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Konjunktur und Außenhandel : Säkulare Stagnation
18.08.2016 19:17 (3087 x gelesen)

Säkulare Stagnation

Ludwig Erhard hielt wirtschaftliche Wachstumsprogramme nicht nur für nutzlos, sondern auch für schädlich. Der Staat, so sein Credo, sollte für eine freie und gerechte Wirtschaftsordnung sorgen, er sollte aber nicht aktiv in den Wirtschaftskreislauf eingreifen - dieser Grundsatz war für seine Wirtschaftspolitik prägend.  „In  schwächeren Wachstumsraten sah er kein Malheur – weder ein Markt- noch ein Politikversagen“ (Horst Friedrich Wünsche). Nicht die Politiker, sondern die Akteure in der Wirtschaft sollten nach Erhards Überzeugung über Art und Höhe des Wachstums entscheiden.

In den wirtschaftspolitischen Debatten von heute kommen solche Ansichten nicht mehr vor. Wirtschaftliches Wachstum gehört vielmehr in allen Industrieländern und in den meisten Schwellen- und Entwicklungsländern zu  den wichtigsten Zielen der Wirtschaftspolitik, weil sich damit viele gesellschaftliche Probleme von selbst lösen: Wirtschaftswachstum schafft  Arbeitsplätze und mehr privaten Wohlstand; zudem kann der Staat seine Ausgaben erhöhen und den Sozialstaat weiter ausbauen. Demgegenüber verschärfen sich bei rückläufigem Wachstum die Verteilungskonflikte und die Risiken für die politische Elite.

Seit geraumer Zeit diskutieren Ökonomen und Politiker über die Gefahr einer länger anhaltenden Phase sehr schwachen wirtschaftlichen Wachstums. Tatsache ist, dass das Wachstum der Weltwirtschaft, insbesondere das wirtschaftliche Wachstum der westlichen Länder, hinter den Zuwachsraten vor der Krise zurückbleibt. Die Diskussion über die Ursachen und etwa zu ergreifenden Maßnahmen ist in vollem Gange. Dabei lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Argumentations- und Handlungsebenen  ausmachen:  Die einen meinen, dass der weltweit zu beobachtende Rückgang des Wirtschaftswachstum beruhe auf einer „Nachfragelücke“, die sich daraus ergebe, dass mehr gespart als investiert wird. Hier müsse die Politik ansetzen. Andere wiederum sehen die tieferen Ursachen für das globale Absinken der Wachstumsraten in langfristig wirkenden Veränderungen auf der Angebotsseite der Wirtschaft, so dass man möglicherweise von einer „säkularen Stagnation“ sprechen müsse. Höhere Wachstumsraten könne man deshalb nur durch mehr oder bessere Produktionsfaktoren erwarten.  

Die Nachfragelücke

Die Notenbanken und Regierungen der großen Industriestaaten verfolgen heute ausnahmslos eine Geld- und Haushaltspolitik, die sich an den Lehren von John Maynard Keynes orientiert. Keynes hatte erkannte, warum Marktwirtschaften auch bei vollkommen flexiblen Preisen inhärent instabil sein können. Wenn mehr gespart als investiert wird, kann eine Nachfragelücke entstehen, die Unterbeschäftigung zur Folge hat. Bei rückläufiger Güternachfrage drosseln die Unternehmer ihre Produktion und entlassen einen Teil der Arbeitnehmer.

Weshalb, so argumentierte Keynes, soll die Regierung nicht Aufträge vergeben, wenn die Unternehmer auf Grund ungünstiger Gewinnerwartungen wenig Neigung zu Investitionen zeigten? Und warum sollte die Notenbank die Regierung dabei nicht mit einer Expansion der Geldmenge unterstützen? Die Lösung dieses Problems sah Keynes also nicht in den Selbstheilungskräften des Marktes, sondern in staatlichem Handeln.

