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Mittelstandspolitik : "Der Selbständige verliert an Boden"
30.12.2024 22:06 (88 x gelesen)

„Der Selbständige verliert an Boden“

Interview von Herbert Kremp, Herausgeber der Tageszeitung DIE Welt, und Wilm Herlyn mit dem Soziologen Helmut Schelsky zum Auftakt des CDU-Parteitages 1976 in Hannover:

Zur Zeit des Interviews befand sich die Union in der Opposition, und eine sozial-liberale Koalition aus SPD und FDP stellte ab 1969 den Bundeskanzler, zunächst Willy Brandt und danach ab 1974 Helmut Schmidt. Das Interview wird in den jeweiligen Teilen wiedergegen, die auch heute noch aktuell sind.

WELT:  Sie haben sich in vielen beachteten Beiträgen über die deutschen Parteien und ihre Grundsatzschwäche geäußert. Nun beginnt morgen in Hannover der letzte große CDU-Parteitag vor den Wahlen. Ist die CDU heute schwach oder stark?
Schelsky: Jede der drei großen Parteien hat nach wie vor ihre besondere Grundsatzschwäche, also auch die CDU/CSU. Beide erheben den Anspruch, konservative, soziale und liberale Grundsätze zu verwirklichen. Doch geht man mit den Positionen unterschiedlich um: Die christlich-konservative wird mehr verschwiegen als formuliert, die liberale geht wenig über den Wirtschaftsliberalismus hinaus. Allgemeine Zustimmung findet in dieser Partei offenbar nur das Christlich-Soziale…

WELT:  Aber hat sich die Union in den sieben Jahren der Opposition nicht personell regeneriert?
Schelsky: Da wäre ich doch vorsichtig. Gerade im Personellen sehe ich bei den Unionsparteien wenig Neues. In den sieben Jahren sind nicht viel alte Köpfe verschwunden. Da liegt möglicherweise das einzige oder eines der großen Hindernisse, durchschlagende Wirkung zu erzielen. Die Alten sagen nichts Neues, sie passen sich Strömungen an.

WELT: Was die Sache betrifft, so haben Sie selbst in einem viel beachteten Aufsatz von der Alternative „Mehr Demokratie oder mehr Freiheit“ gesprochen. Nun sagt die CDU „Freiheit statt Sozialismus“. Wird damit die Diskussion eröffnet, die Sie seit Jahren fordern?
Schelsky: Es ist der Opposition tatsächlich gelungen, das Schwergewicht der deutschen Diskussion von „mehr Demokratie“ (Anmerkung: Brandts Motto lautete: „Mehr Demokratie wagen!“) auf „mehr Freiheit“ zu verlagern. Wichtiger aber ist in meinen Augen ein anderes Gegensatzpaar: der Selbständige und Betreute. Denn es besteht kein Zweifel, dass der Selbständige in Westeuropa – nicht etwa in den USA – an Boden verliert. An seiner Stelle gewinnt der staatliche Fürsorge-Apparat an Macht. … Und gerade in dieser Zeit hat die CDU die Parole „mehr Freiheit“ aufgegriffen. Sie hat erkannt, dass die Ausweitung des Staates zur alles umfassenden Fürsorgemacht die eigentliche Gefahr unserer Zeit ist.

WELT: Sie selbst lehnen seit Jahren den Sozialismus als freiheitsfeindlich ab – wo liegt in Ihren Augen der Kern?
Schelsky: Der Kern liegt darin, dass bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland ein Minimalkonsens aller Parteien über Demokratie bestanden hat. Man verstand darunter die liberalen Prinzipien des Rechtsstaates und der dezentralen Wirtschaft. Das wurde mit Bundeskanzler Brandt anders. Er suchte die soziale Demokratie in den „Demokratischen Sozialismus“ umzuwandeln. Das war die Tendenzwende.

WELT: Heißt das, dass in ihren Augen der Sozialismus von Demokratie im klassischen Verständnis abgelöst wird?
Schelsky: Der Sozialismus ist damit in der Tat zum Primären geworden, vom Adjektiv („soziale Demokratie“) zum Subjektiv („demokratischer Sozialismus“).

WELT: Wenn in der Auffassung Brandts der Sozialismus zum Primären geworden ist – worin liegt dann der Unterschied zur östlichen Version des Sozialismus?
Schelsky: In der Tat haben der marxistisch-totalitäre Sozialismus und der demokratische Sozialismus eines gemeinsam: Beide Systeme verstärken ständig den bürokratischen Überbau und die Bevormundung des einzelnen Menschen.  Denken Sie daran, was ich gerade von den „Betreuern“ gesagt habe, von jener Schicht, die den einzelnen Bürger mehr und mehr in staatliche Regie nimmt. Jede neue, gesetzlich beschlossene Sozialleistung vergrößert den Einfluss der Schicht, die selbst von den Steuergeldern der produzierenden Schicht unterhalten wird.

WELT: Leistet die FDP nicht gelegentlich Widerstand gegen diese Tendenz?
Schelsky: Minister Genscher hat in der gerade beendeten Haushalts-Debatte biedermännisch gefragt, ob die FDP irgendwann einer Politik zugestimmt habe, die nicht der Freiheit des einzelnen gedient hätte. Man hätte ihm die Gegenfrage stellen müssen, was die Verbraucher, die Arbeiter in den Fabriken, die Kranken und die Ärzte, die Studenten, Assistenten und Hochschullehrer, die Schüler, Eltern und Lehrer wirklich hinzugewonnen haben: mehr persönliche Selbständigkeit oder immer nur mehr Verwaltung?

