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Europäische Krisen : Brexit - Eine Alarmglocke!
20.06.2016 00:19 (3441 x gelesen)

Brexit - Eine Alarmglocke!

Die Briten haben sich am 23. Juni 2016 in einem Referendum mit knapper Mehrheit für den Austritt auf der Europäischen Union (EU) ausgesprochen. Dies ist nicht das Ende der EU, aber eine Alarmglocke für alle Europäer. Mit ihrer Entscheidung für „Leave“ statt „Remain“  haben die Briten den Europäern gesagt, dass eine Mitgliedschaft in der EU für sie nicht mehr attraktiv ist.

Darauf war die Europäische Union in keiner Weise vorbereitet, so dass sich viele Fragen stellen. Wie soll man auf das Votum der Briten reagieren? Soll man die Briten für ihre Entscheidung bestrafen und die Verbindungen kappen? Oder liegt es im Interesse der EU, den Briten Brücken zu bauen und mit ihnen zu kooperieren? 

Gleichzeitig muss sich die Europäische Union aber auch selbst fragen, wohin ihre Reise gehen soll? Die südlichen Mitgliedsländer wollen zusammen mit der EU-Kommission rasch Schritte zur weiteren Vertiefung der EU und zu mehr Supranationalität auf den Weg bringen, um die Union handlungsfähiger zu machen. Dies halten nördliche und die östlichen Mitgliedsländer für den grundsätzlich falschen Weg, wobei sie auf den Brexit verweisen. Sie plädieren stattdessen dafür, den Prozess zu einer immer stärkeren Union zu stoppen und den Mitgliedstaaten Kompetenzen zurückgeben. Dieser Streit spaltet Europa. 


 
 
 
 
 
 

    
  

 

  

 

Reaktionen nach dem Brexit

Das Ziel des britischen Premiers David Cameron war es, die Zuständigkeiten der EU zu begrenzen, um seine Landsleute zu überzeugen, Mitglied der EU zu bleiben. Bei den Verhandlungen mit der EU-Kommission im Februar 2016 verständigte man sich dahin, dass Großbritannien Sozialleistungen für Immigranten kürzen dürfe, um den Sozialtourismus zu begrenzen. Zudem verpflichteten sich die Euro-Staaten, Großbritannien bei ihren Entscheidungen nicht zu benachteiligen. Und schließlich erreichte David Cameron, dass die Briten  nicht zu einer weiteren politischen Integration verpflichtet sind. Zu größeren Zugeständnissen waren die EU-Mitglieder allerdings nicht bereit.

Die vereinbarten Reformschritte sollten nur bei einem Verbleib von Großbritannien in der EU gelten. Entscheiden sich die Briten für den Austritt, haben sich die Verhandlungsergebnisse erledigt. Stattdessen beginnt das Austrittsverfahren, wie es der Vertrag von Lissabon in Artikel 50 regelt. Es soll nach zwei Jahren abgeschlossen sein. Bis dahin bleibt Großbritannien normales EU-Mitglied mit allen Rechten und Pflichten. Die Abgeordneten behalten ihr Mandat und die Beamten ihr Amt.

Deutlich schwieriger und langwieriger dürften sich nach der Entscheidung für den Austritt die Verhandlungen über die zukünftigen Handelsbeziehungen zwischen  Großbritannien und der EU gestalten. Diverse Szenarien sind denkbar: Großbritannien könnte nach dem Vorbild Norwegens dem sogenannten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) beitreten. Es könnte auch nach dem Schweizer Vorbild einen individuellen Handelsvertrag mit der EU anstreben. Die entscheidende Frage wird dabei sein, ob Großbritannien bereit ist, die innerhalb der EU für Arbeitnehmer geltende Freizügigkeit anzuerkennen. Eine weitere Alternative wäre eine Zollunion, wie sie die Türkei mit der EU unterhält. Möglich ist auch, dass die Briten in Zukunft nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO mit der EU Handel betreiben.