Die meisten Regierungen der westlichen Volkswirtschaften betreiben heute eine expansive Fiskalpolitik mit dauerhaften Haushaltsdefiziten. Ein besonders krasses Beispiel ist Japan, das seit über zwanzig Jahren versucht, mit kreditfinanzierten Staatsausgaben Wachstum zu erzeugen – allerdings ohne großen Erfolg. In diesem Club nimmt Deutschland mit dem Haushaltsziel der „schwarzen Null“ international gesehen eine Außenseiterrolle ein, wie auch mit der Kritik an der extrem lockeren Geldpolitik der EZB. Denn alle großen Notenbanken der westlichen Welt haben die Leitzinsen auf nahe null gesenkt und versuchen,  mit massiven Anleihekäufen die Investitionstätigkeit zu beleben. Und niemand denkt daran, diese Politik zu beenden. Solange sich die Inflationsraten eher im deflationären Bereich bewegen, müsse der Staat für den Ausgleich des Nachfragedefizits sorgen, lautet die übereinstimmende Begründung.

Unterstützung erhalten die Regierungen und Notenbanken von bekannten  Ökonomen:  Larry Summers, früherer Chefberater des amerikanischen Präsidenten, der diese Diskussion angestoßen hat, sieht die Ursache der stagnierenden Entwicklung in einer Kombination aus steigendem Kapitalangebot und sinkender Investitionsneigung. Ben Bernanke, der frühere Chef der amerikanischen Notenbank, und der Nobelpreisträger Paul Krugmann haben im Grundsatz ähnliche  Erklärungen für die derzeitige Wachstumsschwäche. Alle plädieren für eine international abgestimmte expansive Geld- und Fiskalpolitik. 

In Deutschland  spricht sich Peter Bofinger, Mitglied des Sachverständigenrates, seit Jahren für eine solche Politik aus. „Offensichtlich ticken die ökonomischen Uhren in Deutschland anders als im Rest der Welt“, schreibt der den Gewerkschaften nahestehende Ökonom in der Süddeutschen Zeitung vom 25./26. Juni 2016. „Während Deutschland stolz ist auf die ´schwarze Null´ im Bundeshaushalt, fordern uns internationale Organisationen und anerkannte ausländische Ökonomen auf, endlich wieder mehr Schulden zu machen. Und während sich im Ausland kaum jemand an der hyperexpansiven Geldpolitik der großen Notenbanken stört, gerät Mario Draghi immer mehr in die Schusslinie deutscher Ökonomen und Politiker“. 

Peter Bofinger begründet den von ihm geforderten Politikwechsels in der FAZ vom 17. Juli 2016  folgendermaßen:

• Die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung  nimmt global zu. Dies ist aus makroökonomischer Sicht problematisch, weil sie einen chronischen Nachfragemangel hervorrufen kann.
• Der Nachfragemangel ergibt sich aus dem unterschiedlichen Sparverhalten der Haushalte. Haushalte mit niedrigem Einkommen leben gleichsam von der Hand in den Mund, während Haushalte mit hohem Einkommen einen relativ hohen Anteil des laufenden Einkommens auf die Seite legen.
• Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Investitionszurückhaltung der Unternehmer. Sie verwenden ihre Gewinne nicht für Investitionen, sondern stattdessen zum Abbau ihrer Verschuldung und zur Ausweitung ihrer liquiden Mittel.
• Bis zum Ausbruch der Finanzkrise 2008 ist das durch die ungleichen Einkommen bewirkte Nachfragedefizit dadurch ausgeglichen worden, dass auf Pump konsumiert und investiert wurde. Nach der Finanzkrise konnte der chronische Mangel an Nachfrage von Unternehmen und privaten Haushalten nur dadurch kompensiert werden, dass die Staaten bereit waren, sich massiv zu verschulden.
• Vor diesem Hintergrund ist die Niedrigzinspolitik der EZB als der Versuch zu sehen, das Geldhorten möglichst unattraktiv zu machen und somit einen Anreiz für mehr Investitionen zu schaffen.

