Roland Koch, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V.
Sozialstaat und Leistungsgesellschaft – eine Herausforderung
Die Soziale Marktwirtschaft wurde auch deshalb zum Erfolg, weil sie aus den Erfahrungen der Weimarer Republik gelernt hat. Sie kombinierte die freie Steuerung der Güterproduktion und ihrer Verteilung mit sozialer Sicherheit. Diese ausgewogene Kombination war und ist ein entscheidender Faktor ihres Erfolgs. Leistung wurde belohnt, während die ständige Angst vor existenziellen Risiken gemindert wurde. Diese Balance ist trotz aller aktuellen Radikalisierungen eine Gewähr für stabile politische Verhältnisse, die wir nicht nur in den USA derzeit nicht mehr sehen.
In diesen Tagen wird wieder einmal mit einem kurzen Aufbrausen der medialen Empörung über die mögliche Wirkung von Karenztagen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall diskutiert. Helmut Kohl hat mit diesem Vorschlag schon 1996 schlechte Erfahrungen gemacht, denn jede gesetzliche Regelung dieser Art kann tarifvertraglich umgangen werden. In diesem Fall lohnt sich der Streit kaum.
Ist die Prämie für mehr Engagement hoch genug?
Aber die Diskussion wirft ein Licht auf ein weit tieferliegendes Problem. Unsere sozialen Systeme sind so betont fürsorglich, dass sie die Prämie für mehr Engagement und bessere Leistung in der Erwerbsarbeit mehr und mehr marginalisieren. Einerseits kann man sich am Arbeitsplatz viel leisten, andererseits wird zusätzliche und kräftezehrende Arbeit netto fast nicht honoriert. Wenn man sich den gesamten Befund ansieht, ist es verständlich, dass die Minderheit, die diese Rahmenbedingungen zur egoistischen Ausbeutung der Sozialsysteme nutzt, größer wird. Das wiederum wird dann häufiger bemerkt und führt zur Frustration der immer noch leistungsorientierten Mehrheit.
Soziale Sicherung ist Schutz und Verlockung zugleich
Werfen wir einen genaueren Blick auf die Details der beiden Phänomene. Die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren ist ein Angebot, dessen Ablehnung häufig als „Dummheit“ ausgelegt wird, da es zwar der Volkswirtschaft, aber kaum dem eigenen Geldbeutel hilft.
Die unterlassene Prüfung der Vermögenslage bei der Zahlung von Bürgergeld und die sehr seltene praktizierte Kürzung der Mittel trotz Vermeidung einer neuen Arbeit lädt zu einer Verlängerung der Arbeitslosigkeit ein, denn der eigene Nachteil ist gering, während bei vielfachem Missbrauch der volkswirtschaftliche Schaden wiederum groß ist.
Die Chance, mit einem Telefonanruf eine zwei- oder dreitägige Auszeit bei der Arbeit ohne jeden Nachteil zu erlangen, führt immer wieder angesichts anderer Herausforderungen in der Familie oder der Freizeitgestaltung zu einer offensichtlichen Verlockung.
Die Inanspruchnahme eines Arztes ist in Deutschland intensiver als überall sonst, und der Satz, dass man ja in diesem Quartal von seinem „Recht“ zum Arztbesuch noch gar nicht Gebrauch gemacht habe, ist mit Sicherheit vielen schon einmal untergekommen.
Oft wird zusätzliche Leistung nicht belohnt
Auch die andere Seite der Medaille ist nicht hilfreich zum Erreichen der größtmöglichen volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Das Münchner IFO-Institut hat gezeigt, dass eine vierköpfige Familie in München, die ihr Einkommen von 3.000 auf 5.000 Euro erhöhen möchte, dann über 95 Prozent Abzüge in Form von Steuern und Abgaben sowie den Verlust von Sozialtransfers hinnehmen muss. Da bleiben netto weniger als 100 Euro übrig. In dieser Einkommensgruppe finden sich gut ein Drittel aller Beschäftigten. Grund für diese demotivierende Situation ist insbesondere die „Transferentzugsrate“. Das Wohngeld zum Beispiel würde bei dieser zusätzlichen Leistungsbereitschaft wegfallen, und in einer Stadt wie München spart die Stadt zwar 1.000 Euro Wohngeld, aber die Arbeitnehmer haben „umsonst“ gearbeitet.
Deshalb muss man auch immer wieder betonen, dass die Problematik des derzeitigen Bürgergeldes im Zusammenwirken der verschiedenen Sozialleistungen liegt, deren Verlust durch Mehrleistung von vielen als Provokation betrachtet wird.
Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit muss das Ziel von allen sein
Mir persönlich und, ich denke, auch vielen von Ihnen, fällt es schwer, bei den meisten dieser Regelungen isoliert einen großen Fehler zu erkennen. Schutz bei Krankheit, Hilfe bei der Wohnungsmiete oder die Chance, den aktiven Lebensabschnitt früher zu beginnen, das alles trägt doch zu einem guten Leben bei. Aber wir müssen uns mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass unter dem Strich unsere Arbeitsstunden, unsere Arbeitsproduktivität, unsere außergewöhnlichen Kraftanstrengungen und unsere Motivation zum Leistungswettbewerb aktuell nicht mehr ausreichen, unseren Wohlstand und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Wenn wir das ändern wollen, müssen mit Behutsamkeit und Mitgefühl Korrekturen herbeigeführt werden, die zusätzliche Anstrengung zu etwas Selbstverständlichem machen. Nicht nur weil es der Gemeinschaft hilft, sondern weil man auch persönlich davon profitiert.
Behutsame und entschlossene Korrekturen sind nötig
Wenn eine neue Regierung ihr Programm entwickelt, muss die Kreativität hier beginnen. Zugleich ist die Gesamtschau dieser sehr unterschiedlichen Aspekte aber auch ein guter Raum für Kompromisse. Man muss nicht alle Fehlanreize gleichzeitig adressieren, aber man darf eben auch nicht alle ignorieren. Manche Regelung könnte vielleicht aus den Gesetzen verschwinden und wieder in die Hände der Tarifvertragsparteien gelegt werden. Möglicherweise wäre es Arbeitnehmern und Arbeitgebern wieder wichtiger, diese Organisationen durch ihre Mitgliedschaft zu stärken, weil eben der Gesetzgeber nicht mehr das Geschäft der Tarifpartner betreibt. Manche Anreize müssen vielleicht zusätzlich gesetzt werden. Die Abgabenbefreiung von Überstunden oder von Erwerbsarbeit jenseits der traditionellen Altersgrenze können hilfreiche Anreize schaffen. Wahrscheinlich werden wir auf Dauer auch um irgendeine Form der Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen nicht herumkommen, auch wenn da sicher noch einige Jahre und Debatten vor uns liegen.
Deutschland ist kein Land der Revolutionen. Die Soziale Marktwirtschaft ist keine starre Ordnung. Ihre Begründer sahen in ihr eine „irenische Formel“ als Beschreibung ihrer Anpassungsfähigkeit. Aber all dies erfordert gesellschaftliche Lernfähigkeit einerseits und gesellschaftliche Entschlossenheit zu Leistung, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit andererseits. Die Debatten dieser Wochen gehen auch um die Frage, ob wir das hinbekommen.