Die konservative britische Regierung ist zerstritten in der Frage, wie die Handelsbeziehungen des Königsreichs zu seinen europäischen Nachbarn nach den EU-Austritt aussehen sollen. Manche Minister wie der Schatzkanzler Philip Hammond plädieren dafür, Großbritannien solle im eigenen wirtschaftlichen Interesse nach dem Brexit dem Binnenmarkt und der Zollunion der EU möglichst eng verbunden bleiben. Die Gegenseite, voran Außenminister Boris Johnson, argumentiert, Großbritannien dürfe nach dem Brexit nicht zum "Vasallenstaat" der EU werden und müsse sich deshalb konsequent von deren Regelwerk lösen. Zugleich wird jedoch ein zollfreier und ungehinderter Handel mit den europäischen Nachbarn gefordert. Der Konflikt droht zur Zerreißprobe für die Minderheitsregierung zu werden.

Die britische Premierministerin, Theresa May, steht in ihrem Kabinett zwischen den Fronten - wo genau ist unklar.Sie hat angekündigt, das Land werde beim Brexit den Binnenmarkt und die Zollunion der EU verlassen. Nur so kann sie drei Kernversprechen der Brexit-Bewegung einlösen: Erstens die Beendigung der freien Einwanderung, zweitens die Loslösung des Landes von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und drittens das selbständie Aushandeln neuer Freihandelsverträge. Damit reagiert sie auf Position der EU, wonach ein freier Zugang zum Binnenmarkt voraussetzt, dass Großbritannien auf Einwanderungsbeschränkungen gegen EU-Bürger verzichtet.

Unabhängig von solchen Überlegungen kursierten im Europäischen Parlament Pläne, das Tempo der europäischen Integration zu erhöhen. „Wenn wir es nicht schaffen, die Union insgesamt oder in Teilen weiterzuentwickeln, werden wir das Vertrauen der Gutwilligen verlieren“, sagte Knut Fleckenstein, Fraktionsvize der Sozialdemokraten. Zusammen mit dem linken  CDU-Politiker Elmar Brok und dem Liberalen Guy Verhofstadt forderte er, die Steuersysteme anzugleichen, Institutionen für eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu schaffen und einen Europäischen Währungsfonds einzurichten. Unterstützung bekamen diese "Supranationalisten" von Martin Schulz, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments: "Wir werden nicht umhinkommen, die Europäische Kommission künftig zu einer echten europäischen Regierung umzubauen, einer Regierung, die der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vetretern der Mitgliedstaaten, unterworfen wird. Diese Struktur, die die Menschen aus ihren Heimatländern kennen, wird politische Verantwortlichkeit auf der EU-Ebene transparenter machen."

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte angesichts der Stimmungslage nach der britischen Brexit-Entscheidung vor solchen Plänen. „Wir dürfen nicht mit Aktionismus reagieren“, sagte er. Eine Neuverhandlung der bestehenden Verträge entspreche „nicht den Neigungen der Mitgliedstaaten“. Es sei derzeit deshalb nicht realistisch, auf eine Vertiefung der Euro-Zone zu dringen – das würde die 27 Mitglieder spalten. In gleicher Weise sprach sich Bundeskanzlerin Angela Merkel anfangs für eine „Reflexionspause“ aus, wozu das von Frank-Walter Steinmeier (SPD) geführte Auswärtigen Amt erklärte: „Eine Reflexionsphase einzulegen bedeutet, den Desintegrationisten das Feld zu überlassen. Das wäre unpolitisch, ja abenteuerlich“.

Innerhalb der CDU setzte sich die Meinung durch, dass der "integrationistische Kurs" grundsätzlich nicht infrage gestellt werden dürfe, man müsse aber die Methode ändern. Wolfgang Schäuble sagte der Zeitung "Welt am Sonntag": "Im Grundsatz bin ich eine Anhänger der Vertiefung. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit. Wir können in Europa in der Lage wachsender Demagogie und tiefer Europaskepsis nicht einfach so weitermachen wie bisher". Dann fügte er hinzu: "Wir müssen jetzt nach vorn schauen. Europa muss sehr schnell den Beweis antreten, das es handlungsfähig ist. Die Europäische Union muss jetzt vor allem bei einigen zentralen Problemen zeigen, dass es diese schnell lösen kann." Hierzu nannte er Projekte wie die Digitalunion, die Energieunion oder die gemeinsame Rüstungsbeschaffung.