Für Peter Bofinger ist es der sehr expansiven Fiskalpolitik und der äußerst lockeren Geldpolitik der wichtigsten Notenbanken zu verdanken, dass der durch die wachende Ungleichheit geschaffene private Nachfragemangel nicht zur Stagnation der Weltwirtschaft geführt habe. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der die „Idee, mit neuen Schulden Wachstum auf Pump“ zu erzeugen,  als falsch bezeichnet hat, hält Bofinger entgegen, dass die exportorientierte deutsche Wirtschaft der eigentliche Nutznießer dieser Idee sei. Denn die „schwarze Null“ im Weltmaßstab wäre der sichere Weg in eine langfristige Stagnation, die insbesondere die deutschen Exporte treffen würde.

Den tieferen Grund für die Ablehnung einer lockeren Fiskal- und Geldpolitik in Deutschland sieht Peter Bofinger in einem ökonomischen Denken, das er auf die von Walter Eucken begründete Freiburger Schule zurückführt. Dies ist nicht von der Hand zu weisen. Die Freiburger Schule basiert auf der Grundthese, dass sich ein wirtschaftliches Angebot seine Nachfrage selbst schafft, wenn die Löhne und Preise hinreichend flexibel sind und Wettbewerb herrscht. Die Wirtschaft ist demnach also in der Lage, aus sich selbst heraus eine Krise zu überwinden und wieder ins Gleichgewicht zurückfinden, so fiskalische Stimulanzen und eine expansive Geldpolitik überflüssig oder sogar störend sind. Diese Ansichten teilt Peter Bofinger als Anhänger der Lehre von Keynes natürlich nicht. 

Die Produktivitätslücke

Auf der Angebotsseite sind zwei Faktoren, die für die Höhe des globalen Wirtschaftswachstums maßgeblich sind: Erstens die Größe der Erwerbsbevölkerung; je mehr Erwerbstätige eine Volkswirtschaft aufweist, desto mehr Güter und Dienstleistungen kann sie produzieren. Zweitens die Entwicklung der Produktivität; je höher sie ist, desto mehr Güter und Dienstleistungen können die Erwerbstätigen mit der gleichen Zahl von Arbeitsstunden produzieren.

Die Größe der Erwerbsbevölkerung und die Höhe der Produktivität sind ihrerseits von Faktoren abhängig, die vielfach nicht zu beeinflussen sind. Robert Gordon, Forscher an der Northwestern University in Chicago, hat in einem viel beachteten Buch erklärt, warum die Wachstumsraten sinken müssen: 

• Erstens: Die Menschen altern, sie arbeiten weniger und das Einkommen steigt langsamer.
• Zweitens: In wachsenden Teilen der Bevölkerung gibt es Bildungsdefizite; solche Menschen sind nicht so produktiv oder finden keine Arbeit.
• Drittens: Bei wachsender Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wächst die Sparquote, weil Reiche das Geld nicht komplett ausgeben können.
• Viertens: Die hohe Staatsverschuldung in den westlichen Industrieländern zwingt die Staaten, weniger zu investieren. 

Die genannten Faktoren Alterung, Bildungsdefizite, Einkommensungleichheit und hohe Staatsverschuldung begrenzen laut Robert Gorden die Produktivitätszuwächse. Ein weitere Wachstumsbremse sieht er darin, dass die großen Innovationen, etwa die Verbreitung der Automobile, der elektrischen Geräten und der Medizin, im 20sten Jahrhundert stattgefunden haben. Solche Produktivitätszuwächse und Wachstumsraten ließen sich nicht wiederholen.

Auf einen weiteren Aspekt hat Uwe Sunde, Ökonom an der LMU München, in der FAZ vom 15. Juli 2016 hingewiesen: Historische Zahlenreihen zeigten, dass die Wirtschaft in vielen westlichen Ländern zu wachsen begann, als die Sterblichkeitsraten und die Geburtenraten sanken, während gleichzeitig die Ausbildung von Kindern intensiviert wurde. Dies seien jedoch Einmaleffekte eines „demografischen Übergangs“, die mit der Zeit an Wirkung verlieren und die Wachstumsraten auf ein niedrigeres Niveau sinken lassen. „Möglicherweise ist es genau dieses Phänomen, dessen Auswirkungen wir in der heutigen Zeit zu spüren beginnen“, sagt Uwe Sunde. 

