Eurobonds im Streit
Eurobonds (auch EU-Anleihen oder Gemeinschaftsanleihen genannt) sind verbriefte Obligationen der Europäischen Union, für die die EU-Staaten gemeinsam als Gesamtschuldner haften. Den Vorteil solcher Anleihen sieht die EU-Kommission darin, dass durch die Risikoteilung insgesamt niedrigere Zinsen anfallen, als dies der Fall wäre, wenn die Länder einzeln Kredite aufnehmen. Gleichzeitig verspricht man sich von solchen Gemeinschaftsanleihen, dass sie bei den Investoren und Anlegern wegen des geringeren Ausfallrisikos und der guten Handelbarkeit auf besonderes Interesse stoßen, vergleichbar den Staatspapieren (Treasuries) in den Vereinigten Staaten.
Viele europäische Politiker knüpfen große Erwartungen an EU-Anleihen, nicht zuletzt aus politischen Gründen: Das Vertrauen der Anleger in die EU würde gestärkt und die europäische Integration in Richtung eines gemeinsamen Kapitalmarktes weiter vorangetrieben. Hierhin gehört auch die Aussage des früheren Finanzministers Olaf Scholz (SPD) aus den Jahr 2020, dass die gemeinsame EU-Verschuldung zur Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds mit dem amerikanischem „Hamilton-Moment“ auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat vergleichbar sei.
Die Forderung nach Gemeinschaftsanleihen der EU wird vor allem von Politikern aus Italien geäußert. Der frühere EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni wirbt nach Ablauf des Corona-Programms für neue EU-Anleihen; dieselbe Forderung erheben seine Landsleute Enrico Letta und Mario Draghi in ihren Berichten zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit. Der Grund dafür sind die italienischen Staatsschulden von 140 Prozent der Wirtschaftsleistung und die hohen Risikoaufschläge auf die Staatspapiere. Gemeinsame EU-Anleihen könnten – so die Hoffnung – Entlastung bringen.
Kritik der ZEW-Studie
Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen steht EU-Anleihen positiv gegenüber. Doch derzeitig fehlt es dafür an der notwendigen Unterstützung aus den Mitgliedsstaaten. Außerdem sprechen ökonomische Gründe gegen EU-Anleihen. Das geht aus einer in der FAZ vom 30. September 2024 dargestellten Studie des „Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)“ hervor, die sich mit der Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds 2021 beschäftigt.
Nach dieser Studie ist die Zinsbelastung für den EU-Haushalt im Vergleich zum Programm des Corona-Wiederaufbaufonds infolge der Finanzierung mit Gemeinschaftsanleihen stärker gestiegen als erwartet. Zu Beginn des Corona-Programms hatte die EU-Kommission nur mit einem Anstieg der Verzinsung von 0,55 Prozent im Jahr 2021 auf 1,15 Prozent im Jahr 2027 kalkuliert. Aktuell liegen die Zinsen aber bei 2,5 bis 3 Prozent. Schon das belastet den EU-Haushalt erheblich. Von 2028 an, wenn die Tilgung der Corona-Schulden beginnt, wächst der finanzielle Druck weiter. Nach der Studie könnten die jährlichen Zins- und Tilgungskosten etwa 30 Milliarden Euro betragen, was etwa einem Sechstel des aktuellen Haushalts der EU entspricht.
Außerdem hat sich die Kreditwürdigkeit der Gesamt-EU im Vergleich zu den Mitgliedstaaten mit der besten Bonität erheblich verschlechtert. So liegt der Renditeabstand zehnjähriger EU-Anleihen gegenüber gleichlaufenden Bundesanleihen derzeit bei 63 Basispunkten – und damit etwa so hoch wie der von Anleihen der hoch verschuldeten Staaten Portugal und Belgien.
Dieser spürbare Renditeabstand der EU-Anleihen belegt, dass die Märkte deren Ausfall während der Laufzeit der Papiere nicht ausschließen wollen. Die Hoffnung, die Gemeinschaftsanleihen könnten ein über alle Zweifel erhabenes „Safe Asset“ sein, hat sich laut der Studie der ZEW nicht erfüllt. Die EU bleibt auf den Rückzahlungswillen ihrer Mitgliedstaaten angewiesen. „Safe Assets“ stellen allenfalls die Staatsanleihen Deutschlands oder der Niederlande dar.
Das Interesse vieler Mitgliedstaaten an weiteren EU-Anleihen schätzt Friedrich Heinemann, der Verfasser der ZEW-Studie, zurzeit auch deshalb für gering ein, weil rechtspopulistische oder EU-skeptische Parteien ihre Regierungen unter Druck setzen. Hinzu komme generell, dass das gemeinschaftliche Interesse der Mitgliedstaaten bei Themen wie Infrastruktur und Verteidigung, die langfristig finanziert werden müssen, sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Eine Krise wie die Pandemie, von der die ganze EU mehr oder weniger betroffen war, sei derzeit nicht absehbar.
