Die Deutsche Bahn – ein Sanierungsfall?
Die Deutsche Bahn hat im Mai 2024 bekannt gegeben, dass im vergangenen Jahr nur 64 Prozent ihrer Fernzüge pünktlich waren – also weniger als sechs Minuten Verspätung hatten. Damit rangiert die Deutsche Bahn in Sachen Pünktlichkeit weit hinter den Bahnen in der Schweiz oder Dänemark. Die Shinkansen-Züge in Japan erreichen sogar eine Pünktlichkeit von 99 Prozent.
Der wohl größte Vorteil der japanischen Shinkansen gegenüber den ICE-Zügen ist, dass sie fast durchgehend auf eigenen Trassen fahren. Unterwegs müssen sie so gut wie nie warten oder abbremsen. In Deutschland teilen sich Fernzüge dagegen die Gleise oft mit Güterzügen und dem Regionalverkehr. Das sei der eigentliche Grund für die vielen Verspätungen, erklärt der Bahnvorstand. Er sagt damit aber nur die halbe Wahrheit:
Die Japaner haben ihre Bahn 1987 privatisiert und in sechs Regionalgesellschaften und eine Frachtgesellschaft aufgeteilt. Die meisten von ihnen arbeiten heute profitabel, auch weil damals die hohen Schulden der Staatsbahn und die überzähligen Mitarbeiter in eine Auffanggesellschaft ausgelagert wurden. Einige der Bahngesellschaften sind heute sogar an der Tokioter Börse notiert. Staatliche Gelder erhalten sie allenfalls für die Instandhaltung und den Ausbau des Schienennetzes.
Im Unterschied dazu handelt es sich bei der Deutschen Bahn um eine Staatsbahn, die 1994 aus der Fusion der Deutschen Bundesbahn mit der Deutschen Reichsbahn in der ehemaligen DDR entstand und zu 100 Prozent der Bundesrepublik Deutschland gehört. Pläne zur Privatisierung der Bahn sind an dem Widerstand aus der Politik gescheitert.
Die Folgen dieser Bahnpolitik sind offenkundig: Neben der notorischen Unpünktlichkeit und dem Ausfall von Zügen gibt es im Fernverkehr immer wieder Mängel, die auf fehlerhaftes Management hinweisen und die Bahnkunden ärgern: Falsch angezeigte Wagenreihung, überfüllte Bahnsteige und Züge, nicht funktionierende Toiletten, defekte Klimaanlagen, Speisewagen ohne entsprechendes Angebot etc.
I
Gescheiterte Privatisierung
Der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn, der das Unternehmen zehn Jahre lang bis Mai 2009 führte, um es im Auftrag der Bundesregierung an die Börse zu bringen, sagte über den Zustand der Bahn: „Die Bahn hat sich in den letzten zehn Jahren zurückentwickelt – zurück zur Staatsbahn, auf einen Stand wie vor der Bahnreform vor 25 Jahren.“ Einen wesentlichen Grund für die krisenhafte Entwicklung sieht der einstige Bahnchef im Bestreben der Politik, „sich bei der Bahn wieder populistisch einzumischen, ohne das nötige Geld bereitzustellen“.