Nach den Berechnungen des Statistischen  Bundesamtes ist die "Arbeitsproduktivität je Stunde" von 2010 bis 2014 nur um 3,6 Prozent gestiegen - also um weniger als ein Prozent im Jahr. Der Sachverständigenrat, der die Bundesregierung berät, hat dafür in seinem Jahresgutachten 2015 zwei zentrale Gründe genannt: Zum einen seien seit 2005 mehr als drei Millionen Arbeitslose mit geringer Produktivität  auf den Arbeitsmarkt zurückgekehrt. Außerdem habe die Industrie vor einigen Jahren damit aufgehört, im großen Stil Tätigkeiten mit geringer Produktivität ins Ausland zu verlagern. Beides habe, statistisch gesehen, die Dynamik gebremst.

Aber ist dadurch auch der Wohlstand gesunken? "Tatsächlich bedeuten beide Trends, dass mehr Arbeit von mehr Menschen in Deutschland erledigt wurden", stellte Johannes Pennekamp (FAZ vom 13. Februar 2016) fest. Außerdem dürfe man nicht außer Acht lassen, dass der technische Fortschritt der "größte blinde Fleck in den amtlichen Statistiken" sei. Vor allem sei es bis heute nicht gelungen, Qualitätssprünge und Preisentwicklungen statistisch genau zu erfassen. Pennekamp hält es deshalb für möglich, dass die Wirkungen des technischen Fortschritts statistisch unterschätzt werden.

Wie dem auch sei, die wirtschaftliche Produktivität – also das Maß für die Wirtschaftsleistung pro Erwerbstätiger – hat im letzten Jahrzehnt in den meisten Industriestaaten kontinuierlich abgenommen. Die Produktivität der amerikanischen Unternehmen (ohne Landwirtschaft) sank beispielsweise im ersten Quartal 2016 mit einer Jahresrate von einem Prozent. Dies bedeutet, dass das Wirtschaftswachstum fast ausschließlich von der sinkenden Arbeitslosenquote angetrieben wurde: Arbeitssuchende haben wieder eine Beschäftigung gefunden, selbst wenn sie nicht besonders produktiv sind.

Das schwache Produktivitätswachstum seit 2012 hat die Ökonomen überrascht. Möglicherweise gibt es dafür auch ganz andere als die bisher angeführten Gründe. Der Investmentbanker Jim Cielinski jedenfalls nennt für diesen „Produktivitäts-Crash“  folgende Ursachen: 

• Erstens bremsen rückläufige IT-Erträge Investitionen in neue Technologien.
• Zweitens schafft die Globalisierung Überkapazitäten.
• Drittens bremst die Liquiditätsschwemme der Notenbanken die kreative Zerstörung im Sinne Schumpeters.
• Viertens werden Produktivitätssteigerungen in einer dienstleistungsorientierten Gesellschaft schwieriger. 

Damit würde sich auch die Investitionszurückhaltung der Unternehmen erklären. Denn zwischen Produktivität und Investitionen besteht mittelfristig eine hohe Korrelation. Wenn die Produktivität nicht steigt, ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Gewinnmargen der Unternehmen sinken werden. Dann werden sich die Unternehmen auch bei den Investitionen zurückhalten.  

Haushaltskonsolidierung

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble steht wegen seiner   „schwarzen Null“  im Bundeshaushalt international unter Druck. Statt die Wirtschaft mit kreditfinanzierten Investitions- und Ausgabenprogrammen anzukurbeln, bemüht  sich das Bundesfinanzministerium trotz ständig wachsender Ausgaben um den Ausgleich seines Haushalts, was ihm aber nur aufgrund hoher Steuereinnahmen und niedriger Zinsen gelingt.

