top-schriftzug
blockHeaderEditIcon

Dr. Schlarmann - Mittelstand

aktuelle Informationen für den Mittelstand
block-foto-dr-schlarmann-mittelstand
blockHeaderEditIcon
Europäische Krisen : Wachstumslücken in der Europischen Union
09.12.2024 15:11 (40 x gelesen)

Wachstumslücken in der Europäischen Union


Nicolai Tangen, Chef des norwegischen Staatsfonds, spricht Europa die Zukunftsfähigkeit ab. Die Europäer würden weniger hart arbeiten als die Amerikaner, seien weniger risikobereit und auch nicht so ehrgeizig wie Menschen in den USA, sagte er der „Financial Times“. Deshalb würde er auch eher Geld an der Wall Street als auf dem Alten Kontinent anlegen.

Ein Blick auf die Wertentwicklung der großen Aktien-Indizes illustriert, wovon Tangen spricht: In der vergangenen Dekade konnte der europäische Standardwertindex Stoxx 600 seinen Wert verdoppeln, der amerikanische Leitindex S&P seinen Wert aber mehr als vervierfachen. Erklären lässt sich dieser Unterschied mit der Entwicklung der jährlichen Wirtschaftsleistung: Agierte die EU im Jahr 2014 noch auf Augenhöhe mit den USA, ist der Abstand inzwischen auf neun Billionen Dollar angeschwollen, weil die amerikanische Wirtschaft entsprechend stärker als die europäische gewachsen ist.

Der Binnenmarkt der Europäischen Union ist auch nach dem Austritt Großbritanniens (Brexit) der größte Wirtschaftsraum der Welt. Er weist aber auch bedeutende Unterschiede hinsichtlich der nationalen und regionalen Wirtschaftsleistung auf. Während Luxemburg 2022 trotz Krise erneut die 100.000 Euro-Marke beim BIP pro Kopf deutlich übertrifft, rangiert Bulgarien am anderen Ende der Liste und generiert ein BIP pro Kopf von rund 12.400 Euro. Die Einkommensunterschiede zwischen den EU-Regionen mit dem höchsten und den Regionen mit dem niedrigsten BIP pro Kopf sind noch deutlicher.

Im Jahr 2023 veränderte sich das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller Mitgliedsländer der Europäischen Union (EU) nur noch um plus 0,4 Prozent, was bedeutet, dass der Wert aller in der EU hergestellten Güter und Leistungen im Vergleich zu Vorjahr nur marginal gestiegen ist. Der Internationale Währungsfonds (IWF) stellte deshalb zu Recht fest, dass die europäische Wirtschaft stagniert.

Die Stagnation der Wirtschaft in der Europäischen Union bedeutet aber nicht, dass es in den 27 Staaten der EU kein Wirtschaftswachstum gibt. Die Verhältnisse in den einzelnen Ländern der EU sind nämlich sehr unterschiedlich. So ist z.B. die Wirtschaft in Malta im Jahr 2023 um immerhin 5,6 % gewachsen, in Irland aber um minus 5,5 % geschrumpft.

Um sich ein realistisches Bild von der Wirtschaft in der EU zu verschaffen, ist es deshalb sinnvoll, die Entwicklung in den einzelnen Räumen bzw. Staaten in den Blick zu nehmen: 1. Die Mitte der EU mit Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande, Irland und Luxemburg und Österreich. 2. Der Süden mit Italien, Griechenland, Malta, Spanien und Portugal. 3. Der Norden mit Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland und Litauen. 4. Der Osten mit Bulgarien, Rumänien, Kroatien, Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien und Ungarn.

Die Mitte der EU

Auf diese Gruppe entfallen 57,5 % der Wirtschaftsleistung (BIP) der EU, weil sich dort der Schwerpunkt der Industrie befindet. Vor einem Jahrzehnt war Deutschland in dieser Gruppe noch der europäische Wachstumsmotor. Heute befindet sich die deutsche Auto-, Stahl- und Chemieindustrie in einem tiefgreifenden Transformationsprozess, der die Wirtschaft der EU insgesamt nach unten zieht.