Briten als Europäer

Den Briten wird seit jeher von Kontinentaleuropäern der Vorwurf gemacht, sie würden sich nicht eindeutig zu Europa bekennen. Winston Churchill hatte zwar am 19. September 1946 in der Schweiz  gefordert „Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten“. Konsequenzen hatte er daraus für Großbritannien aber nicht gezogen. Schon beim ersten europäischen Projekt, der Montanunion, war das Land nicht dabei. Es gehörte auch nicht zu den Gründern der der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Selbstverständlich war Churchill ein überzeugter Europäer. Das Inselreich konnte aber nicht Mitglied der europäischen Institutionen werden, weil es als damalige Großmacht neben Europa auch dem Commonwealth und der transatlantischen Partnerschaft gegenüber verpflichtet war. Auch die Ablehnung, sich an der Montanunion zu beteiligen, erklärt sich aus besonderen Umständen: Der damalige Labour-Premier Clement Attlee stand unter dem  Druck der Bergarbeiter und ihrer Gewerkschaft, die ihren Einfluss auf die britische Schwerindustrie in Gefahr wähnte. Zudem war die europäische Integration damals in den Augen aller linken Parteien ein christlich-konservatives Projekt, das schon aus parteipolitischen Gründen nicht unterstützt werden durfte. So fuhr der Zug nach Europa zunächst ohne die Briten ab.

Für Großbritannien dauerte es noch mehr als zwei Jahrzehnte, bis das Land 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wurde. Eine besonders aktive Vorkämpferin für den Beitritt des Landes war Margaret Thatcher. „Die Gemeinschaft öffnet uns Fenster in die Welt“, warb sie damals im Unterhaus für den Beitritt. Großbritannien hatte zu dieser Zeit die meisten Kolonien und einen großen Teil seiner industriellen Basis bereits verloren. Verschwunden war auch die Rolle einer Großmacht. Dass die Briten zu Europa standen, beantworteten sie bereits zwei Jahre nach dem Beitritt in einem Referendum zu der Frage: „Glauben Sie, dass das Vereinigte Königreich im Gemeinsamen Markt bleiben sollte?“ -  67 Prozent sprachen sich für einen Verbleib aus, ein überzeugendes Votum für Europa.

Margaret Thatcher regierte Großbritannien von 1979 bis 1990 als radikale Reformerin und glühende Marktwirtschaftlerin. Mit marktwirtschaftlichen Reformen erneuerte sie das Land rundum und machte es zu einem wirtschaftlich starken Partner in Europa. Thatchers Verdienst bestand insbesondere darin, die Macht der Gewerkschaften gebändigt zu haben, indem sie mit gleich fünf Employment Acts die Arbeitsbeziehungen in Großbritannien Schritt für Schritt verrechtlichte und damit dem kontinentaleuropäischen Nachkriegsstandard annäherte.

Im Vereinigten Königreich der 1970er Jahre waren (in Westdeutschländ längst praktizierte) Leitbilder und Regelungsmechanismen wie Sozialpartnerschaft, Urabstimmungen, Friedenspflicht oder Schlichtungsverhandlungen ein Fremdwort. Der Trades Disputes Act aus dem Jahr 1906 verlieh den - streikwütigen - britischen Gewerkschaften rechtliche Immunität, die dazu geführt hatte, dass sich die Trade Unions zu einem politischen Akteur mit weit über Tarifangelegenheiten hinausgehenden, sozialistischem Gestaltungsanspruch entwickelt hatten. Ihre Militanz gehörte zu den zentralen Ursachen für den Abstieg des Vereinigten Königreichs zum "kranken Mann Europas", weil die unentwegten, meist wilden Streiks den Ruf der britischen Wirtschaft ruinierten und weil absurd hohe Tarifabschlüsse eine Lohn-Preis-Spirale mit Inflationsraten von bis zu 25 Prozent in Gang gesetzt hatten. 

