Ludwig Erhard: Erfolge und Überzeugungen
Ludwig Erhard hat der CDU auf ihrem 1. Bundesparteitag am 22. Oktober 1950 in Goslar zugerufen:
„Die CDU würde sich selbst preisgeben und das deutsche Volk sozialistischen Experimenten überantworten, wenn sie nur einen Augenblick versagt und den Boden der Sozialen Marktwirtschaft verließe. Diesen zu verteidigen ist nicht nur wegen des Dogmas, sondern um des deutschen Volkes willen höchstes Gebot.“
Seit diesen mahnenden Worten sind 65 Jahre vergangen, in denen die Wirtschafts- und Sozialpolitik aller Bundesregierungen, auch unter Führung der CDU, immer wieder gegen den Geist und die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft verstoßen hat. Die heutige Wirtschaftsordnung entspricht deshalb in vielen Teilen nicht mehr den Ordnungsvorstellungen, welche die Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft hatten.
Die politische Leistung
Vielen gilt Ludwig Erhard als der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft und als Vater des „deutschen Wirtschaftswunders“. Es gibt aber auch die Meinung, dass der Wiederaufbau in Westdeutschland nach dem Krieg auch ohne die Politik von Ludwig Erhard möglich gewesen wäre. Die Industrie sei in wesentlichen Teilen intakt geblieben. Mit dem Marshallplan hätten die USA den entscheidenden Anstoß für den Wirtschaftsaufschwung gegeben. Zudem sei der Neuanfang vor allem der Leistungsbereitschaft der Menschen, insbesondere der Flüchtlinge und Vertriebenen, zu verdanken. Die Politik habe deshalb nur weniges gestalten müssen.
Schon der Vergleich mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, zeigt, wie falsch diese Meinung ist. Im Nachkriegsdeutschland gab es keine Aufbruchstimmung, vielmehr herrschten Resignation und tiefe Verzweiflung. Was Ludwig Erhard nach dem Krieg vorfand, hat er so beschrieben:
„Vor der Währungsreform konnte man überhaupt nicht mehr von einer funktionsfähigen Wirtschaft sprechen. Eine hochkomplizierte und hoch entfaltete Marktwirtschaft war durch das währungspolitische Chaos und den darüber getürmten bürokratischen Übermut der Zwangswirtschaft in die Methoden einer primitiven Tauschwirtschaft zurückgefallen. Es gab keine geordnete Produktion mehr, es gab vor allen Dingen keinen geordneten Güteraustausch mehr, es gab keine arbeitsteilige Wirtschaft, sondern es gab nur noch einen zusammen gewürfelten, seelenlosen, verantwortungslosen Haufen von Lebensangst geplagter Individuen, wo jeder, so gut er konnte, seine reine physische Existenz zu bewahren suchte.“
Dass sich Ludwig Erhard in dieser Lage mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft durchsetzen konnte, erscheint rückblickend wie ein Wunder. Denn der Zeitgeist damals war links und Vertrauen in die Marktkräfte kaum verbreitet. Nicht nur SPD und KPD setzten weiterhin auf umfassende Staatsinterventionen und die Verstaatlichung wichtiger Industriezweige, Sozialisierungstendenzen gab es auch in der CDU (Ahlener Parteiprogramm von 1947). Wie unzeitgemäß die "Visionen" von Ludwig Erhard waren, illustriert der Bericht von Marion Gräfin Dönhoff an die Redaktion der Wochenzeitung "Die Zeit" aus dem Sommer 1948: "Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem vollkommen absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in Deutschland aufzuheben, würden das ganz gewiß fertigbringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtschaftsminister wird. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe."
