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Wirtschaftspolitik : Das Produktivitäts-Paradoxon
14.08.2024 12:50 (229 x gelesen)

Das Produktivitäts-Paradoxon

Das „Produktivitäts-Paradoxon“ beschreibt den Tatbestand einer längerfristig sinkenden Produktivitätsentwicklung in westlichen Volkswirtschaften trotz fortgesetzter technologischer Innovationen. Dieses Phänomen ist nicht auf Deutschland beschränkt. Es ist in vielen Industrieländern schon seit längerer Zeit zu beobachten und hat inzwischen auch die Schwellenländer erfasst.

In den 1950er-Jahren wuchs die Arbeitsproduktivität in Deutschland durchschnittlich um beinahe 7 Prozent pro Jahr. In den 1970ern waren es 4 Prozent, in den 1990ern dann nur noch 2 Prozent. Nach 1990 verringerte sich die Arbeitsproduktivität weiter und lag im Zeitraum von 2000 bis 2010 bei einem Jahresdurchschnitt von 0,9 Prozent. Im darauffolgenden Jahrzehnt bis 2020 verbesserte sie sich nur leicht auf durchschnittlich 1,2 Prozent.

Parallel zur Arbeitsproduktivität ist auch das Wirtschaftswachstum gesunken. Im Durchschnitt der Jahre 1950 bis 2022 ist die Wirtschaft in Deutschland um 3,1 % pro Jahr gewachsen. In den 1950er und 1960er Jahren wuchs das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt jedoch noch mit durchschnittlich 6,4 % im Jahr. Danach hat sich das Wirtschaftswachstum deutlich verlangsamt. Im Durchschnitt der letzten zwei Jahrzehnte von 2000 bis 2020 ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) preisbereinigt nur noch um 1,0 % pro Jahr gewachsen. Inzwischen liegt die Wachstumsrate bei etwa 0,0 %.

Dieses Ergebnis wiegt schwer, da Wirtschaftswachstum die Grundlage unseres Wohlstands ist. Wenn das Wachstum abnimmt, bedeutet dies geringere Einkommenszuwächse für Arbeitnehmer und weniger Steuereinnahmen, mit denen der Staat seinen zahlreichen Verpflichtungen, ob Rentenzahlungen oder Schuldendienst, nachkommen kann.

Wie entsteht Wirtschaftswachstum?

Wirtschaftliches Wachstum entsteht nicht aus dem Nichts. Es ist das Ergebnis millionenfacher Entscheidungen von Haushalten, Unternehmen und Politikern. Private Haushalte entscheiden etwa über die berufliche Qualifizierung, das Angebot an Arbeit, die Nachfrage nach Gütern und die Höhe der Ersparnisse. Unternehmen treffen Entscheidungen über die Beschäftigung von Mitarbeitern, Investitionen in die Kapitalausstattung, die Nachfrage nach Krediten und das Angebot an Gütern. Die Politiker entscheiden über die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, das öffentliche Infrastrukturangebot und über staatliche Eingriffe in die Märkte.

Wirtschaftliches Wachstum ist das Ergebnis aller dieser individuellen Entscheidungen. Wie es ausfällt, lässt sich langfristig nicht voraussagen oder planen. Damit ist aber auch klar, dass es gegen die individuelle Entscheidungsfreiheit verstößt, wenn der Staat konkrete Ziele für das wirtschaftliche Wachstum vorgibt. Auch eine Politik des generellen Verzichts auf Wachstum verstößt gegen die individuelle Entscheidungsfreiheit. Ein kluge Wachstumspolitik besteht deshalb darin, dafür zu sorgen, dass die individuellen und politischen Entscheidungen so gefällt werden, dass sich die privaten und unternehmerischen Wachstumskräfte optimal entfalten können.

Historisch ist wirtschaftliches Wachstum eine relativ neue Entwicklung. In Europa begann die Wirtschaft erst mit der industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert zu wachsen. Über die Gründe ist man sich heute weitgehend einig: Die mittelalterlichen Feudalsysteme wurden allmählich durch marktwirtschaftliche Ordnungen und Gewerbefreiheit verdrängt. Gleichzeitig explodierte der technische Fortschritt, den Unternehmer nutzten, um in Fabriken zu immer günstigeren Kosten Massengüter zu produzieren.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts verwandelte sich Deutschland so von einer Agrargesellschaft in eine führende Industrienation – mit Spitzenleistungen in Wissenschaft und Forschung, modernen Großunternehmen in neuen Industrien wie Chemie, Elektrotechnik, Maschinen- und Automobilbau, mit einem selbstbewussten Bürgertum und mit besseren Lebensbedingungen für die wachsende Arbeiterschaft. Der Historiker Hans-Ulrich Wehler sprach vom „ersten deutschen Wirtschaftswunder“.