Während ihrer Regierungszeit von Margareth Thatcher begann jedoch die Europäische Gemeinschaft, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen und in die Märkte zu intervenieren. Dies führte zu Konflikten zwischen London und Brüssel, die Margaret Thatcher 1988 veranlassten, die Europäer in ihrer berühmten Brügge-Rede zu ermahnen: „Zu versuchen, die Nationalstaatlichkeit zu unterdrücken und die Macht im Zentrum eines europäischen Konglomerats zu konzentrieren, wäre höchst schädlich und würde die Ziele, die wir verfolgen, in Frage stellen.“

In gleicher Weise hatte bereits Wilhelm Röpke dreißig Jahre früher gewarnt: „Wenn wir versuchen wollten, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als ein Verrat an Europa.“ Margaret Thatcher und  Wilhelm Röpke waren überzeugte Europäer. Sie lehnten es aber ab, die europäische Integration supranationalen Behörden zu überlassen. Ihnen schwebte ein marktwirtschaftlich organisiertes Europa vor, das die Einheit in der Vielfalt suchte.  Dazu bedurfte es gemeinsamer  Spielregeln, aber keiner zentralistischen Organisation.

Die eigentliche Ursache des Brexit ist darin zu sehen, dass die verantwortlichen Europäer diese Warnungen missachtet und Europa zentralistisch organisiert haben. Die Befürworter des "Leave" haben sich vor allem an drei Dingen gestoßen: der Zuwanderung von Ausländern, den finanziellen Kosten der EU-Mitgliedschaft und dem Verlust der nationalen Souveränität. Bei der Zuwanderung ging es weniger um die Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze als um die Verteilung  der Sozialleistungen, insbesondere die Inanspruchnahme der staatlichen Gesundheitsfürsorge durch Ausländer. In der Debatte um die Kosten der Mitgliedschaft wurden vornehmlich die EU-Transfers an ausländische Empfänger im Rahmen der "europäischen Solidarität" gerügt. Und hinter der Klage über den Verlust an nationaler Souveränität standen konkrete Beschwerden über die zunehmende Begrenzung des britischen Parlaments in wirtschafts-, sozial- und fiskalischen Angelegenheiten duch EU-Vorgaben.

Die europäische Idee und der Nutzen aus dem europäischen Binnenmarkt für Großbritannien wurden von den EU-Gegnern nicht in Frage gestellt. Es waren vielmehr die genannten konkreten Schwachstellen, die eine Mehrheit der Briten veranlasst haben, für den Brexit zu stimmen. Insofern unterscheiden sich die Briten auch nicht grundlegend von der Stimmungslage in anderen Mitgliedsländern. "Migration ist in allen Ländern ein drückendes Thema, Umverteilung kommt nur in den Empfängerländern gut an, und Souveränitätsverlust wird als schmerzlich empfunden", schreibt Thomas Mayer in der FAS vom 26. Juni 2016.

Die Brexit-Verhandlungen

Maßgebliche Europapolitiker forderten nach dem Brexit, mit Großbritannien müssten zur Abschreckung harte Austrittsverhandlungen geführt werden. Vor allem dürfe es keine "Rosinenpickerei" der Art geben, dass Großbritannien Mitglied einer Gemeinschaft mit freiem Güter- und Kapitalverkehr bleibe, aber die Arbeitnehmerfreizügigkeit für sich ausschließe.

Eine solche Verhandlungsstrategie wäre ein Armutszeugnis für die Europäische Union. Ein Wirtschaftsgemeinschaft ist für ihre Mitglieder nur attraktiv, wenn sie ihnen Vorteile bietet und Chancen eröffnet, die ihrer Natur nach nur gemeinschaftlich zu erreichen sind, nicht aber dadurch, dass bei einem Austritt harte Sanktionen drohen. Schief ist auch das Bild, den freien Güter- und Kapitalverkehr als "Rosinen" und die Arbeitnehmerfreizügigkeit als die dafür zu schluckende Kröte zu bezeichnen. Wer so argumentiert, erweist dem Integrationsgedanken einen Bärendienst. Zudem sollte man wissen, dass es zwischen freiem Arbeitsmarktzugang und dem übrigen Binnenmarkt ökonomisch keinen zwingenden Zusammenhang gibt.