Gott sei Dank, dass sich die amerikanische Militärregierung unter Lucius D. Clay nicht vom Zeitgeist, sondern von der Überzeugung leiten ließ, dass Deutschland nur mit einer Währungs- und marktwirtschaftlichen Wirtschaftsreform wieder auf die Beine kommen könne. Damit lag er konträr zur britischen Militärregierung, die unter dem Einfuss der Labour-Regierung Sozialisierungstendenzen durchaus unterstützte. Als beispielsweise die Hessen Ende 1946 dem Sozialisierungsartikel in ihrer Landesverfassung mit über 70 Prozent zustimmten, war es die amerikanische Militärregierung, die dessen Vollzug aussetzte. Ohne diese Politik der US-Regierung hätte es Ludwig Erhard mit völlig anderen Bedingungen zu tun gehabt. Die Sozialisierungsbegeisterung in Deutschland verschwand erst, als der Wirtschaftsaufschwung einsetzte.
Der marktwirtschaftliche Neuanfang
Die Hauptfrage für Ludwig Erhard nach dem Kriege war: Welchen wirtschaftspolitischen Weg muss Deutschland gehen, um die desaströse Wirtschaftslage, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, zu überwinden. Denn es gab weiterhin eine flächendeckende Bewirtschaftung, mehr als 500 Gesetze und Verordnungen regelten Rohstoffzuteilung, Produktion und Preise. Die Verteilung der Güter erfolgte über Bezugsmarken. Schwarzmarkt und Tauschhandel mit Zigaretten als Hauptzahlungsmittel prägten die Nachkriegswirtschaft.
Der marktwirtschaftliche Neuanfang in Westdeutschland begann am 20. Juni 1948, einem Sonntag, mit der Währungsreform. Die wertlose Reichsmark wurde abgeschafft und durch die neue D-Mark ersetzt. Federführend bei der Währungsumstellung waren die Amerikaner, die im Unterschied zu deutschen Vorstellungen einen scharfen Geldschnitt bestanden, um den Geldüberhang endgültig zu beseitigen. Jeder Bürger erhielt zunächst nur 40 neue D-Mark, um das Geld knapp zu halten. Bankkonten in Reichsmark wurden im Verhältnis 100 Reichsmark zu 6,50 D-Mark umgetauscht. So wurden insgesamt 93,5 Prozent des alten Reichsmarkvolumens aus dem Verkehr gezogen – der schärfste Währungsschnitt in der deutschen Währungsgeschichte.
Die Amerikaner sorgten auch für die Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit der Bank deutscher Länder (BdL), der Vorläuferin der späteren Deutschen Bundesbank. Dies musste ebenfalls gegen massiven Widerstand von deutscher Seite durchgesetzt werden. Erhard selbst hatte dafür geworben, dass Industrie, Banken, Landwirtschaft und Gewerkschaften die Hälfte der Zentralbankratsmitglieder stellen sollten. Noch im Herbst 1949 setzte er sich dafür ein, dass der Wirtschafts- und Finanzminister im Zentralbankrat nicht nur Sitz, sondern auch Stimmrecht haben sollte. Mit einer solchen Besetzung wäre die spätere Bundesbank niemals in der Lage gewesen, ihren Stabilitätskurs langfristig durchzuhalten.
Ludwig Erhard sowie Lucius D. Clay und die Koalition von Union und FDP im Frankfurter Wirtschaftsrat (der bizonale Vorläufer des Parlamentarischen Rates) waren überzeugt, dass zeitgleich mit der Währungsreform eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsreform durchgeführt werden musste. In einer dramatischen Nachtsitzung verabschiedete der Wirtschaftsrat am 18. Juni 1948 gegen den erbitterten Widerstand von SPD und KPD das „Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik“, kurz „Leitsätzegesetz“ genannt. Mit diesem Schlüsselgesetz wurde die von Ludwig Erhard geführte „Verwaltung für Wirtschaft“ ermächtigt, die allermeisten Bewirtschaftungs- und Preisvorschriften für die deutsche Wirtschaft zu ändern bzw. aufzuheben.
Die historische Leistung von Ludwig Erhard besteht darin, dass er bereits einen Tag nach der Verkündung des Gesetzes von dieser Befugnis umfänglich Gebrauch machte und Hunderte von Vorschriften außer Kraft setzte. Denn er wusste, dass die Währungsreform allein die Wirtschaft nicht in Schwung bringen konnte. Zusätzlich mussten die Märkte geöffnet und frei gegeben werden, damit die Güterproduktion wieder in Gang kam. Was produziert und zu welchem Preis angeboten wurde, darüber sollten nicht die Bürokraten, sondern die Unternehmer und Verbraucher entscheiden. Angesichts der allgemeinen Notlage und der politischen Stimmung war dies eine riskante Entscheidung. Aber der Erfolg gab ihm recht. Über Nacht kehrten die zuvor gehorteten Waren in die Schaufenster zurück. Auch die bis dahin gefesselte Güterproduktion begann wieder zu laufen.
