Friedrich Merz: „whatever it takes“
Nach der Bundestagswahl am 23. Februar 2025 vereinbarten die Spitzen von CDU/CSU und SPD, Sondierungsgespräche über die Bildung einer Regierungskoalition zu führen. Das Ergebnis dieser Sondierung veröffentlichten die Beteiligten am 8. März 2025 in einem elfseitigen Papier.
Das Überraschende an dem Sondierungspapier waren nicht die Vorschläge zu den Politikfeldern Wirtschaft, Arbeit und Soziales oder Migration, sondern die Ideen zur Finanzierung einer gemeinsamen Politik, mit denen das Papier beginnt.
Im Wahlkampf hatten die Union und insbesondere Friedrich Merz immer wieder betont, dass der Staat kein Einnahmenproblem, sondern ein Ausgabenproblem habe: Steuereinnahmen von nahezu 900 Milliarden Euro müssten ausreichen, um die Ausgaben von Bund, Ländern und Kommunen zu decken. Gegebenenfalls müssten Ausgaben gekürzt oder umgeschichtet werden. Es gebe deshalb keinen Grund für die Forderung von SPD und Grünen, die grundgesetzliche Schuldenbremse aufzuheben oder aufzuweichen.
In dem Sondierungspapier vom 8. März 2025 heißt es nun aber plötzlich im ersten Kapitel, dass Verteidigungsausgaben (Einzelplan 14 des Haushalts) bei der Schuldenbremse nur in Höhe von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) angerechnet werden, darüberhinausgehende Verteidigungsausgaben aber nicht. Eine solche Grundgesetzänderung kann der Bundestag nur mit einer zweidrittel Mehrheit beschließen, über die eine zukünftige Koalition aus CDU/CSU und SPD allerdings nicht verfügt.
Das ist aber noch nicht alles: Das Sondierungspapier sieht weiter vor, dass ein mit Schulden finanziertes „Sondervermögen Infrastruktur Bund/Länder/Kommunen“ mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro und einer Laufzeit von zehn Jahren geschaffen werden soll. Davon sollen 100 Milliarden Euro den Ländern und Kommunen zur Verfügung stehen. Mit dem Sondervermögen sollen vor allem „Investitionen in die Infrastruktur“ finanziert werden. Weitere Verwendungsmöglichkeiten sind dem Sondierungspapier zufolge „der Zivil- und Bevölkerungsschutz, Verkehrsinfrastruktur, Krankenhaus-Investitionen, Investitionen in die Energieinfrastruktur, in die Bildungs-, Betreuungs- und Wissenschaftsinfrastruktur, in Forschung und Entwicklung und Digitalisierung“. Auch dieses Sondervermögen benötigt eine zweidrittel Mehrheit im Bundestag.
Die Spitzen von Union und SPD müssen sich bemühen, die Fraktion der Grünen im Bundestag für die Änderung der Schuldenbremse und für das Sondervermögen zu gewinnen, um die zweidrittel Mehrheit für die Beschlüsse im Bundestag sicherzustellen. Die Beschlussfassung soll noch im alten Bundestag erfolgen, weil die erforderliche zweidrittel Mehrheit im neuen Bundestag nur noch mit Hilfe der AfD zustande kommen könnte.
Ein ökonomischer Husarenstreich
Für die Öffentlichkeit kamen die Finanzierungsvorschläge der Sondierungskommission völlig überraschend: Plötzlich standen neue öffentliche Schulden für die Bundeswehr in Höhe von 400 Milliarden Euro und für die Infrastruktur in Höhe von 500 Milliarden Euro im Raum. Eine Neuverschuldung in dieser Höhe hatte es in der deutschen Nachkriegsgeschichte noch nicht gegeben. Für das Selbstverständnis der Union war das ein Paradigmenwechsel, der bis in die CDU/CSU-Fraktion hinein für Unruhe sorgte.