Die EU ist gegründet worden und existiert, weil sie mit den vier Grundfreiheiten die wohlverstandenen Interessen ihrer Mitglieder wahrnimmt. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit, die jedem EU-Bürger die Möglichkeit gibt, seine berufliche Wirkungsstätte innerhalb der EU frei wählen zu können. Dabei darf man aber die negativen Seiten dieser Freiheit nicht übersehen, wie der Fall Großbritannien zeigt. Dort haben vor allem jene für den EU-Austritt gestimmt, die sich als Verlierer der Arbeitnehmerfreizügigkeit betrachten, sei es durch Konkurrenz, niedrigere Löhne oder höhere Mieten. Stefan Kooths zieht daraus den Schluss:."Dieses Votum spricht dagegen, die freie Arbeitsmigration auf Biegen und Brechen herbei verhandeln zu wollen - es würde nur dazu führen, hinter sonst mögliche Kooperationsergebnisse zurückzufallen" (FAZ vom 19. September 2016).

Existentiell für die EU ist etwas anderes: Die Briten haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt, weil sie der zunehmenden Zentralisierung innerhalb der EU und der damit einhergehenden Aushöhlung der nationalen Souveränität überdrüssig geworden sind. Der tiefere Grund dafür ist in der Missachtung und Verletzung des in Artikel 5 Absatz 2 EU-Vertrag verankerten Subsidiaritätsprinzips zu sehen, das einen Grundpfeiler der EU-Architektur darstellt.  "Es stabilisiert die Gemeinschaft, weil so dem anderenfalls zutreffenden Eindruck vorgebeugt wird, in Brüssel würden Dinge entschieden, die sich eben so gut oder besser auf nationaler Ebene behandeln ließen", schreibt Stefan Kooths.

Für den Bestand und die Stabilität der EU reicht es nicht mehr aus, das Subsidiaritätsprinzip in Sonntagsreden zu preisen, aber danach alles beim Alten zu lassen. Dem Brexit würden dann zwangsläufig irgendwann weitere Austritte von EU-Mitgliedern folgen. Wenn dies verhindert werden soll, muss die EU ihr Ziel der "immer engeren Union durch Übertragung von Souveränitätsrechten" aufgeben und sich auf die Förderung der wohlverstandenen Gemeinschaftsinteressen ihrer Mitglieder konzentrieren. Im Zusammenhang mit den Brexit-Verhandlungen könnte die EU-Kommission damit beginnen.

Die nationalen Parlamente müssen die Herren über die EU-Institutionen bleiben. In den Mittelpunkt der europäischen Politik müssen wieder die Zollunion und der Binnenmarkt rücken. Sie haben allen Mitgliedsländern große wirtschaftliche Vorteile gebracht und die Europäer können sich damit identifizieren. Das legitimiert auch die Übertragung von Kompetenzen an die EU-Kommisson und das Europäische Parlament. "Nur wo die EU mehr Freiheit und Wohlstand bringt, wird sie durch ´mehr Europa´ stärker. Ansonsten wird sie durch ´mehr Europa´ zugrunde gehen", schreibt Thomas Maier.

Noch konsequenter beschreibt Thilo Sarrazin in einem FAZ-Beitrag die Lehren, die aus der Brexit-Entscheidung zu ziehen sind:

•Der größte Erfolg der EU ist der gemeinsame Markt mit den Säulen der Zollunion und des Wettbewerbsrechts.
•Dazu rechnet auch der einheitliche Wirtschaftsraum (EWR) mit dem Ziel, nicht-tariffäre Handelsschranken abzubauen und technische Normen sowie Zulassungsvorschriften zu vereinheitlichen. Die Normung von Gurkengrößen, das Verbot von Glühbirnen und die Begrenzung von Wattstärken für Staubsauger sind aber Beispiele für das Fehlen des richtigen Maßes.

Die folgenden Projekte hält Sarrazin für europäische Irrwege, die die Zukunft der EU gefährden:

• Die Verknüpfung des einheitlichen Wirtschaftsraums (EWR) mit einer unbeschränkten Personenfreizügigkeit. Denn das Einreise- und Aufenthaltsrecht ist der Kernbereich staatlicher Souveränität. Großbritannien wird austreten, weil die EU dies missachtet hat.
•Der Schengen-Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen konnte nicht erfolgreich sein, weil wesentliche Voraussetzungen fehlten: Eine europäische Grenzpolizei und ein einheitliches Einwanderungs-, Asyl-, Aufenthalts- und Sozialrecht. Werden diese Voraussetzungen nicht geschaffen, wird die Rückkehr zu einem nationalen Grenzregime unvermeidlich sein.
•Die Europäische Währungsunion musste nach Auffassung von Sarrazin scheitern, weil es keine europäische Staatlichkeit gibt. Die im Maastricht-Vertrag eingebauten Sicherungen wurden in dem Augenblick aufgegeben, in dem sie sich erstmals bewähren mussten. Seit sechs Jahren wird der Währungsraum mehr und mehr eine Haftungsgemeinschaft, wie sie Frankreich und Italien schon immer angestrebt hatten. Dies kann keine deutsche Regierung auf Dauer aushalten, wenn sie ihre Wiederwahl nicht gefährden will.
•Auch die von der EU betrieben Umverteilung aus europäischen Kassen hält Sarrazin für eine falsche Politik. Solche Zahlungen haben in keinem Land der EU nachhaltig zum wirtschaftlichen Erfog beigetragen. Die Regionen mit den höchsten Zuflüssen europäischer Gelder gehören auch heute noch zu den ärmsten Regionen der EU, etwa Andalusien, Süditalien oder Griechenland. Sarrazin fordert deshalb die strikte Begrenzung solcher Transfers.

Veränderte Machtverhältnisse

In Brüssel und den südlichen EU-Mitgliedsstaaten gibt es starke Befürworter eines britischen Austritts aus der EU. Die Briten gelten als Bremser auf dem Weg in eine immer engere Union, weil ihr Interesse vornehmlich auf den gemeinsamen Markt gerichtet ist. Sie weigerten sich, den Euro einzuführen, dem Schengenabkommen beizutreten und den europäischen Institutionen weitere Kompetenzen zu übertragen. Die Briten gehören im Unterschied zu den südlichen Peripherieländern zu den marktwirtschaftlich und freihändlerisch orientierten EU-Mitgliedern.

Demgegenüber haben die EU-Kommission und die südeuropäischen Regierungen eine eher protektionistische und verteilungsorientierte Vorstellung von einem zukünftigen Europa. Sie fordern die Vollendung der Bankenunion, eine europäischen Finanz- und Wirtschaftsregierung sowie eine europäische Arbeitslosenversicherung. Derzeit scheitern solche Projekte zur Vertiefung der EU an den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Rat.

Sobald der Austritt Großbritanniens vollzogen ist, verschiebt sich jedoch das bisherige Kräfteverhältnis im EU-Ministerrat zugunsten jener Länder, die in der EU tendenziell für Umverteilung und Protektionismus stehen. Nach einer Kalkulation der Denkfabrik  „Open Europe“  lassen sich mit den Briten je 38 Prozent der Stimmen im Ministerrat entweder als wirtschaftsliberal oder interventionistisch einstufen, während sich knapp 24 Prozent nicht in eine dieser Kategorien einordnen lassen. Ohne die Briten bekämen die Interventionisten eine deutliche Mehrheit von 39 Prozent gegenüber 26 Prozent der Freihandelsbefürworter.

Nach der geltenden qualifizierten Mehrheitsregel, wonach 55 Prozent aller Länder (derzeit 16 Staaten), die zudem 65 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung stellen, eine Ratsentscheidung treffen können, dürften Deutschland und seine  Partner ohne die Briten keine Sperrminorität mehr zusammenbekommen – mit der Folge, dass sich die wirtschaftspolitische Ausrichtung der EU grundlegend verändern könnte.  „Gerade für deutsche Vertreter einer ordnungspolitischen Wirtschaftsverfassung wäre der Brexit ein schwerer Schlag“, sagte Michael Wohlgemuth von „Open Europe“.

Damit haben sich die Franzosen in einer entscheidenden Frage zur europäischen Integration durchsetzt. Seit den 1950er Jahren war es das Ziel Frankreichs, den Weg der europäischen Einigung zusammen mit Deutschland, aber ohne Großbritannien zu gehen. In diesem Zusammenhang hatte der Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 für Charles de Gaulle eine große Bedeutung. Das Ziel des Vertrages sollte es sein, zwischen Frankreich und Deutschland unter Ausschluss von  Großbritannien eine wirkliche "Europäische Politische Union (EPU)" zu begründen. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch auf dem Weg zur parlamentarischen Ratifizierung in Bonn, als sich die „Atlantiker“ gegenüber den „Gaullisten“ durchsetzten, indem sie die Zielsetzung des Vertrages änderten. De Gaulle war von dieser Entscheidung des Bundestages tief enttäuscht.