Als aber die Preise schneller stiegen als die Löhne, wuchs auch schnell der Unmut in der Bevölkerung. Auf Transparenten stand damals "Erhard an den Galgen" und "Marktwirtschaft ist Ausbeutung". Sozialdemokraten brachten im Wirtschaftsrat mehrere Misstrauensanträge gegen Erhard ein und riefen im November 1948 zusammen mit den Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Ludwig Erhard beschrieb diese Herausforderung so: „Die Marktwirtschaft war wenige Tage nach ihrem Beginn in einen Sturm geraten, der gute Nerven und klaren Kurs verlangte. Eine über Jahre hinweg aufgestaute Konsumnachfrage und ein in allen Bereichen der Wirtschaft fast unbegrenzter Nachhol- und Ersatzbedarf drängten mit ungestümer Gewalt auf die von den gröbsten Fesseln der Bewirtschaftung befreiten Märkte. Das Angebot aus Produktion und aus Lagerbeständen nahm zwar kräftig zu. Preissteigerungen waren jedoch nicht zu vermeiden. Da riefen die Gewerkschaften zum Generalstreik auf. Anpassungsschwierigkeiten und auf einzelnen Märkten aufgetretene Störungen wurden von den Gegnern der Marktwirtschaft voreilig als Versagen der neuen Wirtschaftsordnung deklariert. Nicht wenige forderten die Rückkehr zur Bewirtschaftung, wobei an gehässigen und demagogischen Argumenten nicht gespart wurde.“ Ludwig Erhard blieb standhaft, und die Märkte beruhigten sich sehr schnell wieder.
Die Sozialdemokraten sahen jedoch in Ludwig Erhard ihren Hauptgegner. "Ihre Form des Liberalismus, ganz gleich, ob sie sich als Neo-Liberalismus oder sozialer Liberalismus bezeichnet, ist ein angestaubter Ladenhüter. Auf dem Rücken der kleinen Lohn- und Gehaltsempfänger und Sozialrentner vollzieht sich der Aufbau. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einfach ein natürliches Kind der Freiheit. Nie war es so notwendig, dass der Staat fördert, ausgleicht, zurechtrückt und abwehrt. Man kann heute nicht mit dem Lehrbuch von Adam Smith durch die Wirtschaft stolpern", warf der SPD-Ökonom Erik Nölting Ludwig Erhard entgegen.
Konrad Adenauer ließ sich jedoch durch solche Attacken nicht irritieren und gewann Ludwig Erhard für die CDU als wirtschaftspolitische Alternative zur SPD. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 war Ludwig Erhard der entscheidende Wahlmagnet der Union, weit vor Adenauer. SPD und Union wetteiferten mit konträren Wirtschaftsprogrammen, die SPD mit Planwirtschaft und die Union mit Sozialer Marktwirtschaft. Damals wurde für die junge Bundesrepublik das politische Fundament gelegt: Konrad Adenauer stand für die Westbindung nach außen, Ludwig Erhard für die Soziale Marktwirtschft nach innen.
In Lucius D. Clay fand die erste Deutsche Bundesregierung ihren wichtigsten Unterstützer. Die Amerikaner spielten vor allem bei der Liberalisierung der Import- und Exportmärkte eine wichtige Rolle. Die Marshallplan-Gelder wurden gezielt eingesetzt, um den durch zahlreiche Vorschriften behinderten Außenhandel zu liberalisieren. Dadurch fand die deutsche Wirtschaft sehr rasch wieder in das Exportgeschäft zurück.