Wirtschaftliches Wachstum, das unter marktwirtschaftlichen Bedingungen entsteht, hat in der Bevölkerung einen guten Ruf. Denn Wachstum steht für mehr individuellen Wohlstand und hilft im Kampf gegen Armut. Mit Wachstum lassen sich auch Verteilungskonflikte in einer Gesellschaft leichter lösen. Aus diesen Gründen wurde wirtschaftliches Wachstum bisher als notwendig und förderungswürdig anerkannt.

An dieser wachstumsfreundlichen Einstellung hat sich seit den 70er Jahren einiges geändert. Seitdem fordern Postwachstums-Ökonomen und grüne Parteien einen grundsätzlichen Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum. Die Argumente dafür sind schnell aufgezählt: Die Ressourcen der Welt seien endlich und würden durch einen ungehemmten Verbrauch der Wirtschaft zum Nachteil der kommenden Generationen ausgebeutet. Ungerecht sei auch, dass wirtschaftliches Wachstum Einkommen und Vermögen höchst ungleich verteile. Außerdem seien die negativen Wirkungen des wirtschaftlichen Wachstums auf das Klima und die Umwelt für unseren Planeten lebensgefährlich. Um diesen Entwicklungen endlich Einhalt zu gebieten, helfe nur ein genereller Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum.

Erstaunlich an solchen Forderungen ist, dass sie in einer Zeit erhoben werden, in der das Wirtschaftswachstum seit vielen Jahren nicht zunimmt, sondern kontinuierlich abnimmt. Diese Entwicklung hat die Argumentation der Postwachstums-Ökonomen bisher aber nicht beeindruckt und auch die Forderung der Grünen nach einem Wachstumsverzicht nicht verändert. Es besteht deshalb der Verdacht, dass es sich bei dem geforderten Wachstumsverzicht und der gewählten Argumentation nicht um einen Sachbeitrag, sondern um eine ideologische Position handelt.

Das Produktivitätsproblem

An Sachthemen orientierte Ökonomen sorgen sich um ein anderes Problem, nämlich die Beobachtung, dass die volkswirtschaftliche Produktivität trotz erheblicher technologischer Innovationen längerfristig sinkt. Diese Entwicklung widerspricht früheren Erfahrungen, wonach Innovationen zu einem Produktivitätssprung geführt haben. Aus diesem Grund wird das Problem als „Produktivitäts-Paradoxon“ bezeichnet. Es geht dabei um die Frage, weshalb der technische Fortschritt heute als Treiber der volkswirtschaftlichen Produktivität ausfällt.

Die steigende Produktivität einer Volkswirtschaft bedeutet, dass bei gleichem Einsatz der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital mehr Güter und Dienstleistungen produziert werden und damit der Wohlstand eines Landes steigt. Die meistens betrachtete Arbeitsproduktivität stellt das Verhältnis von Arbeitseinsatz (Zahl der Erwerbstätigen oder der geleisteten Arbeitsstunden) zum Bruttosozialprodukt (BIP) dar. Dagegen beschreibt die sogenannte Totale Faktorproduktivität (TFP) die Effizienz des Zusammenwirkens aller am Produktionsprozess beteiligten Produktionsfaktoren, inklusive des Technischen Fortschritts.

In allen westlichen Ländern hat sich das Produktivitätswachstum in den letzten Dekaden deutlich verlangsamt. Neben der Tendenz zur länderübergreifenden Abschwächung des Produktivitätswachstums zeigen sich aber deutliche Unterschiede in dem Zeitraum von 1995 bis 2018: Spanien und Italien verzeichneten mit jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten von + 0,7 % beziehungsweise + 0,3 % deutlich geringere Produktivitätsfortschritte als die übrigen Länder (Deutschland: + 1,1 %, Frankreich: + 1,2 %, Vereinigtes Königreich: + 1,3 %). Der Durchschnitt der EU liegt mit + 1,3 % am oberen Rand. Dies ist vor allen auf die rasante Produktivitätsentwicklung in den osteuropäischen Ländern zurückzuführen, die durch ökonomische Transformationsprozesse nach dem Ende des Kommunismus eintrat. So stieg die Arbeitsproduktivität in dieser Ländergruppe seit 1995 mit jahresdurchschnittlich + 3,3 %   mehr als doppelt so stark wie im EU-Durchschnitt.