Erstaunlicherweise sind die Gaullisten nicht ausgestorben, sondern in Berlin weiterhin aktiv. So schreibt der 88-jährige Klaus von Dohnanyi (SPD) in der FAZ vom 17. Juni 2016, „der Elysée-Vertrag in seinem jetzigen Verständnis ist kein Motor, er bleibt institutionell und in seiner heutigen Praxis jedenfalls ohne Steuerrad“. Eine Führung Europas könne aber „ohne ein geeintes Frankreich und Deutschland“ nicht gelingen. Auch deswegen nicht, weil Großbritannien der Versuchung nicht widerstehen könne, „wie stets in seiner Geschichte, ein europäisches Projekt wirklicher Einigung des Kontinents zu blockieren“.

Klaus von Dohnanyi meint, Widerstände gegen eine französisch-deutsche Führung müssten in Kauf genommen werden. „Es wird heftige europäische Stimmen gegen einen Alleingang Frankreichs und Deutschlands geben – da muss Europa durch! Denn es hat in der Geschichte niemals einen erfolgreichen, auch lockeren, föderalen Zusammenschluss historisch und sprachlich verschiedener Staaten gegeben ohne einen Hegemon.“ Er fordert „eine neue Debatte um eine wirkliche deutsch-französische politische Union“, mit konkreten Ansätzen und klaren Schritten. Erste Ziele könnten gemeinsame französisch-deutsche Staatsanleihen oder  ein französisch-deutsches Wirtschaftskabinett sein. „Allerdings müsste dies auch von beiden Seiten als der Anfang einer im Ziel wirklichen politischen Union verstanden werden.“

Rückkehr zur Stabilität

Unter heutigen Europa-Politikern kursiert die Meinung, dass nationalstaatliches Denken weitgehend der Vergangenheit angehört und die heutigen Probleme vorrangig auf europäischer oder globaler Ebene angegangen werden müssten. Dementsprechend wird auch die Zukunft der nationalstaatlichen Souveränität infrage gestellt. Infolge der Globalisierung  und der Herausbildung großer Wirtschaftsräume seien die europäischen Staaten mehr oder weniger gezwungen, sich zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“ zusammenzuschließen, wenn sie nicht bedeutungslos werden wollten. Prominente Politiker in Deutschland sprechen in diesem Zusammenhang von „postnationalen Konstellationen“, in denen sich Regierungen und gesellschaftliche Institutionen befänden. Hierauf könne nur mit supranationalen Organisationen wie der Europäischen Union (EU) reagiert werden. Eine solche Politik sei alternativlos.

Die Briten haben mit dem Referendum für den EU-Austritt mehrheitlich entschieden, dass sie von solchen supranationalen Ideen der Europa-Politiker wenig halten. Für den Ausgang des  Referendums war neben vielen anderen Gründen der politische Wille entscheidend, die „britische Souveränität“ im Verhältnis zu den EU-Institutionen wiederherzustellen. Die Briten wollen mehrheitlich „Herr im eigenen Haus“ bleiben. „Hinter dem gegenwärtigen Aufruhr lauert ein verzweifeltes Bedürfnis nach nationaler Identität“, schrieb der Londoner „Guardian“. Dieses Bedürfnis ist keineswegs auf Großbritannien beschränkt, sondern hat sich über ganz Europa verbreitet.

In Brüssel herrscht deshalb die Befürchtung, dass das britische Beispiel Schule machen könnte, zu bestimmten EU-Projekten Volksabstimmungen durchzuführen: So wird es in Ungarn ein Referendum zu den Flüchtlingsquoten der EU geben. In den Niederlanden hat sich eine Mehrheit nach Umfragen für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft ausgesprochen. In Österreich hat die rechte FPÖ ein EU-Referendum für den Fall angekündigt, dass die EU weiterhin reformunfähig ist. Ebenso fordert die rechte Dansk Folkeparti für Dänemark ein Referendum über einen EU-Austritt. In Frankreich sagte Marine Le Pen, Chefin der starken Front National, nach dem britischen Votum:  „Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU.“ Es geht also längst nicht mehr nur um Großbritannien. Die Europäische Union steht insgesamt auf dem Prüfstand.