Das Schicksalsjahr 1957
Das Jahr 1957 war für Ludwig Erhard ein Jahr entscheidender Ereignisse (vgl. Jürgen Jeske in FAZ vom 23. März 2017). Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Februar erschien sein Buch „Wohlstand für alle“. Es war ein Kompendium der Sozialen Marktwirtschaft, das der Journalist Wolfram Langer aus achtzig Reden und Aufsätzen von Ludwig Erhard zusammengestellt hatte. Das Buch erreichte zig Auflagen und ist seither ein fester Bestandteil der wirtschaftspolitischen Debatte.
Das Jahr 1957 war für Ludwig Erhard aber auch ein Jahr entscheidender Weichenstellung in der deutschen Wirtschaftspolitik. Dazu gehörte die Unterzeichnung der „Römischen Verträge“, der Gründungsurkunden der Europäischen Union, die er mit kritischen Mahnungen begleitete. Im Nachhinein kann man sagen, dass mit der europäischen Einigung zweifellos mehr erreicht worden ist, als Erhard sich vorstellen konnte. Doch Europa steckt aktuell in einer schweren Krise, die viele seiner Einwände wieder aktuell erscheinen lassen.
Erhard ging es immer um eine freizügige Verbindung aller Länder der westlichen Welt, Nordamerika eingeschlossen. Die Sechser-Gemeinschaft von damals erschien ihm zu begrenzt und zu bürokratisch. Er war aus heute gut verständlichen Gründen misstrauisch gegenüber den französischen Vorstellungen, die auf Planung und soziale Harmonisierung drängten. Bundeskanzler Konrad Adenauer ging es dagegen allein um die politische Einbindung Westdeutschlands in den Westen.
Erhard sah sich mit seiner Kritik durchaus als guter Europäer. Als ordnungspolitisch denkender Ökonom wollte er jedoch kein Organisationsprogramm für Europa, sondern einen Ordnungsrahmen für den gemeinsamen Markt. Er sah Europas Stärke in seiner Vielfalt, nicht in der aus Brüssel immer wieder gern beschworenen Vereinheitlichung. Die von ihm gesehene Gefahr zunehmender Bürokratie und wachsenden Dirigismus hat sich nur zu sehr bewahrheitet, wie man schon daran erkennt, dass heute Änderungen am Brüsseler System gefordert werden.
Das Scheitern von Ludwig Erhard in der Europapolitik blieb 1957 nicht seine einzige Niederlage. Weitaus schwerwiegender war, dass er die von Adenauer vorangetrieben Rentenreform nicht aufhalten oder ändern konnte. Dabei war er sich mit dem Kanzler durchaus einig, dass eine Reform der bis in die Bismarck-Zeit zurückreichenden Sozialsysteme dringend geboten war, der Tendenz zum Versorgungsstaat aber Einhalt geboten werden musste. Doch aufgrund der großen Erwartungen der Rentner, des Drucks der SPD und des Wahltermins 1957 kam es schließlich zur dynamischen, lohnbezogenen Rente.
Die Rentenreform bedeutete die Abkehr von Erhards Leitbild einer freiheitlichen Sozialversorgung und die Hinwendung zum kollektiven Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat. Der Sozialstaat hatte sich auf ein Projekt eingelassen, dessen Belastungen von der ungewissen demographischen Entwicklung ebenso abhängig waren wie vom weiteren Konjunkturverlauf. Erhard hatte dies klarer gesehen als Adenauer, konnte sich aber nicht durchsetzen.
Erfolgreicher war Erhard mit dem Kartellgesetz, das im Sommer 1957 verabschiedet wurde. Es war für ihn das „Grundgesetz der Marktwirtschaft“, dessen Geschichte weit zurück reichte. Mit Blick auf die Machtkonzentrationen in der deutschen Wirtschaft hatte sich die amerikanische Besatzungsmacht schon im Potsdamer Abkommen 1945 die Ermächtigung verschafft, nach dem Vorbild des amerikanischen Anti-Trust-Rechts wettbewerbspolitische Regelungen zu treffen. Doch 1951 legte Ludwig Erhard einen eigenen Entwurf vor, der 1952 im Bundeskabinett verabschiedet und in erster Lesung im Bundestag behandelt wurde. Danach stockte das Vorhaben und es begann eine jahrelange harte Auseinandersetzung mit den Industrieverbänden. Erst 1957 konnte der Bundestag das Kartellgesetz verabschieden.