Es stellt sich deshalb die Frage, was die Sondierungsführer der Union und SPD veranlaßte, sich noch vor Beginn der eigentlichen Koalitionsverhandlungen über neue Schulden im XXL-Format zu verständigen. Die Antwort auf diese Frage findet sich in einem Artikel des Handelsblatts vom 7.3.2025:
Nach diesem Bericht sind die Finanzierungsideen nicht von den Sondierungsführern, sondern von einer kleinen Gruppe bekannter Ökonomen erarbeitet und den Sondierungsführern übermittelt worden. Im Einzelnen stellt sich der Ablauf dieses Vorgangs, der einem Husarenstreich gleicht, wie folgt dar:
Initiator des Vorhabens war der saarländische Finanzminister Jakob von Weizsäcker (SPD), der zusammen mit dem Düsseldorfer Wirtschaftsprofessor Jens Südekum (SPD) eine kleine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern zusammengestellt hatte, um Ideen für eine Reform der Schuldenbremse und für höhere Verteidigungsausgaben zu entwickeln.
Zu diesem Quartett gehörten
• neben Jens Südekum, der einen kurzen Draht zur SPD hat und ein Gegner der Schuldenbremse ist,
• der IW-Direktor Michael Hüther, der sich mehrfach für das Aussetzen der Schuldenbremse ausgesprochen hat,
• der IfW-Chef Moritz Schularick, der eine weitere Verschuldung angesichts einer Schuldenquote von 60 Prozent des BIP für unproblematisch hält,
• und der Ifo-Präsident Clemens Fuest, der schon die aktuelle Staatsverschuldung kritisch sieht.
Die vier Ökonomen diskutierten zunächst eine Reform der Schuldenbremse, schlossen diesen Weg aber als zu komplex aus. So blieb nur die Möglichkeit eines Sondervermögens. Ein Extrabudget für die Bundeswehr trugen alle mit, auch Fuest.
Schon während der Sondierungen zwischen CDU/CSU und SPD wurde das Ökonomen-Quartett über die Verhandlungsposition der SPD informiert: Die Sozialdemokraten würden ein Sondervermögen für die Bundeswehr nur dann mittragen, wenn neben der Finanzierung von Investitionen in die Infrastruktur noch weitere Ausgaben finanziert werden könnten.
Fuest sah ein Sondervermögen mit solchen Möglichkeiten der Finanzierung kritisch. Angesichts der dramatischen internationalen Sicherheitslage ließ er sich aber umstimmen. „Ohne dieses Zugeständnis hätte die SPD höhere Verteidigungsausgaben blockiert“, sagte Fuest später dem Handelsblatt.
Das gemeinsame Papier mit den Finanzierungvorschlägen für die Bundeswehr und für Investitionsausgaben wurde dann getrennt an die Sondierungsführer von CDU/ CSU und SPD geschickt. Das führte zu einem Umdenken in der Union: Sie war mit den von Fuest abgesegneten Vorschlägen einverstanden und brachte sie zur Überraschung der SPD-Verhandlungsführer als eigene Vorschläge in die Sondierungsgespräche ein.
Am Dienstag, dem 11. März 2025 um 19 Uhr, traten die Parteichefs von Union und SPD dann vor die Presse und verkündeten ihren Kompromiss. Das Endergebnis entsprach zwar nicht ganz den Vorschlägen der Ökonomen, diese trugen aber maßgeblich dazu bei, dass sich die Stimmung unter den Verhandlungsführern aufhellte. Friedrich Merz entschloss sich mit dem Satz „whatever it takes“, ein gigantisches Schuldenpaket zu schnüren, um die Bundeswehr zu stärken und Investitionen zu tätigen.
In der Tischvorlage für die Sondierungsgespräche, die die Arbeit der vier Ökonomen zusammenfasste, wurden alle vier Ökonomen namentlich genannt. Clemens Fuest wurde dafür später in Teilen der Union scharf kritisiert, weil er sich in dem Papier als liberaler Ökonom für hohe Schulden ausspricht. Er habe sich zum „nützlichen Idioten“ der SPD machen lassen, schimpfte etwa ein Parlamentarier der Union. Fuest sah sich deshalb veranlasst, sich teilweise von dem Papier zu distanzieren und Korrekturen zu fordern. „Da muss die Politik noch mal nacharbeiten“, sagte er. Besonders problematisch sei, dass Schulden auch für laufende Ausgaben genutzt werden könnten.