"Die Europäische Union ist ein historisches Experiment darüber, ob gegen den internationalen Trend nationaler Vielfalt ein Staatenbund mit Tendenz zum Bundesstaat existenzfähig sein wird", schreibt Rainer Hank in der FAS vom 26. Juni 2016.  "Der Anlauf zu einer harmonisierten supranationalen Politik in der Europäischen Union ist historisch die Ausnahme, nicht die Regel, auf den Weg gebracht aufgrund der besonderen Situation nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs." Dies ist eher Wasser auf den Mühlen der EU-Skeptiker, die argumentieren können, dass das 20ste Jahrhundert trotz fortschreitender Globalisierung  nicht durch die Herausbildung neuer Großreiche geprägt war, sondern durch deren Zerfall. Herrmann Lübbe schreibt dazu in der FAZ vom 23. Juni 2016:  „ Es trifft ja zu, dass die Staatenwelt heute dichter als jemals zuvor in Staatsgrenzen überschreitende Institutionen mit großräumigen Zuständigkeiten eingebunden ist. Völkerrechtliche Beziehungen mit wechselseitigen Rechten und Pflichten verdichten sich. Aber mit der Herausbildung neuer Großstaaten ist dieser Prozess gerade nicht verbunden. Ganz im Gegenteil war das zwanzigste Jahrhundert eine Epoche irreversiblen Verfalls staatlich verfasster oder beherrschter Großräume gewesen. Zählt man durch, so ergibt sich nahezu eine Verneunfachung souveräner Nationalstaaten im Verlauf von sieben Jahrzehnten.“

Legt man diese Erfahrungen zugrunde, handelt es sich bei „supranationalen Staatsgebilden“ wie der EU tendenziell um fragile Konstruktionen, die auseinanderfallen können. In ihrer Existenz sind sie davon abhängig, dass sie nach Meinung der Mitgliedsstaaten die ihnen übertragenen Aufgaben effektiv und zum Vorteil ihrer Mitglieder erledigen. Ist dies nicht oder nicht mehr der Fall, verlieren sie sehr schnell an Legitimation und damit ihre Daseinsberechtigung. Ein weiterer Nachteil kommt hinzu: Supranational verfasste Staatenverbünde haben eine starke Tendenz zur Zentralisierung und Gleichschaltung. Damit nehmen sie ihren Mitgliedern die Möglichkeit, Beziehungen untereinander und zu Dritten zum gegenseitigen Nutzen herzustellen. Dies kann zu Spannungen mit der Zentrale  führen und hat generelle Wohlstandsverluste zur Folge, wie man am derzeitigen Zustand der EU gut beobachten kann. Genau "aus dieser rationalen Erkenntnis des Versagens speisen sich Autonomiebewegungen wie das Referendum in Großbritannien", schreibt Rainer Hank.

Für die EU bedeutet dies, dass ungelöste Dauerkrisen und weitere Schritte in Richtung Supranationalität unmittelbar ihre Existenz bedrohen. Welche Lehren können Europa-Politiker daraus für die nach dem Brexit zu treffenden Entscheidungen ziehen? Erstens: Schritte zur weiteren Vertiefung der EU werden Europa nicht stärken, sondern weiter schwächen. Zweitens: Es ist kontraproduktiv, den Trend zur  „Renationalisierung“ pauschal zu negieren oder zu brandmarken. Drittens: Die Rolle der EU muss neu als die eines Dienstleisters für die Mitgliedsstaaten definiert werden. Viertens: Die EU ist in Richtung eines flexiblen Systems verschiedener Integrationskreise weiterzuentwickeln, zwischen denen die Mitgliedstaaten wählen können. Fünftens: Die EU muss ihren Mitgliedern die Freiheit geben, sich innerhalb der vereinbarten Regeln entsprechend ihrer jeweiligen nationalen Identität frei zu entwickeln. Das Motto muss heißen: „Einheit in der Vielfalt".

 
 

 


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