Sie erhalten dabei von führenden Ökonomen und Finanzwissenschaftler, die in Jackson Hole dabei waren, Rückendeckung. Wie lässt sich dieses Denken erklären?

Laut Handelsblatt vom 9. Oktober 2016 dominieren in der geldpolitischen Diskussion derzeit Zeit Ökonomen, die am Massachusetts Institute of Technology (MIT) als „moderne Keynesianer“ ausgebildet worden sind. Hierzu gehören unter anderem Ex-Fed-Chef Ben Bernanke, EZB-Chef Mario Draghi, Fed-Vize Stanley Fischer und der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers sowie der IWF-Chefvolkswirt Maurice Obstfeld. Sie sind der Überzeugung, dass die Zinsen niedrig sind, weil viel Kapitalangebot aufgrund einer „säkularen Stagnation“ auf wenig Kapitalnachfrage trifft. Ihre Medizin lautet: Nachfrage schaffen durch staatliche Ausgabenprogramme, flankiert durch eine anhaltende aggressive Geldpolitik.

Die Gegenbewegung zu dieser Denkschule, wozu der BIZ-Ökonom Claudio Borio sowie deutsche Ökonomen wie Hans-Werner Sinn oder Thomas Mayer gehören, befindet sich in der Defensive. Für sie ist die derzeitige Wachstumsschwäche eine Spätfolge der Finanzkrise, in der Kredite und Schulden schneller gewachsen sind als die Wirtschaft. Nun müssten die schlechten Investitionen abgeschrieben werden, bevor Kredite für neue Investitionen möglich sind. Nach ihrer Meinung hat die aggressive Geldpolitik der EZB „die schöpferische Zerstörung verhindert, die die Basis eines neuen Aufschwungs hätte sein können“. Aus der derzeitigen Situation könne Europe nur mit einer „Reinigungskrise der Schumpeter´schen Art“ hinausfinden, die mit angebotsorientierten Reformen,  Schuldenschnitten und Euro-Austritten einhergehen müsse. Dies sei zwar Aufgabe der Politik, den Notenbanken treffe aber eine erhebliche Mitschuld, weil sie mit ihrer ultra lockeren Geldpolitik die Politiker vom Reformdruck befreit habe. 

Solche Argumente sind für EZB-Chef Mario Draghi kein Grund für einen geldpolitischen Kurswechsel. Im Gegenteil: Ende Oktober 2017 beschloss der Rat der Europäischen Zentralbank gegen die Einwände der Deutschen Bundesbank eine Verlängerung des umstrittenen Anleihekaufprogramms ohne Enddatum. Die Zentralbank teilte mit, dass sie von Januar 2018 an für monatlich 30 Milliarden Euro Wertpapiere kaufen werde. Dies bedeutete zwar eine Halbierung des bisherigen monatlichen Kaufvolumens, das Programm sollte aber  bis "mindestens September 2018 oder darüber hinaus" laufen, teilte die Zentralbank mit. Zusätzlich wollte die EZB monatlich für auslaufende Anleihen Ersatztitel im Wert von etwa 10 Milliarden Euro kaufen. Insgesamt kauft die EZB dann seit Beginn des Kaufprogramms bis zum Herbst 2018 für mehr als 2,55 Billionen Euro Wertpapiere, überwiegend Staatsschulden.

Wie Draghi betonte, wird die Geldpolitik weiterhin locker bleiben, um die Wirtschaft zu unterstützen und die Inflationserwartung in Richtung des EZB-Zielwertes von knapp unter 2 Prozent zu heben. Die europäische Wirtschaft entwickele sich zwar gut, seit vier Jahren wachse das Bruttoinlandsprodukt und es seien 7 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden. "Aber zugleich ist der heimische Preisdruck noch immer insgesamt verhalten, und der wirtschaftliche Ausblick und der Inflationspfad hängen von der Unterstützung durch die Geldpolitik ab", begründete Draghi seine Entscheidung. Volkswirte reagierten gespalten auf die Ankündigungen der EZB.
 


Zurück Druckoptimierte Version Diesen Artikel weiterempfehlen... Druckoptimierte Version
Benutzername:
User-Login
Ihr E-Mail
*