Bundeswehr und Infrastruktur
Die Bedeutung des gemeinsamen Papiers der vier Ökonomen liegt darin, dass es sich mit den zwei wichtigsten Aufgaben der nächsten Legislaturperiode beschäftigt - der Um- und Aufrüstung der Bundeswehr und der Belebung der Wirtschaft - und dafür realistische Lösungsvorschläge macht:
Es gibt einen breiten Konsens, dass die seit vielen Jahren vernachlässigte Bundeswehr um- und aufgerüstet werden muss, damit sie ihrer Aufgabe, Deutschland im Kriegsfall zu verteidigen, genügen kann. Außerdem will eine große Mehrheit, dass die daniederliegende Wirtschaft wieder aufgerichtet und auf Wachstum getrimmt werden muss, damit der private Wohlstand nicht verloren geht und der Staat seine vielfältigen Aufgaben erfüllen kann.
Beide Aufgaben sind dringlich und erfordern erhebliche Finanzmittel. Es ist deshalb notwendig und wäre kluge Politik, sich bereits zu Beginn der neuen Legislaturperiode mit der Finanzierung dieser Aufgaben zu beschäftigen.
Dass die Bundeswehr auf- und umgerüstet werden muss, folgt aus dem Einfall der russischen Armee in die Ukraine, aus den Aufrüstungsplänen Russlands und den imperialistischen Plänen des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dem steht die NATO als Verteidigungsbündnis für Europa gegenüber, dessen Einsatzbereitschaft nach der Wahl von Donald Trump als US-Präsident nur noch schwer einzuschätzen ist.
Die Bundeswehr ist in ihrem heutigen Zustand nicht in der Lage, Deutschland militärisch gegen das hoch gerüstete Russland zu schützen. Dafür gibt es mehrere Gründe: Deutschland hat sich in den internationalen Verträgen zur deutschen Einigung verpflichtet, auf ABC-Waffen zu verzichteten und die deutschen Streitkräfte auf 370.000 Mann zu reduzieren. Außerdem wurden der Auftrag und die Struktur der Bundeswehr verändert: Nach dem Ende des „kalten Krieges“ wurde aus der Armee zur Landesverteidigung eine Einsatztruppe für internationale Krisenherde. Konsequenterweise folgte dem die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011.
Um die Bundeswehr wieder in die Lage zu versetzen, einen wesentlichen Beitrag zur Landesverteidigung zu leisten, muss sie neu aufgestellt und ausgerüstet werden. Dazu wird auch die Wehrpflicht gehören. Für diesen Wiederaufbau reichen die bisher im Bundeshaushalt vorgesehenen Gelder nicht aus, er muss vielmehr über Kredite finanziert werden. Aus diesem Grund soll die grundgesetzliche Schuldengrenze modifiziert werden: und zwar in der Weise, dass Ausgaben für Verteidigung, die über 1 Prozent des BIP hinausgehen, bei der Schuldengrenze nicht angerechnet werden. Diese Entscheidung ist notwendig und angemessen.
Ebenso wichtig wie die Aufrüstung der Bundeswehr ist die Aufgabe der Politik, die Wirtschaft mit einer überzeugenden Wirtschaftspolitik auf den Wachstumspfad zurückzuführen. Die Industrie in Deutschland und der deutsche Mittelstand, beide das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, verlieren seit Jahren aufgrund schwacher Produktivitätsentwicklung an internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsperspektive. Darunter leidet der private Wohlstand ebenso wie die Fähigkeit des Bundes, der Länder und Kommunen, die öffentlichen Aufgaben ordnungsgemäß zu erledigen.
Das kreditfinanzierte Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro, wie es die vier Ökonomen vorgeschlagen haben, soll dazu dienen, Investitionen zu ermöglichen, mit denen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft wieder hergestellt wird. Dazu gehören in erster Linie Investitionen in die vernachlässigte öffentliche Infrastruktur.
Das Geld ist gut angelegt, wenn es nicht für konsumtive Zwecke, sondern nur für eindeutig investive Zwecke verwendet wird. Investiv heißt wirtschaftlich, dass durch die jeweilige Investition im Laufe der Zeit ein Anstieg des Bruttosozialprodukts (BIP) bewirkt wird. Klimaschutzmaßnahmen haben z.B. einen solchen Effekt nur, wenn sie neben der Reduzierung klimaschädlicher Gase auch einen Beitrag zur Steigerung des BIP leisten.