Englands Blick auf Deutschland
Anfang des Jahres prognostizierte der Internationale Währungsfonds (IWF) für die deutsche Wirtschaft ein reales Wirtschaftswachstum von 0,2 Prozent. Damit bildet Deutschland unter den Industrienationen der Welt das Schlusslicht. Im Grunde tritt die Bundesrepublik seit Anfang 2020, dem Beginn der Corona-Pandemie, wirtschaftlich auf der Stelle.
Für das Bild von Deutschland im Ausland hat das Folgen: So schreibt The Times, London (by Juliet Samuel), dass die „goldene Dekade“ für Deutschland vorbei ist und die Aussichten für den Kontinent ohne Energie und Reformen düster aussehen. Deutschlands Schwierigkeiten sind aber auch Englands Problem, merkt die Zeitung in der Überschrift des Artikels an.
Als Aufreißer für den Zustand Deutschlands beginnt der Artikel mit den notorischen Verspätungen der Deutschen Bundesbahn, die dem veralteten Schienennetz und den unzureichenden Investitionen zuzuschreiben sind. Erinnert wird auch daran, dass Deutschland schon einmal, in den späten 90er Jahren des Reformstaus, als der „sick man in Europe“ bezeichnet wurde. Danach habe Deutschland für eine Dekade lang vom billigen russischen Gas, dem unterbewerteten Euro und der chinesischen Nachfrage nach deutschen Maschinen profitiert. Diese Säulen des deutschen Wachstumsmodells sind jetzt aber gefallen, konstatiert das Londoner Blatt lapidar.
Andererseits, so die Times, muss Europa ein Interesse an einem erfolgreichen Deutschland haben, ob es einem gefällt oder nicht. Es mag seine wirtschaftliche Macht gegenüber schwachen Euro-Ländern zwar gelegentlich rücksichtslos und arrogant ausgeübt haben, seine Wettbewerbsfähigkeit und Zahlungsbilanz waren aber nie angreifbar. Deutschland bleibt für Times der Motor Europas, auch wenn der Abstand zu vielen seiner Nachbarn kleiner geworden ist. Wenn die deutsche Wirtschaft ihren Anteil am globalen Wachstum nicht halten kann, werden auch die Aussichten für das restliche Europa düster. Mit Deutschlands Abstieg würden die hoch entwickelten, innovativen und vernetzten Produktionskapazitäten in Europa erodieren.
Die europäischen Herausforderungen sind jedoch größer geworden, schreibt The Times. Europa scheint zwar den russischen Gas-Schock und den US-Subventionskrieg zu überleben, das kann aber auch ein Trugschluss sein, weil die Verlagerung von Produktionen Zeit benötigt. Die Energiekosten sind in Europa immer noch höher als anderswo, und die Europäischen Regierungen senken sie nicht schnell genug. Investitionen, immer schon wenig in Deutschland, finden heute vor allem im Ausland statt. Dringend benötigte Investitionen können nicht finanziert werden, weil die Politiker an der verfassungsmäßigen „schwarzen Null“ festhalten, so dass Defizite illegal wären.
Zur Bauwirtschaft in Deutschland stellt die Londoner Zeitung fest, dass sie sich im freien Fall befindet. Ein Fünftel der Bauunternehmen haben in den letzten Monate Projekte wegen steigender Kosten und Zinsen aufgegeben. Und in der Vorzeigebranche „Autoproduktion“ steht China vor der Tür, um in diesem Jahr der Welt größter Autoexporteur zu werden. Peking hat dank gewaltiger Subventionen auch die Führung im Bereich der E-Autos übernommen. Die Europäische Union (EU) will das überprüfen, doch was wird sie tun, fragt das Londoner Blatt. Im Hintergrund wartet die AfD, deren Umfragewerte sich inzwischen auf 22 Prozent verdoppelt haben. Die Londoner Times meint dazu: „Germany´s golden decade, most agree, is over“.