WELT: Herr Professor, Ihre Kritik an den politischen Kräften dieses Landes ist so scharf, dass wir Sie fragen möchten: Auf welchem Wege kann Freiheit realisiert werden?
Schelsky: Die entscheidende politische Frage ist die Wiederentdeckung des Selbständigen. Die „Neue Soziale Frage“ wird von der CDU richtig gestellt, wenn sie in dem Menschen, der durch die großen Organisationen benachteiligt wird, den eigentlich Hilfebedürftigen unserer Tage erblickt. Ich glaube im übrigen, dass Selbständigkeit längst mit Arbeitnehmerstatus zusammengeht. Denn was heißt Selbständigkeit eigentlich anderes, als seine Arbeit in gewissem Rahmen selbst disponieren zu können. Denken Sie an den Taxifahrer …Leider zielt die Politik aber nicht auf diese Existenzform.

WELT: Sie meinen also, dass Politik auf Versorgung und Besorgung des einzelnen abzielt …
Schelsky: Das ist die Folge. Denn es gibt doch nichts, wo eine soziale Leistung nicht sofort mit einer neuen Bürokratie gekoppelt wird. Denken Sie an die Vermehrung der Stellen durch das neue Kindergeld, nehmen Sie die Berufsbildung, auch hier geht es nicht um Arbeitsplätze, sondern um Dirigismus plus Apparat. Nicht anders ist es bei der noch nicht zum Zug gekommenen Investitionskontrolle. Das Investitionsamt – was wird das für ein Wasserkopf…

WELT: Um dies alles zu ändern, brauchen wir, wenn wir Sie richtig verstehen, eine Tendenzwende. Über sie wurde schon viel geredet. Gibt es sie?
Schelsky: Mit der großen Tendenzwende, die Brandt mit dem demokratischen Sozialismus eingeleitet hat, wurden Gewichte verrückt. Und jetzt hören wir das große Gejammer darüber, dass Pendel immer ausschlagen nach der anderen Seite – von der Euphorie in den Katzenjammer. In der Sache kann das heißen, dass der Bürger nach mehr Ordnung, Ruhe und Sicherheit ruft. Ich halte nach wie vor Reformen für notwendig. Aber wenn sie so wie in den letzten Jahren gemacht werden, dass steht am Ende eben die Formel „keine Experimente“ oder „keine Utopien“ – obwohl es ein Leben ohne Utopien nicht gibt.

WELT: Verstehen wir Sie richtig: Das ist die Tendenzwende noch nicht …
Schelsky: Nein, die Wende kommt nur dann, wenn man aktiv, aktiv eine neue Sinngebung anstrebt: wenn also, und das wäre das Wichtigste, der Staat sich auf seine eigentlichen Grenzen und Aufgaben beschränken würde. Und damit würde die Freiheit der Bürger erhalten. Und die Freiheit wird konkretisiert als Selbständigkeit, als Verantwortung und nicht nur als Meinungsfreiheit, die nichts mehr verantwortet.

WELT: Herr Professor, das ist sehr allgemein. Fassen Sie doch noch einmal in wenigen Punkten zusammen, was uns und die westlichen Demokratien bedroht?
Schelsky: Drei Probleme gilt es zu bewältigen:
1.    Die zunehmende geistige und emotionale Beherrschung und Entmündigung durch die Meinungs- und Informationsmedien, besonders das Fernsehen.
2.    Die wachsende Macht wirtschaftlicher Sondergruppen und -interessen, wie etwa der Gewerkschaften, der Berufs- und Wirtschaftsorganisationen auf die Politik. Alle diese organisierten Sonderinteressen fordern immer nur von der öffentlichen Hand, sind aber von ihrer Institution her nicht fähig, selbst Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wo linksintellektuelle Meinungsbeherrschung und Gewerkschaftsmacht zusammentreffen, wird der Staat unregierbar – wie wir es in der Entwicklung einiger Nachbarländer ja bereits sehen.
3.    Der Staat darf nicht zu einer Bewilligungs- und Fürsorgedemokratie werden. Solche Staaten beanspruchen ihre Bürger nicht nur fnanziell zu sehr – übrigens eine neue Form der „Expropriation der Arbeit“ – sondern verlieren in den Augen ihrer Bürger immer mehr das Recht, auf die Prioritäten: außenpolitische Selbstbehauptung, innenpolitische Sicherheit, Wahrung der Rechtsverhältnisse, Stabilität der Staatsfinanzen hinzuweisen, und ihre Bürger dafür in die Pflicht zu nehmen…

WELT: Wenn Sie das korrigieren wollen – wen haben Sie dann im Auge: Etwa unsere Parteien?
Schelsky: Ich fürchte, dass es sich bei uns keine Partei leisten kann, diese grundsätzlichen Überlegungen zu Wahlkampfthemen zu machen. So teile ich leider ein in den USA gefälltes Urteil über die Entwicklung der westlichen Demokratien: Die Fähigkeit der Parteien, einen Wahlkampf zu gewinnen, steht in keinem Verhältnis mehr zu ihrer Fähigkeit, dann weitsichtig zu regieren.
 


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