Auf die internationale Kritik an dieser „Konsolidierungspolitik“ hat das  Bundesfinanzministerium mit einem Beitrag seines Chefvolkswirts Ludger Schuknecht in der FAZ vom 16. Juni 2016 reagiert, und zwar mit folgenden Argumenten:

• Es gibt keine überzeugende Evidenz einer globalen Nachfragelücke oder Krise. Der IWF schätzt das Wachstum der Weltwirtschaft auf  3,5 Prozent jährlich bis Ende des Jahrzehnts. In Deutschland stehen die Zeichen auf Voll- bis Überauslastung.
• In den meisten Ländern gibt es auf Grund der Verschuldung keinen Spielraum für mehr Staatsausgaben. Im G-7-Schnitt liegen die Staatsschulden bei 120 Prozent der Wirtschaftsleistung.
• In den meisten entwickelten Ländern altert die Bevölkerung, ohne dass genügend Vorsorge getroffen worden ist, weder durch Bildung von Rücklagen noch durch Abbau von Schulden.
• Solide Staatsfinanzen sind auch deshalb nötig, damit der EZB der Rückweg aus der unkonventionellen Geldpolitik nicht versperrt wird.
• Zudem entscheidet die Qualität der fiskalischen Maßnahmen über die Auswirkungen der Schuldenreduktion. Einsparungen der konsumtiven Ausgaben sind für Wachstum und Vertrauen besser als Steuererhöhungen.

Die derzeitige Einstellung des Bundesfinanzministeriums beruht auf den schlechten Erfahrungen, die in der Vergangenheit mit kreditfinanzierten Konjunkturprogrammen gemacht wurden. Sie waren meistens falsch adressiert oder kamen zu spät. Häufig wurde auch die Wirkungsmechanik falsch eingeschätzt: So verbinden Haushalte und Unternehmen mit kreditfinanzierten Ausgabeprogrammen des Staates die Erwartung, dass Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen folgen werden. Dies motiviert zu höherem Sparen, also zu weniger Konsum und Investitionen, was dem positiven Nachfrageeffekt entgegen wirkt. Andererseits schafft eine Strategie der Konsolidierung Vertrauen, das zu mehr Konsum und Investitionen führt, was den negativen Nachfrageeffekt kompensiert.

In der derzeitigen Diskussion um die „säkulare Stagnation“ ist zudem zu berücksichtigen, dass die eigentlichen Ursachen auf der Angebotsseite der Wirtschaft liegen, die mit kreditfinanzierten Ausgabeprogrammen gar nicht erreicht werden, geschweige denn beeinflusst werden können. Diese gilt für die Größe der Erwerbsbevölkerung ebenso wie für die Faktoren, die für die Produktivität der Erwerbspersonen maßgeblich sind. Es ist deshalb eine nachvollziehbare und kluge Entscheidung des Bundesfinanzministeriums, dem internationalen Druck, sich von der „schwarzen Null“ zu verabschieden, nicht stattzugeben.  

Geldpolitische Wende

Alle Notenbanken  in den großen Industrieländern, insbesondere die  Europäischen Zentralbank (EZB),  betreiben heute eine extrem lockere Geld- und Kreditpolitik, um das wirtschaftliche Wachstum in ihrem jeweiligen Währungsraum anzukurbeln. Es gilt das Dogma, dass die Wachstumsschwäche durch eine globale Nachfragelücke verursacht wird, weil mehr gespart als investiert wird. Damit sei die Gefahr einer Deflation verbunden, die in eine wirtschaftliche Rezession münden könne. Die Notenbanken leiten daraus die Notwendigkeit ab, die Zinsen zu senken und durch Ankauf von Schuldtiteln Geld in die Finanzmärkte zu pumpen. Ziel sei es, die Inflationsrate anzuheben, um dadurch die Kreditvergabe der Banken und die Investitionstätigkeit der Unternehmen zu beleben.