Als wirtschaftlicher Standort hat Deutschland vor allem wegen hoher Lohn- und Bürokratiekosten, gestiegener Energiepreise und veralteter Infrastruktur stark an Attraktivität verloren. Zudem stecken viele Industrieunternehmen in einer strukturellen Absatzkrise, und dem Land droht Massenarbeitslosigkeit. Gleichzeitig hat sich die geopolitische Lage zulasten Deutschlands als Exportland verändert. 

 Die zur Mitte der EU gehörenden Länder bilden beim Vergleich des Wirtschaftswachstums mit allen 27 EU-Mitgliedstaaten zurzeit das Schlusslicht: Deutschland und Luxemburg mit minus 0,2 % und 1,1 %, gefolgt von Belgien mit plus 1,4 %, Frankreich mit plus 0,9 %, Italien mit plus 0,9 % und die Niederlande mit plus 0,1 %.

Die Ökonomen der OECD gehen davon aus, dass die deutsche Volkswirtschaft im kommenden Jahr lediglich um 0,7 % zulegen wird. Für die französische und italienische Wirtschaft wird ein Wachstum von 0,9 % prognostiziert. Eine schnelle Erholung in der Mitte der EU lässt also auf sich warten. Auch in Frankreich ist die Stimmung in der Wirtschaft und bei den Verbrauchern schlecht. Italien seinerseits kämpft seit vielen Jahren mit einer strukturellen Wachstumsschwäche.

Nachbarländer wie die Niederlande und Österreich leiden darunter, dass Deutschland als Wachstumsmotor ausfällt, weil ihre Industrieunternehmen eng mit der deutschen Wirtschaft verflochten sind. Es ist insbesondere die kriselnde Autoindustrie, die diesen Ländern zu schaffen macht. „Kurzfristig sehen wir keine Entwicklung, die dafür sorgen könnte, dass die Produktion wieder anspringt“, sagt die leitende Ökonomin bei der österreichischen Erste Bank.   

Der Süden der EU

Ganz anders ist die wirtschaftliche Lage im Süden der EU, auf den 23,8 % der Wirtschaftsleistung der EU entfallen: Die südlichen Länder, die vor einem Jahrzehnt noch am finanziellen und wirtschaftlichen Abgrund standen, erleben zurzeit einen beachtlichen Aufschwung und wachsen schneller als der Durchschnitt der Eurozone und Deutschland, dem traditionellen Wachstumsmotor der EU. 

Die wirtschaftliche Landkarte Europas sah vor einem Jahrzehnt noch ganz anders aus. Deutschland war der Wachstumsmotor, während Südeuropa in einer tiefen Krise steckte. Die Finanzkrise nach 2008 hatte den Süden Europas besonders hart getroffen; Bankenrettungen und Konjunkturprogramme ließen die Staatsschulden explodieren.
Nach der Finanzkrise erlebten diese Länder, insbesondere Griechenland, eine wirtschaftlich verlorene Dekade: Der Tourismus erholte sich nur langsam, die Löhne sanken, und staatliche Sparprogramme sowie gestrichene Sozialleistungen führten das Land in eine tiefe Depression.  

Heute führt der Süden die Rangliste der Wachstumsländer an. Das zeigen die Daten der Konjunkturforscher der Europäischen Kommission, wonach die Länder im Süden der EU im Jahr 2023 ein beachtliches Wirtschaftswachstum erzielten: Griechenland 2,0 %, Malta 5,7 %, Spanien 2,5 % und Portugal 2,3 %.

Dieser Wiederaufstieg hat mehrere Gründe: Die südlichen Länder profitieren von der Tourismuskonjunktur, die nach der Corona-Pandemie einsetzte. Dies gilt insbesondere für Spanien und Griechenland, wo der Tourismus einen bedeutenden Anteil an der Wirtschaftsleistung ausmacht. Außerdem führten diese Länder Reformen durch: Sie beseitigten Bürokratie und modernisierten die Verwaltungen. Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert, die Arbeitszeiten verlängert und Sozialleistungen gekürzt. Außerdem senkte man die Unternehmenssteuern.