Das endgültige Gesetz war ein Kompromiss, bei dem das Kartellverbot durch zahlreiche Ausnahmeregelungen eingeschränkt wurde. Selbst Erhard sah dieses Ergebnis eher als Niederlage an, meinte jedoch, der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach. Er sprach von einem Weg in eine neue Richtung. Volkhard Laitenberger schrieb dazu in einer Erhard Biographie: „Dieser große Prinzipiendiskurs hat für die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in den Herzen und Hirnen der Deutschen, unabhängig von parteipolitischer Orientierung vermutlich viel bewirkt.“
Zu einem „Erhard-Jahr“ wurde 1957 aber weniger durch die geschilderten Erfolge und Rückschläge als durch die Wahlen zum dritten Deutschen Bundestag. Erhard trat häufiger als jeder andere Unionspolitiker in Wahlveranstaltungen auf. Das Ergebnis war ein glänzender Sieg für die Union, für die Soziale Marktwirtschaft und damit auch für Ludwig Erhard. Zum ersten Mal erreichte die Union die absolute Mehrheit im Bundestag. Erhard stand im Zenit seines Ansehens. Damit hatte der Sechzigjährige eine vielversprechende Ausgangsposition erreicht, um im Herbst 1963 Nachfolger von Konrad Adenauer zu werden. Doch schon nach drei eher glücklosen Jahren trat er am 1. Dezember 1966 zurück, um einem Sturz durch die eigene Partei, die CDU, zuvorzukommen.
Erhards Überzeugungen
Der Lebensweg von Ludwig Erhard, der am 4. Februar 1897 in Fürth geboren wurde, ist schnell erzählt: Der Vater war als Bauer aus der Rhön nach Fürth gekommen. Dort betrieb er einen Handel mit „Weiss- und Kurzwaren en gros und en détail“. Der Sohn Ludwig wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet. Nach einer Station im väterlichen Geschäft studierte er Betriebswirtschaftslehre an der Handelshochschule in Nürnberg. Es folgten die Promotion bei Franz Oppenheim in Frankfurt, die Leitung eines verbrauchernahen Forschungsinstituts und 1947 schließlich die Professur in München, wo auch seine politische Karriere begann. Amerikanische Militärs machten ihn zum Staatsminister für Wirtschaft in München. Er wurde Vorsitzender der Sonderstelle „Geld und Kredit“ und schließlich im Frühjahr 1948 Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in Frankfurt. In dieser Eigenschaft war er für die Umsetzung des "Leitsätzegesetzes" verantwortlich. Nach der ersten Bundestagswahl 1949 wurde er Bundesminister für Wirtschaft.
Prägend für Ludwig Erhard waren die persönlichen Erfahrungen in der Hyperinflation 1922/23. Die Mittelschicht verlor ihre Ersparnisse und Altervorsorge, Erhards Eltern das Handelsgeschäft. Zusammen mit der Weltwirtschaftskrise trieb dieses Erlebnis - davon war Ludwig Erhard überzeugt - die kleinen Leute Adolf Hitler in die Arme. Die zweite prägende Erfahrung war der wirtschaftliche Aufschwung in den dreißiger Jahren, als Adolf Hitler mit seinem gigantischen Bau- und Aufrüstungsprogramm Vollbeschäftigung erreichte. Ludwig Erhard durchschaute schnell, dass sich hinter diesem Programm gewaltige Schuldenberge verbargen, die nur deshalb nicht in eine erneute Inflation mündeten, weil die Preise durch ein rigoroses Lohn- und Preisdiktat gedeckelt wurden. Rückblickend nannte er das "faulen Zauber".