Als Erklärung für diese negative Entwicklung der volkswirtschaftlichen Produktivität lassen sich für Deutschland folgende Aussagen treffen:

Der Produktionsfaktor „Arbeit“ hat nur in geringem Maße zum Wirtschaftswachstum beigetragen, da das Arbeitsvolumen, also die gesamte jährliche Arbeitszeit, über Jahrzehnte hinweg stark gesunken ist. Die wesentlichen Gründe sind Frühverrentungen und tarifliche Arbeitszeitverkürzungen. Dieser Rückgang wurde durch den Neuzugang von Arbeitskräften nicht vollständig kompensiert, weil davon die Dienstleistungen mit niedriger Produktivität überproportional profitierten. Negativ hat sich auch ausgewirkt, dass bei der Aushandlung von Tariflöhnen die Arbeitsproduktivität praktisch keine Rolle mehr spielt.  

Ein weiterer Grund für die sinkendende Arbeitsproduktivität ist darin zu sehen, dass die privaten und öffentlichen Nettoinvestitionen in Deutschland rückläufig sind. Denn der technische Fortschritt wird in erster Linie mit Hilfe von Investitionen realisiert. Staatliche Investitionen schaffen über ihre externen Effekte einen Nutzen für Unternehmen und Haushalte. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts lag der Anteil der privaten Nettoinvestitionen am Bruttoinlandsprodukt bei rund 7 bis 8 Prozent. Nach 2010 sank er unter 5 Prozent. Seit 2020 liegt der Anteil der privaten Nettoinvestitionen bei 2 Prozent. Damit sank auch die Realisierung des technischen Fortschritts.

Bei den staatlichen Nettoinvestitionen ist der Rückgang noch dramatischer. Im Jahr 2022 betrugen sie nur noch rund null Prozent. Staatliche Investitionen schaffen damit für die Wirtschaft keinen zusätzlichen Nutzen mehr. Hinzu kommt, dass Regulierungen und Subventionen den Unternehmen immer mehr Steine in den Weg legen und Anreize schaffen, sich bei der Suche nach Rendite eher an Renten als an Gewinnen zu orientieren. 

Der klimapolitische Ehrgeiz der derzeitigen Ampel-Regierung verstärkt diese negative Entwicklung. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat das Ziel, große Teile des volkswirtschaftlichen Produktionspotentials vor dem Zeitpunkt des technisch notwendigen Abgangs durch CO2-sparende Techniken zu ersetzen. Dadurch entstehen in den Unternehmen zusätzliche Kapitalkosten, denen aber keine zusätzliche Produktion gegenübersteht. Das verschlechtert nicht nur die unternehmerische Rentabilität der betroffenen Betriebe, sondern auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität, selbst wenn die Investitionen teilweise von der öffentlichen Hand subventioniert werden.

Lange Zeit galt die neue Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) als Hoffnungsträger für einen Produktivitätsschub der Wirtschaft, wie sie die Dampfkraft und Elektrizität im 19ten Jahrhundert gehabt haben. Einen solchen Effekt hat die IKT aber aus vielerlei Gründen nicht (Ausfallrisiken, störende Updates, gescheiterte IT-Großprojekte, Cyberkosten, Ablenkungspotential). Außerdem hat der mit der Digitalisierung verbundene Beschäftigungszuwachs zum Wachstum des Dienstleistungsbereichs geführt, der im Vergleich zur Industrie eine geringere Arbeitsproduktivität aufweisen. Daher wird der volkswirtschaftliche Gesamteffekt der Digitalisierung auf die Arbeitsproduktivität nur als sehr gering eingestuft (Volker Caspari in der FAZ vom 7. August 2024), mit Ausnahme des Projekts Industrie 4.0 der deutschen Industrie, das eine umfassende Digitalisierung der Produktion zum Gegenstand hat. 


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