Bisherige Bemühungen um EU-Anleihen
Schon in den 1970er-Jahren nahm die EU-Kommission in einzelnen Sondersituationen (wie die Ölkrise) in Form von EU-Projektbonds gemeinschaftlich Kredite zur Nothilfe auf. Solche „gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens“ sind in Art. 125 AEU-Vertrag ausdrücklich vorgesehen, während ansonsten die wechselseitige Haftungspflicht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten füreinander durch die Nichtbeistands-Klausel ausgeschlossen ist.
Jacques Delors, Präsident der EU-Kommission von 1985 bis 1995, war der erste, der 1993 vorschlug, den Haushalt der Europäischen Union durch EU-Staatsanleihen zu finanzieren. Die Einführung von sogenannten „Unions-Schuldverschreibungen“ zur Haushaltsfinanzierung fand damals aber keine Mehrheit.
Auch der spätere Kommissionspräsident Romano Prodi befürwortete diese Idee, der Europäische Rat stellte sich jedoch weiterhin dagegen. Es wurde befürchtet, dass EU-Anleihen letztlich zu einer von den Mitgliedstaaten ungewollten Ausweitung des EU-Haushalts sowie zu einer ungewünschten höheren Gesamtverschuldung des EU-Gebietes führen würden.
Ende 2008 brachten Jean-Claude Juncker, damals Vorsitzender der Euro-Gruppe, sowie die Fraktion der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament den Vorschlag erneut in die politische Diskussion ein. Sie wollten mit Anleihen der EU konjunkturpolitische Maßnahmen finanzieren. Die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) lehnte diesen erneuten Vorstoß aber ab.
Die politische Lage änderte sich, als Griechenland im Herbst 2009 plötzlich ein hohes Staatsdefizit auswies, das es zuvor mit falschen Statistiken verharmlost hatte, und als es sich bei der Haushaltsfinanzierung auf dem Kapitalmarkt stark steigenden Risikozuschlägen (Credit Default Swaps) ausgesetzt sah. Außer Griechenland gerieten dadurch in der Eurozone auch die sogenannten PIIGS-Staaten (= Portugal, Italien, Irland, Griechenland, Spanien) mit stark defizitären Haushalten und hoher Staatsverschuldung in eine finanzielle Schieflage.
Um dieser Staatsschuldenkrise, die fälschlicherweise als Eurokrise bezeichnet wird, Herr zu werden, beschloss der Europäische Rat im Mai 2010 den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM). Dieser Rettungsschirm beruhte auf Kreditgarantien der Mitgliedstaaten und finanzierte sich am Kapitalmarkt über Anleihen mit dem Ziel, den PIIGS-Staaten die erforderlichen Haushaltsmittel zu verschaffen. Insbesondere in Deutschland wurde diese Rettung als ein Verstoß gegen die in den EU-Verträgen vereinbarte Nichtbeistands-Klausel („No-Bailout-Klausel“) kritisiert.
Im Zuge der COVID-Pandemie und der Wirtschaftskrise 2020/21 wurden EU-Anleihen dann wieder verstärkt, aber kontrovers diskutiert. Während etwa Frankreich, Italien und Spanien diese befürworten, lehnten die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden („die sparsamen Vier“) eine solche Lösung ab. In Deutschland waren weite Teile der Unionsfraktion dagegen, während SPD und Bündnis 90/Die Grünen sie befürworteten. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach sich zunächst dagegen aus.
Im Mai 2020 schlug sie aber zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron vor, einen Hilfsfonds in Höhe von 500 Milliarden Euro zu gründen, der sich am Kapitalmarkt über Anleihen finanzieren und notleidenden EU-Staaten helfen sollte. Im Juli 2020 verständigten sich die Regierungschefs der EU-Staaten schließlich zur Bewältigung der Corona- und Wirtschaftskrise auf einen EU-Aufbauplan, der die Kommission ermächtigte, an den Kapitalmärkten im Namen der Union Mittel bis zu 750 Milliarden Euro aufzunehmen. Für die Schulden des dazu gegründeten Fonds haften die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich mit ihren künftigen Beiträgen zum Haushalt der Europäischen Union. Sollten Mitgliedstaaten ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen, müssen die übrigen Mitgliedstaaten über ihren Anteil am EU-Haushalt hierfür einstehen. Der Wiederaufbaufonds ermöglicht damit den Mitgliedstaaten, ihre nationalen Fiskalregeln zu umgehen, beispielsweise die deutsche Schuldenbremse, indem sie auf EU-Ebene Schulden aufnehmen und sich die Gelder anschließend als Zuschuss zuweisen lassen.
Fazit
Die Studie des „Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW)“ kommt zu den Gemeinschaftsschulden des Corona-Programms zu folgenden Ergebnissen:
• Die Zinsbelastung für den EU-Haushalt durch die Finanzierung mit Gemeinschaftsanleihen ist stärker gestiegen als erwartet.
• Die Kreditwürdigkeit der Gesamt-EU hat sich im Vergleich zu den Mitgliedstaaten mit der besten Bonität verschlechtert.
• Die Hoffnung, die Gemeinschaftsanleihen könnten ein über alle Zweifel erhabenes „Safe Asset“ sein, hat sich nicht erfüllt.