Die Hauptfrage für Ludwig Erhard nach dem Kriege war: Welchen wirtschaftspolitischen Weg muss Deutschland gehen, um die desastöse Wirtschaftslage, die das Dritte Reich hinterlassen hatte, zu überwinden. Denn es gab weiterhin eine flächendeckende Bewirtschaftung, mehr als 500 Gesetze und Verordnungen regelten Rohstoffzuteilung, Produktion und Preise. Die Verteilung der Güter erfolgte über Bezugsmarken. Schwarzmarkt und Tauschhandel mit Zigaretten als Hauptzahlungsmittel prägten die Nachkriegswirtschaft.
Ludwig Erhard war kein Berufspolitiker sondern Wirtschaftswissenschaftler. Es ging ihm nicht um Macht, den Sinn seines politischen Einsatzes sah er vielmehr darin, die Wirtschaft auf der Grundlage klarer Prinzipien marktwirtschaftlich zu ordnen. Dies erklärt die gelegentlichen Spannungen zu dem Vollblutpolitiker Konrad Adenauer. Nach Erhards Vorstellungen sollte sich die Politik streng am Gemeinwohl ausrichten. Interessenspezifische Kompromisse durfte es nicht geben. In diesem Punkt war Erhard standfest bis zur Sturheit, wofür Adenauer wenig Verständnis hatte. Er hielt eine solche Einstellung für unpolitisch und weltfremd. Deshalb konnte er sich Erhard auch später nur schwer als seinen Nachfolger vorstellen.
Was Erhard gegenüber anderen Politikern auszeichnete, war seine Klarsicht in wirtschaftlichen Dingen. Dabei halfen ihm seine Erfahrungen aus dem Elternhaus, ein praxisnahes Studium sowie die anschließende wissenschaftliche Tätigkeit. Erhard war kein Theoretiker, er hat auch kein Lehrbuch über die Soziale Marktwirtschaft geschrieben. Seine Stärke waren Realismus und die Fähigkeit, das Wesentliche schnell zu erkennen. Er suchte das Gespräch mit Experten und Unternehmern, vor allem Mittelständlern. In der Politik ging es Erhard um die Beeinflussung der Wirtschaftswirklichkeit im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft. Dabei galt sein eigentliches Interesse nicht tagespolitischen Aktionen, sondern langfristigen Grundentscheidungen.
Ludwig Erhard war nicht der Meinung, dass der Mensch dem „homo oeconomicus“ entspricht, dessen Ziel die Maximierung des privaten Nutzens ist. Für ihn war der Mensch ein „soziales Wesen“, das ein nützliches Glied der Gesellschaft sein will. Auch insoweit sah er sich Schüler des schottischen Nationalökonomen Adam Smith (1723 – 1790), der in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ gelehrt hatte, dass die Orientierung am Mitmenschen und die Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen, zum Wesen des Menschen gehören.
Zu diesem Menschenbild passte sein „organisches“ Gesellschaftsbild. Gesellschaft und Wirtschaft waren für Ludwig Erhard nicht von Menschen konstruierte Systeme, sondern natürlich gewachsene Gebilde, die sich selbst organisieren können. Die Stabilität einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war nach seiner Überzeugung davon abhängig, ob sich die spontan gebildeten Institutionen und Verhaltensweisen in der Praxis bewährten. Er hielt es deshalb für äußert fraglich, einen solchen „Organismus“ mit den üblichen analytischen Werkzeugen der ökonomischen Ration verstehen zu wollen. Das ökonomische Denken in mechanischen Modellen war für ihn eine Beschäftigung mit „blutleeren Phantomen“, weil sich damit die gesellschaftliche und wirtschaftliche Wirklichkeit nicht erfassen ließ.
Ludwig Erhard war durch und durch Marktwirtschaftler. Er hatte ein Grundvertrauen in die Funktionsfähigkeit offener und durch Wettbewerb geprägter Märkte. Das mittelständische Elternhaus, in dem er aufgewachsen war, spielte hierbei sicherlich eine große Rolle. Er hatte früh die Erfahrung gemacht, dass der „Dienst am Kunden“ auch eine dem Gemeinwohl dienende Funktion hat. Ganz so wie es Adam Smith formuliert hatte: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem eigenen Vorteil.“ Denn auch der von seinem Egoismus getriebene Unternehmer werde „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat“.