Die verstärkte Einflussnahme der Politik - bis hin zur Besetzung des Aufsichtsrates mit Politikern und hohen Staatsbeamten - schwäche das Unternehmen, sagte Mehdorn. „Die Deutsche Post, die Deutsche Telekom und die Deutsche Lufthansa sind heute erfolgreich, weil sie privatisiert worden sind – und nicht, obwohl sie privatisiert worden sind.“
Jeder Bahnchef tut nach Überzeugung von Mehdorn gut daran, Distanz zur Politik zu wahren. Kein Unternehmen könne auf Dauer effizient und kundenorientiert erfolgreich agieren, wenn es sich nur an politischen Vorgaben orientiere. Distanz zur Politik erfordere indes ein robustes Management. „Ich wollte von der Politik nie geliebt werden“, sagte er der FAZ. „Ich war immer der Meinung, dass ich dafür nicht bezahlt werde.“
Damals habe Kanzler Gerhard Schröder ihm den Rücken freigehalten, sagte Mehdorn. Ohne diese Rückendeckung hätte die Bahn die Wende vom Verlustbringer zum Gewinnbringer nicht geschafft. Davon ist Mehdorn überzeugt. Er bedauerte, dass die nachfolgenden Bundesregierungen nach der Devise handelten, bei der Deutschen Bahn gehe es nicht um Gewinne, sondern um „gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge“. Die Profitabilität sei der Hebel der wirtschaftlichen Effizienz und die Voraussetzung für eine zuverlässige und pünktliche Bahn. Die Unpünktlichkeit im Fernverkehr hält Mehdorn für ein Zeichen dafür, dass die Prozesse nicht mehr funktionieren. „Pünktlichkeit kann man nicht befehlen.“
Ein Kardinalproblem der Eisenbahner sei schon lange, dass seit der Absage des Börsengangs nicht mehr klar sei, was für ein Unternehmen die Bahn sein soll, sagte Mehdorn. Die Zielvorgaben müssen nach seiner Ansicht von der Führung der Bahn selbst kommen und vom Aufsichtsrat beschlossen werden – nicht vom Verkehrsministerium. Die Mitarbeiter wollen in einem erfolgreichen Hause arbeiten, "nicht in einer dem Ministerium nachgeschalteten Organisation.“
Das sehen Politiker wie der ehemalige Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann (CDU), unter Angela Merkel auch Bahnbeauftragter der Bundesregierung, ganz anders. Er kritisierte den derzeitigen Bahnchef Richard Lutz wegen verschiedener Mängel bei der Bundesbahn öffentlich, dass er "keinen guten Job" mache, und fügte hinzu: "Der Vorstand hat lange die Chance gehabt, das alles klar zu kriegen. Jetzt müssen wir eingreifen. Wir wissen ziemlich genau, wie es gehen müsste." Vor solchen Politikern, die sich für die besseren Manager halten, wollte Mehdorn die Deutsche Bahn jedoch warnen!
II
Wirtschaftsunternehmen oder Behörde
Dass die Deutsche Bahn (DB AG) ein professionelles Management benötigt, ergibt sich schon aus der Größenordnung und Komplexität des Unternehmens: Die DB AG betreibt als Konzern den größten Teil des deutschen Schienennetzes und des Eisenbahnverkehrs; darüber hinaus ist sie international im Transport- und Logistikbereich tätig. Im Personenverkehr beförderte das Unternehmen mit seinen Zügen und Bussen z.B. im Jahr 2020 rund 2,9 Milliarden Reisende. Die Logistikunternehmen des Konzerns transportierten 2020 im Schienengüterverkehr insgesamt 213,1 Millionen Tonnen Güter.
Die Konzernunternehmen machen mit ihren rund 340.000 Mitarbeitern rund 45 Milliarden Euro Jahresumsatz, etwa die Hälfte des Gesamtumsatzes erzielt der Konzern im Schienenverkehr. Die andere Hälfte des operativen Geschäfts entfällt auf das Transport- und Logistikgeschäft sowie auf verschiedene Dienstleistungen.
Die Bahn ist eine Aktiengesellschaft, deren Anteile zu 100 Prozent der Bunderepublik Deutschland gehören. Innerhalb der jeweiligen Bundesregierung ist der Bundesverkehrsminister für die Bahn zuständig. Derzeitiger Vorsitzender des Vorstandes der DB AG ist Richard Lutz (60), der seit 1994 - im Jahr der Bahnreform - als Controller zur Bahn kam.
Der Grundfehler der Deutschen Bahn besteht darin, dass sich die Bundesrepublik als Eigentümer nie entschieden hat, was die Bahn eigentlich sein soll: Ist sie ein eigenständig agierendes und gewinnorientiertes Wirtschaftsunternehmen oder eine weisungsgebundene nachgeordnete Behörde, die im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge tätig ist? Anfang der 90er Jahre war die Devise noch eindeutig: Die Bahn sollte ähnlich wie Post und Telekom eigenwirtschaftlich werden und das mit möglichst wenig staatlichem Zuschuss. Damit hängt die Frage zusammen, welche Ziele die Deutsche Bahn nach Meinung des Eigentümers verfolgen soll: Ist die Zuverlässigkeit, d.h. die Pünktlichkeit, gegenüber den Bahnkunden das wichtigste Ziel oder ist es eine möglichst hohe Quote an transportierten Personen und Gütern?