Mit den gesunkenen Arbeitskosten kamen internationale Investoren, wie zum Beispiel die Deutsche Telekom, die im griechischen Thessaloniki Software entwickelt. „Die ehemaligen Krisenstaaten sind heute einfach bessere Investitionsstandorte als vor der Krise. Die Reformen dieser Länder zahlen sich jetzt aus“, sagt Holger Schmieding von der Berenberg Bank.  

Außerdem profitierte der Süden der EU von dem 800 Milliarden Euro schweren EU-Wiederaufbaufonds. „Wenn diese Länder eines gemeinsam haben, dann, dass der EU-Wiederaufbaufonds für sie sehr wichtig war“, sagt Carsten Brzeski von der Großbank ING. „Die Südeuropäer … haben ambitionierte Reformen durchgeführt, die Brüssel im Gegenzug für das Land verlangt hat, und sie hatten genaue Vorstellungen wie sie mit dem Geld die Strukturreformen unterstützen.

Ökonomen gehen davon aus, dass der Aufschwung in Südeuropa im kommenden Jahr weitergehen wird. „Südeuropa wird auch 2025 stärker wachsen als Nordeuropa“, prognostiziert Brzeski. Es bleibt aber das Problem der überbordenden Staatsverschuldung (Griechenland 161,9 %, Spanien 107,7 %, Portugal 99,1 %). Dafür gibt es noch keine Lösung.

Der Osten der EU

Die Länder im Osten der EU sind sogenannte Transformationsländer, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Weg in die Marktwirtschaft wählten. Die meisten traten der EU am 1. Mai 2004 bei. Abgesehen von den monetären Vorteilen bot die EU den neuen Mitgliedern harmonisierte Regeln und einen stabilen politischen und wirtschaftlichen Rahmen für Unternehmen.

Auf diese Länder entfallen heute 11,5 % der Wirtschaftsleistung der EU. Sie weisen inzwischen ein höheres Wachstum aus als die Mitte der EU. Im Jahr 2023 betrug das Wirtschaftswachstum von Bulgarien 1,8 %, von Kroatien 3,1 %, von Rumänien 2,1 %, von Polen 0,2 %, von Slowenien 1,6 %, von der Slowakei 1,6 %, von Tschechien minus 0,1 %, und von Ungarn minus 0,9 %.  

Der Beitritt der Länder im Osten wurde eine „Erfolgsgeschichte mit Schönheitsfehlern“, wie Andreas Mihm in der FAZ vom 30. April 2024 schreibt. Seit dem EU-Beitritt konnten diese Länder ihren Außenhandel mehr als verdreifachen - dank Integration in den EU-Binnenmarkt.

Nach Auffassung der deutschen Außenhandelskammer in Polen ist die EU-Mitgliedschaft für Investoren ein Schlüsselfaktor; 98 % von ihnen sagten, dass sie wiederkommen würden. In der Slowakei sagten das nur drei von vier Befragten. Dort vergaben Unternehmen „spürbar schlechtere Noten als im Vorjahr“ bei der Korruptionsbekämpfung, Rechtssicherheit, Transparenz öffentlicher Vergaben und Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik. Kaum besser war das Stimmungsbild in der Tschechischen Republik, wo die Lage „so schlecht wie zuletzt im Jahr 2013“ ausfällt. Grund sind nicht nur (überall) fehlende Facharbeiter, sondern auch Kostendruck und staatliche Regulierung. Jeder Sechste würde heute nicht mehr in Tschechien investieren.

