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Klima und Energiewende : Zukünftige Strommarktordnung im Streit
23.07.2024 19:46 (120 x gelesen)

Zukünftige Strommarktordnung im Streit

Der Strommarkt

Anfang der 2000er Jahre begann die damalige rot-grüne Bundesregierung, die Stromwende mit garantierten Einspeisevergütungen für Wind- und Sonnenstrom auf den Weg zu bringen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Fast 89 Gigawatt Solaranlagen sind inzwischen am Netz, hinzu kommen Windräder mit einer Kapazität von 70 Gigawatt. Kernkraftwerke produzieren seit April vergangenen Jahres keinen Strom mehr. Auch viele Kohlkraftwerke haben den Strommarkt verlassen, weil sich ihr Betrieb wegen der hohen Preise für Emissionszertifikate nicht mehr lohnt.

Im Jahr 2023 hatten die Erneuerbaren im Schnitt schon einen Anteil von 60 Prozent an der gesamten Nettostromerzeugung. Insbesondere Solaranlagen boomen: Viele Experten halten inzwischen für realistisch, dass Deutschland seine Ausbauziele für Photovoltaikanlagen – 215 Gigawatt bis 2030 und 400 Gigawatt bis 2040 – erreichen wird. Hinzu kommt der Ausbau der Windkraftanlagen auf See und zu Lande. Die Branche geht davon aus, dass bis zum Jahr 2030 die geplanten 30 Gigawatt Offshore am Netz sind.

Die Erzeugungsstruktur für Elektrizität hat sich durch diese Entwicklung radikal geändert. Früher wurden die großen Kohle- und Kernkraftwerke in den industriellen Zentren im Westen und im Süden Deutschlands angesiedelt, wo der meiste Strom verbraucht wurde. Das hatte für die Versorger den Vorteil, dass die Länge der Stromleitungen kurz blieb und dadurch Kosten gespart wurden. Den Verbrauchern garantierte es eine sichere und gleichmäßige Stromversorgung.

Dieses integrierte Versorgungsmodell hat sich durch die regenerativen Energien radikal gewandelt: Windräder stehen weit gestreut vor allem im Norden und Osten Deutschlands. Solaranlagen sind über das ganze Land verteilt. Allen ist inzwischen klar, dass die Stromnetze in den kommenden Jahren dringend ausgebaut werden müssen, um den zunehmenden Ökostrom transportieren zu können.

Überlastete Stromnetze

Die damit verbundenen Probleme und die Höhe der Kosten sind aber lange unterschätzt worden: So mahnt die Expertenkommission, die die Bundesregierung bei der Energiewende berät, „dringenden Handlungsbedarf“ beim Ausbau der Stromnetze an. Von den gut 12.000 Kilometern, die laut Bundesbedarfsplan im Übertragungsnetz ausgebaut werden müssen, sind der Bundesnetzagentur zufolge gerade einmal knapp 1.400 Kilometer realisiert. Derzeit geht die Behörde für den Ausbau der Strom-Übertragungsnetze bis 2045 von notwendigen Gesamt-Investitionen in Höhe von rund 320 Milliarden Euro aus.  Hinzu kommen geschätzte 430 Milliarden Euro für den Ausbau der Verteilnetze, die Betreiber vor Ort installieren müssen. Jeder in die Erzeugung investierte Euro zieht zwei Euro an notwendigen Investitionen in die Netze nach sich, lautet eine Faustformel.

Schon heute sind die Stromnetze chronisch überlastet. Das gilt besonders für die großen Nord-Süd-Leitungen, die Windstrom aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern nach Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern transportieren. In den Wintermonaten trifft das noch stärker zu.

In Zeiten, in denen das Stromnetz nicht in der Lage ist, den gesamten Ökostrom aufzunehmen und zu verteilen, greifen die Netzbetreiber ein, um einen flächenweiten Stromausfall zu vermeiden. Das geschieht in der Weise, dass vor dem Engpass – beispielsweise im Norden – die Erzeugung „abgeregelt“ und hinter dem Engpass die Erzeugung hochgefahren wird. Das nennt man „Redispatch“, der in den vergangenen Jahren immer häufiger vorkommt.  