Die seifdem zunehmende Unpünktlichkeit im Bahnverkehr wird von Sachverständigen und der Öffentlichkeit als Beweis für eine schleichende Verschlechterung des Zustandes der Deutschen Bahn gewertet. Zwischen 2010 und 2019 lag die Pünktlichkeit im Fernverkehr der Deutschen Bahn noch zwischen 73 und 80 %, im Jahr 2020 stieg sie sogar auf ein 15-Jahre Rekordhoch von 82 %., um dann aber im Folgejahr 2021 auf 75 % zurückzufallen. Danach ging es nur noch nach unten: In den Jahren 2022 und 2023 fiel die Pünktlichkeit im Fernverkehr mit 65 % und schließlich 64 % auf einen historischen Tiefstwert. Im ersten Halbjahr 2024 wurde dieser Tiefstwert mit einer Pünktlichkeit von 62,7 % im Fernverkehr noch einmal unterschritten.
Als Hauptursache für die notorische Unpünktlichkeit der Bahn macht der Bahnvorstand das unzureichende Schienennetz und den Sanierungsstau verantwortlich. Der Sanierungsstau, mit täglich über 850 Baustellen, sei auf die frühere Gewinnorientierung der Deutschen Bahn und die dadurch vernachlässigte Koordinierung der Baustellen zurückzuführen. Auch das seit den 2000er-Jahren zurückgebaute Schienennetz soll aus den Sparmaßnahmen resultieren, die sich aus den Privatisierungsabsichten ergeben hätten.
III
Die eigentlichen Ursachen des Sanierungsbedarfs
Auf der Grundlage seiner Analyse ist der Vorstand der Bahn zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bahn viele Milliarden für Investitionen in eine bessere Infrastruktur - für Schienen und Weichen, Signale und Stellwerke etc. - braucht, damit sich im deutschen Verkehrssystem etwas zu Besseren entwickelt. Dies glaubt auch die Bundesregierung, die der Bahn im Bundeshaushalt nach Angaben des Bahnchefs Richard Lutz für drei Jahre 30 Milliarden Euro für Investitionen in die Schiene zur Verfügung stellen will. „Das ist das mit Abstand höchste Budget, das in der Bundesrepublik jemals in die Bahn investiert wurde“, sagte der Bahnchef in einem Interview mit der FAZ.
Die Sanierung des Streckennetzes ist Aufgabe der DB Infrago, einer hundertprozerntigen Tochter der Bahn AG, der das Streckennetz von 33.000 Kilometern einschließlich Bahnhöfen gehört und die von dem Österreicher Philipp Nagl geleitet wird. Auch dieser sieht die Deutsche Bahn mit den finanziellen Zusagen des Bundes auf dem richtigen Weg. Bis 2027 sollen mit diesen Mitteln aber nur 1.500 Kilometer "generalsaniert" werden.
Dazu hat die Bahnvorstand das „Sanierungsprogramm S3“ beschlossen, von dem sich der Bahnchef die Sanierung des Streckennetzes und mehr Pünktlichkeit verspricht. „Unwirtschaftlicher als im Moment könnte die Situation nicht sein. Deshalb gehen wir die Sanierung der Infrastruktur und des Betriebes jetzt in aller Klarheit, Disziplin und Konsequenz an…“, so Lutz. „Wir haben unterschätzt, wie störanfällig die überalterte Infrastruktur ist und wie sehr der Eisenbahnbetrieb dadurch beeinträchtigt wird. Mit S3 werden wir wieder zurück auf Kurs kommen.“
Dieser Optimismus erscheint Bahnexperten angesichts der wirklichen Probleme der Deutschen Bahn, für die es noch keine Lösungen gibt, als unrealistisch. Solange das Unternehmen so organisiert ist wie zurzeit, so die Expertenmeinung, wird auch sehr viel frisches Geld nicht zu einer leistungsfähigen Bundesbahn führen.
Denn außer dem unzureichenden Eisenbahnnetz gibt es bei der Deutschen Bahn weitere Probleme, die auf eine Lösung warten. Dazu gehören insbesondere
- der politische Einfluss des Verkehrsministeriums auf die Deutsche Bahn,
- die Besetzung des Aufsichtsrats mit Politikern und Staatsbeamten,
- die Parallelstrukturen in der Führung des Konzerns und der Wasserkopf in der Verwaltung,
- die autonome Netztochter DB-Infrago AG mit ihren ineffizienten Prozeduren,
- Investitionspläne ohne ein realistisches Kosten-Nutzen-Kalkül,
- Ein ineffizientes und bürokratisches Beschaffungswesen sowie ein komplexes Regel- und Tarifwerk für das Unternehmen.