Für Andreas Mihm sind das „Momentaufnahmen“, die Schwachstellen aufdecken, aber von den „hellen Erfolgszahlen“ einer weitgehenden Anpassung an das EU-Niveau überstrahlt werden. Allein in Polen hat sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf seit 2004 verdoppelt. Und Slowenien, Musterland der wirtschaftlichen Integration, erreichte 2022 ein BIP pro Kopf, das fast 80 Prozent des EU-Durchschnitts ausmachte. Zu verdanken ist dies auch den vielen westeuropäischen Unternehmen, die die neuen Märkte im Osten erobern konnten.

„Alle Länder Ostmitteleuropas, die der EU angehören, haben mindestens 70 Prozent der BIP-je-Kopf-Durchschnitts der EU-27 erreicht“, hält ein offizieller Bericht fest. Die Bevölkerung in den Beitrittsstaaten sei reicher geworden, viele seien besser ausgebildet. Nominale Lohnsteigerungen seien doppelt so hoch ausgefallen wie im Rest der Union.

Der Norden der EU

Auf die fünf nördlichen Staaten, die der EU zwischen 1973 und 1995 beigetreten sind, entfallen nur 4,6 % des BIP der EU.  Beim Wirtschaftswachstum 2023 schneiden sie etwas besser als die Gründungsmitglieder ab: Dänemark mit 2,5 %, Schweden mit minus 0,2 %, Finnland mit minus 1,2 %, Estland mit minus 3,0 %, Lettland mit minus 0,3 % und Litauen mit minus 0,3 %.

Es gibt Berechnungen, die zeigen, dass sich viele wirtschaftlichen Aktivitäten, die sich traditionell im deutsch-französischen Grenzgebiet konzentrieren, allmählich in Richtung Norden verschieben. So wuchs das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den nördlichen Ländern von 2009 bis 2018 um 37,2 Prozent, während der Süden in diesem Zeitraum an Boden verlor und nur um 14,6 Prozent zulegte.

So besteht die schwedische Industrie inzwischen aus einer Anzahl großer, innovativer und international ausgerichteter Unternehmen. Klimaneutralität ist traditionell ein Schwerpunkt der schwedischen Wirtschaftspolitik, die aber auch ihre Opfer kennt: Das Unternehmen Northvolt, ein Hoffnungsträger für die  grüne Wende, musste Insolvenz anmelden. Für das laufende Jahr prognostiziert die EU dem Land ein Wirtschaftswachstum von 1,5 %.

Auch Dänemark ist vergleichsweise gut durch die zuletzt schwierige konjunkturelle Zeit gekommen. Nach einem positiven Wirtschaftswachstum 2023 erwartet die Europäische Kommission für das Jahr 2024 einen weiteren Anstieg des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 2,6 Prozent.

Der dänische Wirtschaftsrat betont in seiner jüngsten Frühjahrsprognose erneut den Stellenwert des Pharmasektors. Das milliardenschwere Unternehmen Novo Nordisk, dessen Unternehmenswert über dem BIP von ganz Dänemark liegt, hat einen erheblichen Einfluss auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung von Deutschlands nördlichem Nachbarn. Durch die enorme Produktivitätssteigerung und Ausweitung der Kapazitäten des Konzerns fiel etwa ein Fünftel des gesamten Beschäftigungswachstums von Ende 2022 bis März 2024 auf Novo Nordisk zurück.

Auch Estland, Lettland und Litauen zählen zu den dynamischen Volkswirtschaften in der Eurozone. Neben den höheren Konsumausgaben und gestiegenen Investitionen profitieren alle baltischen Staaten von der Verbesserung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dies zeigen jüngst veröffentlichte Konjunkturdaten und eine neue Studie der Europäischen Zentralbank (EZB). Schlüsselfaktoren für die positive Entwicklung sind eine niedrige öffentliche Verschuldung, eine zügige Verbesserung der Institutionen und eine wirtschaftsfreundliche Politik auf der Grundlage freier und offener Märkte.


Zurück Druckoptimierte Version Diesen Artikel weiterempfehlen... Druckoptimierte Version
Benutzername:
User-Login
Ihr E-Mail
*