Redispatch ist teuer: Im Jahr 2023 wurden 34.000 Gigawattstunden Strom, zumeist Windstrom, abgeregelt, d.h. nicht produziert. Nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde er aber gegenüber den Kraftwerksbetreibern vergütet. Zugleich bekamen die Energieversorger hinter dem Engpass, die ihre Kohle- und Gaskraftwerke auf Anweisung der Netzbetreiber hochfuhren, Geld für ihren Einsatz im Notfall. Im Jahr 2023 waren das immerhin mehr als 3 Milliarden Euro.  

In der Energiewirtschaft und unter Experten wird der Redispatch im Zusammenhang mit der Energiemarktordnung und dem einheitlichen Preis für Strom seit Jahren kontrovers diskutiert.

Zwölf Energieökonomen

In einem Gastbeitrag in der FAZ haben zwölf Energieökonomen (darunter die Sachverständige Veronika Grimm) kürzlich vorgeschlagen, zur Vermeidung solcher Probleme verschiedene Preiszonen für Strom einzurichten. Sie begründen eine solche Flexibilisierung des Strommarktes folgendermaßen:

„Durch den deutschlandweit einheitlichen Strompreis werden oft Entscheidungen getroffen, die in der Physik des Netzes nicht möglich und volkswirtschaftlich unsinnig sind.

In Deutschland stößt die Kapazität der Stromnetze regelmäßig an ihre Grenzen. Dann ist der wirtschaftliche Wert von Strom regional unterschiedlich: In Regionen, in den viel Wind- und Solarstrom erzeugt wird, ist der ökonomische Wert des Stroms in diesen Zeiten gering. Oft liegt er sogar bei null oder wird negativ, weil Strom im Überfluss vorhanden ist. Entsprechend niedrig wäre in diesen Regionen der Preis, der Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringen würde. Umgekehrt verhält es sich in Regionen, in denen ein hoher Stromverbrauch auf ein begrenztes Angebot trifft. Hier ist Strom sehr wertvoll und der Preis, der Angebot und Nachfrage ausgleicht, hoch. Strom hat also einen lokalen Wert. Nur wenn das Stromnetz genügend Kapazität hat, um Angebot und Nachfrage in allen Regionen gleichzeitig auszugleichen, verschwinden die regionalen Wertunterschiede.

Der deutsche Strommarkt ignoriert diese regionalen Unterschiede. Es gibt in Deutschland eine einheitliche Preiszone, das heißt der Preis an der Strombörse ist für ganz Deutschland immer gleich, unabhängig davon, wie hoch die regionalen Markträumungspreise tatsächlich sind und wie wertvoll der Strom an einem bestimmten Ort ist. Der Strommarkt gibt sich also der Illusion hin, es gäbe immer ausreichend Kapazitäten zur Durchleitung.

Ein Grund für dieses Marktdesign ist die Vermeidung politisch unerwünschter regionaler Preisungleichheiten – wobei es auch heute regionale Preisunterschiede gibt, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Nutzentgelte (die gerade in den Regionen höher sind, in denen viele Wind- und Solarparks angeschlossen werden, wo Strom ja eigentlich günstiger sein sollte). Diese Illusion wird sich angesichts der großen Herausforderungen im Strommarkt nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.

Volkswirtschaftlich unsinnig

Durch die politische Vorgabe eines deutschlandweit einheitlichen Strompreises orientieren sich alle Akteure im Strommarkt an eben diesem Preissignal. In der Folge werden häufig Entscheidungen getroffen, die in der Physik des Netzes nicht möglich und volkswirtschaftlich unsinnig sind. Ist der Strompreis an der Börse beispielweise moderat hoch, erzeugen Kraftwerke und Windparks im Norden Deutschlands viel Strom, obwohl er nicht in die Verbrauchszentren des Südens abtransportiert werden kann. Gleichzeitig stehen Gaskraftwerke in Bayern still, so dass die lokale Stromnachfrage nicht gedeckt werden kann.