„Gibt es einen Weg aus dieser Misere?“, hat die Times Holger Schmieding von der Berenberg Bank gefragt. Dieser antwortete, dass es ihn gibt. Denn Deutschlands wirtschaftliche Stärke beruhe nicht auf China, Autos oder Chemikalien, sondern auf dem „Mittelstand“, dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Diese hoch innovativen Unternehmen im Familienbesitz hätten wiederholt ihre Fähigkeit gezeigt, sich veränderten Bedingungen anzupassen und sich in Nischen mit Produkten zu spezialisieren, die in ihrer Qualität einmalig seien. Schmieding wies auch auf einige Sozial- und Steuerreformen der Bundesregierung hin, die das Arbeitsangebot erhöhen, die Energiepolitik verstetigen und Bürokratie abbauen sollen. Auf dieser Grundlage werde die globale Nachfrage bald wieder anspringen und das deutsche Exportmodell wieder in Gang setzen, zeigte sich Schmieding zuversichtlich.
The Times stimmt mit Schmieding überein, dass Deutschland über hoch wettbewerbsfähige Unternehmen verfügt, die durch überflüssige Bürokratie und eine verantwortungslose Energiepolitik behindert werden. Die Regierung könnte das Blatt wenden, wenn sie sich zum Beispiel dem europäischen Weg anschlösse, den Betrieb von Kernkraftwerken zuzulassen, den Angela Merkel 2011 törichterweise verschlossen hat. Sie könnte auch in Niedersachsen das Fracking für die nationale Produktion erlauben – wahrscheinlich mit einem besseren CO2-Fußabdruck als bei der Einfuhr von Gas und Kohle, von der Deutschland weiterhin abhängig ist. Die deutsche Regierung könnte auch Brüssel drängen, sich für die Gasproduktion in den neu entdeckten Feldern im östlichen Mittelmeerraum einzusetzen, von wo aus Gas - wie früher russisches Gas - leicht durch die vorhandenen Pipelines nach Europa gepumpt werden könnte.
Der deutschen Regierung stünde nach Meinung der Times auch die Möglichkeit offen, die vielen kleinlichen Planungsverzögerungen in der Energiepolitik zu beseitigen, so wie sie es im letzten Jahr mit den Gasspeichern gemacht hat, und schlanke Verfahren für die Aufstellung von Windrädern schaffen. Sie könnte zudem die Einwanderungspolitik gezielt dahin ändern, dass Fachkräfte mit den benötigten Fähigkeiten einwandern. Nicht zuletzt hätte sie auch die Möglichkeit, die Verteidigungsausgaben aufzustocken und in die Infrastruktur zu investieren. Die deutsche Regierung würde Verantwortung zeigen, wenn Steuerkürzungen bei der Stimulierung der Binnennachfrage eine größere Rolle spielten als auf Exporte zum Antrieb des Wachstums zu setzen.
Viele solcher Möglichkeiten stehen einem Staat mit starken Finanzen nach Meinung der Times zur Verfügung. Aber will die deutsche Regierung das auch?
Der letzten Runde schwieriger Reformen, die zu Deutschlands „golden decade“ den Anstoß gab, war eine Wirtschaftskrise in den frühen 2000er Jahren vorausgegangen, als Arbeitslosigkeit und Verschuldung außer Kontrolle geraten waren. Heute ist genau das Fehlen einer akuten Krise der Grund, der Reformen weniger wahrscheinlich macht. Die regierenden Parteien verlieren zwar in den Umfragen, aber ein politisch notwendiger Positionswechsel würde die Parteien mehr oder weniger noch weiter von ihrer eigenen Basis entfremden.
Die Times hält es deshalb eher für wahrscheinlich, dass die regierenden Parteien aneinander festhalten und gemeinsam den Weg in die Vergessenheit gehen. Doch für Deutschland als Wirtschaftsland sieht die Times eine Alternative zu mehr Wachstum, deutlicher als für Großbritannien. Ob seine Politiker diesen Weg wählen werden, ist jedoch eine andere Frage.