Ein grundsätzliches Problem für die Deutsche Bahn ist - wie bereits geschildert - die bisher nicht geklärte Statusfrage: Ist sie ein eigenständig agierendes und gewinnorientiertes Wirtschaftsunternehmen oder eine weisungsgebundene Behörde der öffentlichen Daseinsvorsorge? Für Letzteres spricht, dass sie vom Bundesrechnungshof geprüft, vom Eisenbahn-Bundesamt überwacht und von der Bundesnetzagentur reguliert wird. So sieht es offensichtlich auch die Bundesregierung, wenn sie über die Besetzung der Gremien entscheidet: Der ehemalige Kanzleramtsminister Ronald Pofalla war bis 2022 im Vorstand der Bahn für die Milliardeninvestitionen in das Schienennetz und die Bahnhöfe zuständig. Vorsitzender des Aufsichtsrates ist seit September 2022 der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Werner Gatzer.
Ein ungelöstes Problem sind auch die Parallelstrukturen in der Führung des Konzerns und der Wasserkopf in der Verwaltung. Zur Deutschen Bahn AG gehören insgesamt 20 Tochterunternehmen, die jeweils für eigene Bereiche verantwortlich sind, darunter die DB Fernverkehr für den Personenfernverkehr, die DB Regio für den Personennahverkehr und die DB Cargo für den Schienengüterverkehr. Dementsprechend hoch sind der Anteil des Führungspersonals und der Abstimmungsbedarf im Konzern. Laut Lokführergewerkschaft sind rund doppelt so viele Beschäftigte mit administrativen Aufgaben befasst wie in anderen Konzern, auch damit, sich gegenseitig zu behindern und zu blockieren.
Hier liegt ein wesentlicher Grund für die mangelhafte Effizienz der Deutschen Bahn. Der derzeitige Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat deshalb vom Vorstand den „Abbau von Doppelstrukturen und Verschlankung“ angemahnt. Mit dem Wasserkopf in Verwaltung und Management, dem Wildwuchs an Tochterunternehmen, die jeweils auf eigene Rechnung und oft auch gegen das Konzerninteresse arbeiten, wird das Unternehmen nach Meinung des Verkehrsministers nicht effektiv und rentabel arbeiten können.
Entstanden ist das Durcheinander durch die verschiedenen oft widersprüchlichen und nicht zu Ende gedachten Reformvorhaben in den zurückliegenden Jahrzehnten. Das betrifft nicht zuletzt die Konzerntochter DB InfraGO, die große Teile der deutschen Eisenbahninfrastruktur in Eigenregie betreibt. Die DB InfraGO ist eine hundertprozentige Tochter der Deutschen Bahn AG und für das Schienennetz und die Bahnhöfe zuständig. Die Gewinne der Gesellschaft werden aber nicht an die Holding, sondern direkt an den Bund abgeführt.
Die DB InfraGO ist bei der Vergabe der Trassen nicht frei, sondern an die Regulierung der Bundesnetzagentur gebunden, die für eine diskriminierungsfreie Trassenzuweisung zuständig ist. Hierauf führt der Bahnchef Richard Lutz einen Großteil der Störungen im Fernverkehr zurück, weil die Vergabe von Trassen durch die Bundesnetzagentur aus klimapolitischen Gründen mit Vorrang zugunsten des Nahverkehrs erfolgt. Nicht zuletzt deshalb hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck seinem Freund Klaus Wolfgang Müller (Bündnis 90/Die Grünen) die Leitung der Bundesnetzagentur übertragen.
Die Behauptung des Bahnvorstandes stimmt deshalb nicht, dass die Bahn nur viele Milliarden für eine bessere Infrastruktur braucht: für Schienen und Weichen, Signale und Stellwerke, damit sich im Verkehrssystem der Bahn alles zum Besseren wendet. Die angestrebte Verbesserung nennen selbst im Unternehmen manche einen „schlechten Witz“. Solange die Deutsche Bahn so organisiert ist wie zurzeit, wird sich an ihrem schlechten Zustand kaum etwas ändern.