Damit fangen die Probleme aber erst an: Pumpspeicherkraftwerke im Schwarzwald pumpen trotz der Stromknappheit in Süddeutschland Wasser in die Berge, und intelligente Elektroautos in Stuttgart laden ihre Batterien auf, weil der für sie sichtbare Strompreis niedrig ist – in Wirklichkeit erreicht der günstige Windstrom Baden-Württemberg jedoch gar nicht. Mehr noch: Deutschland exportiert Strom nach Frankreich und in die Schweiz, weil die Preise dort höher sind, aber kann den Strom gar nicht an die Grenze liefern – gleichzeitig importieren wir aufgrund des Preissignals Strom aus Schweden und Dänemark, obwohl die Leitungen in Niedersachsen ja bereits von der heimischen Produktion überfordert sind.

Strompreise sollten Angebot und Nachfrage regional ausgleichen

Die Nord-Süd-Engpässe in Deutschland wirken jedoch nicht nur in eine Richtung. Bei einem weiteren Ausbau der Solarenergie im Süden Deutschlands können sich dieselben Probleme mit umgekehrten Vorzeichen als Folgen eines Überangebots in Bayern oder Baden-Württemberg ergeben.

Weil die Physik bei dem Wunsch nach einem deutschlandweit einheitlichen Strompreis nicht mitspielt, müssen die Netzbetreiber all diese (Fehl-)Entscheidungen in mühsamer Kleinarbeit im Rahmen des sogenannten Redispatch korrigieren: Kraftwerke in Süddeutschland werden auf Anordnung hochgefahren, Windparks in der Nordsee abgeregelt. Die einen bekommen für die Produktion mehr Geld als den einheitlichen Strompreis, die anderen bekommen Geld dafür, dass sie nicht produzieren.

Die Redispatch-Reparatur beraubt Deutschland der Effizienz und Effektivität einer marktwirtschaftlichen Preissteuerung. Anstatt also einen Marktangriff mit seinen resultierenden physikalisch unmöglichen Entscheidungen mühselig und unvollständig zu reparieren, sollte der Weg frei gemacht werden für Strompreise, die Angebot und Nachfrage regional ausgleichen und dadurch den lokalen Stromwert widerspiegeln. Der Strompreis an der Börse sollte dort höher sein, wo gerade hohe Nachfrage herrscht, und dort niedrig, wo in diesem Moment ein Überangebot vorliegt.

Energiesystem braucht dringend Flexibilitätsoptionen

Lokale Strompreise bedeuten auch, dass neue Industrieinvestitionen vom lokalen Grünstromüberschuss profitieren können. Wer heute in Mecklenburg in Wasserstoffherstellung, Rechenzentren oder grüne Stahlfabriken investiert, zahlt ja immer den deutschlandweiten Preis, selbst wenn der Strom regional im Überfluss vorhanden ist und der Windpark nebenan abgeregelt wird. Weil Investoren in Deutschland keinen günstigen Strom bekommen, zieht es sie immer häufiger ins Ausland: beispielsweise nach Schweden, wo es schon lange regionale Strompreise gibt.

Die Entscheidung über lokale Strompreise sollte daher besser früher als später fallen. Mit dem Kapazitätsmarkt wird in den kommenden Monaten eine wesentliche Entscheidung für das Strommarktdesign der nächsten Jahre und Jahrzehnte getroffen. Die Politik könnte der Versuchung erliegen, die faktische Existenz regionaler Strommärkte in Deutschland und die Notwendigkeit lokaler Preise zu negieren, indem sie die Standortwahl neuer Kraftwerke im Rahmen der neuen Kapazitätsmarktes diktiert.

Marktdesign muss physikalische Realität widerspiegeln

Immer mehr Länder gehen diesen Weg. In Europa haben Dänemark, Norwegen, Schweden und Italien länger schon kleinere regionale anstelle einer nationalen Preiszone. In den USA haben viele Strommärkte zunächst ihre Preiszonen geteilt, um dann noch lokalere Preise auf Ebene der Netzknoten einzuführen.“

  

p.s.

Zu diesem Aufruf haben sich 15 Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften in der FAZ vom 20.Juli 2024 kritisch geäußert und vor einer Aufteilung des deutschen Strommarktes gewarnt. .


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