Im siebten Jahr einer solchen Geld- und Kreditpolitik muss man feststellen, dass sie nicht funktioniert hat. Als erste wichtige Institution hat die OECD den Glauben verloren, dass mit historisch niedrigen Zinsen und dem massiven Ankauf von Staatspapieren das Wachstum angekurbelt werden kann. „Die lockere Geldpolitik hat die Grenzen des Machbaren erreicht, wenn es darum geht, das Wachstum eines großen Teils der Weltwirtschaft zu stimulieren“, sagen die Experten der OECD. „Wir hatten die lockerste Geldpolitik aller Zeiten, einmal abgesehen von Zeiten der Hyperinflation, aber die Produktivität verbessert sich nicht, die Volkswirtschaften wachsen kaum, das gilt ganz besonders für Europa und China, und es gibt keine Anzeichen, dass die Inflation zurückkehrt.“

Dies ist ein bitteres Urteil für EZB-Chef Mario Draghi sowie die Chefin der US.Notenbank Fed, Janet Yellen, und den japanischen Premier Shinzo Abe, der mit den so genannten Abeonomics, einer Politik des lockeren Geldes und gewaltiger Infrastrukturinvestitionen, sein Land aus der wirtschaftlichen Starre befreien wollte.

Die OECD-Experten begründen ihr Urteil damit, dass die Notenbanken mit den niedrigen Zinsen und der Geldschwemme viele Unternehmen am Leben halten, die kaum wettbewerbsfähig sind und die in normalen Zeiten nicht überleben würden. Die Folge dieser geldpolitischen Subventionierung ist, dass die schwachen Firmen am Markt bleiben und produktiveren Unternehmen Wachstumschancen nehmen. „Bei Zinssätzen nahe null Prozent fällt es Unternehmen leicht, übergroße Schuldenlasten zu schultern, sich Geld zu leihen, um die eigenen Aktien zurückzukaufen oder das Geld unproduktiv zu investieren, weil das Kapital so günstig zu haben ist“, schreiben die Experten der OECD.

Die wachstumshemmende Wirkung der lockeren Geldpolitik zeigt sich auch daran, dass Wachstumsbranchen und innovativen Gründern die Investoren und Geldgeber fehlen, weil sich dank der niedrigen Zinsen mit Immobilien und Aktien mit begrenztem Risiko viel Geld verdienen lässt. Zukunftsbranchen können deshalb gar nicht entstehen und der nötige Strukturwandel wird verschleppt. Die OECD-Experten fordern deshalb einen „Prozess kreativer Zerstörung“, bei dem nicht mehr wettbewerbsfähige Unternehmen sich vom Markt verabschieden. Schmerzhafter Anpassungsprozess statt großzügiger Geldpolitik, die das Gefühl vermitteln, dass alles in Ordnung ist – so lautet das Rezept der OECD.

Dies fordert auch William White, der frühere Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ): „Wir sollten erkennen, dass der Boom das Problem ist, nicht der Bust. Bereinigungsprozesse sind etwas Gutes, denn mit schöpferischer Zerstörung lenken sie die im Boom fehlgeleiteten Ressourcen in neue Verwendungen – wo sie mehr Wachstum erzeugen. Ist die Geldpolitik erst einmal auf dem falschen Pfad und stemmt sich gegen die Bereinigungskrisen, werden die Ungleichgewichte immer größer. Kommt es dann zum Crash, ist er nicht mehr kontrollierbar.“

Um die globale Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen, muss nach Meinung der OECD zuallererst die Geldpolitik „normalisiert“ werden. Die Entwicklung zu höherer Produktivität, zu mehr Investitionen und robusterem Wachstum werde „überhaupt nicht begünstigt dadurch, dass Geld keine Zinsen abwirft“. Mit anderen Worten: Die Ökonomen der OECD sehen in der Zentralbankpolitik nicht mehr die Lösung, sondern das eigentliche Problem. Konsequenterweise fordern sie deshalb die Rückkehr zu konventioneller Geldpolitik. Damit stehen sie nicht allein.


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