Die wirtschaftspolitische Wende
Mit dem neuen Grundsatzprogramm hat die CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz auch in der Wirtschaftspolitik ein neues Kapitel aufgeschlagen. An etlichen Stellen des Programms wird die Bedeutung der „Sozialen Marktwirtschaft“ hervorgehoben. Dass dies als bewusste Abgrenzung zu dem von Angela Merkel und den Grünen vertretenen Leitbild der „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ zu verstehen ist, hat die Programmkommission klar zum Ausdruck gebracht: „Die Soziale Marktwirtschaft ist und bleibt unser Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Sie umfasst auch eine ökologische Dimension.“
Dass sich die Wirtschaftspolitik einer CDU-geführten Bundesregierung in erster Linie um den Klimaschutz drehen wird, ist mit diesem Grundsatzprogramm nicht zu erwarten. Manche Sätze lesen sich wie eine Kritik an der Ampelkoalition. Zum Beispiel dieser: „Wir müssen Schluss machen mit der Idee, dass der Staat besser weiß, wie sich Menschen und Unternehmen für die Zukunft aufstellen. Freiheit ist Innovationstreiber, Verbote sind es nicht“.
Der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sieht das naturgemäß ganz anders. Im ZDF-Talk mit CDU-Chef Friedrich Merz erklärte er: Eine allgemeine Wirtschaftspolitik, die der Wirtschaft „die besten allgemeinen Bedingungen“ verschaffe, sei „ein Denken der Vergangenheit“. Er werde mit Subventionen aktiv dafür sorgen, dass „die Schlüsselindustrien, die wir haben, hier im Land bleiben“ und die Industrie ihre Klimaziele erreiche. Ideengeber für eine solche Wirtschaftspolitik sind linke Wirtschaftswissenschaftler, die der Politik zutrauen, der Wirtschaft den richtigen Weg zu weisen, wenn dafür die entsprechenden institutionellen Strukturen geschaffen werden. „Es ist die staatlich gelenkte Wirtschaft in neuem Gewand“, sagte der frühere Ministerpräsident von Hessen, Roland Koch, zu einer solche Wirtschaftspolitik.
Einen grundlegenden Dissens zwischen der Ampelkoalition und der neuen CDU gibt es auch bei der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse, die SPD und Grüne, aber auch CDU-Ministerpräsidenten lockern wollen. Friedrich Merz hat jedoch in das Grundsatzprogramm schreiben lassen, dass an der Schuldenbremse als Instrument der Nachhaltigkeit nicht gerüttelt werden soll. Am Rande des Programmparteitages sagte CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn dazu: „Deutschland ist so wenig links wie seit Jahren nicht mehr. Der grüne Zeitgeist ist vorbei.“
Handlungsbedarf
Die CDU steht jetzt vor der Aufgabe, auf der Grundlage ihres erneuerten Bekenntnisses zur Sozialen Marktwirtschaft ein tragfähiges Konzept für ihre künftige Wirtschaftspolitik zu erarbeiten, um bei Übernahme der Regierungsverantwortung handlungsfähig zu sein. Die wirtschaftlichen Hiobsbotschaften der letzten Monate zeigen, dass die Zeit drängt.
In der Rangliste der Schweizer Management-Akademie IMD ist Deutschland beim Vergleich der internationalen Wettbewerbsfähigkeit auf Platz 24 abgerutscht. Deutschlands Infrastruktur rangiert darin nur noch auf Platz 20. Beim Wirtschaftswachstum fallen die Europäische Union einschließlich Deutschland gegenüber den USA immer weiter zurück. Noch Mitte der 90er-Jahre waren die Löhne in Deutschland durchschnittlich fast so hoch wie in den USA. Heute verdienen die amerikanischen Angestellten ein Drittel mehr als ihre deutschen Kollegen.
Die Unterschiede in den Urlaubs- und Arbeitszeiten sowie in der Abgabenbelastung fallen dabei besonders ins Auge. Nach den Statistiken von Eurostat arbeiten die Amerikaner durchschnittlich 1811 Stunden im Jahr, die Deutschen nur 1341 Stunden. Die Deutschen haben also andere Prioritäten, was nicht zuletzt an der hohen Abgabenbelastung liegt. Löhne und Gehälter sind in Deutchland mit 50 Prozent, in den USA im Schnitt nur mit 30 Prozent belastet.
Derzeit stagniert die deutsche Wirtschaft, und zahlreiche Unternehmen leiden unter rückläufigen Umsatzzahlen. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform meldet steigende Insolvenzzahlen: Rund 11.000 Firmenpleiten gab es im ersten Halbjahr 2024 – so viele wie seit zehn Jahren nicht mehr.
Ein Kahlschlag droht vor allem den mittelständischen Zulieferern für die Automobilindustrie, die gut ein Drittel der Mitarbeiter in der Autoindustrie beschäftigen. In der Zange zwischen dem Aus für Verbrenner und der Umstellung zur Elektromobilität stehen viele Unternehmen auf der Kippe. Von 2019 bis 2023 hat die Zahl der Arbeitsplätze hier bereits um circa 40.000 abgenommen. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Offensichtlich ist hier etwas aus den Fugen geraten, das korrigiert werden muss, wenn Deutschland eine erfolgreiche Wirtschaftsnation bleiben will. Es ist deshalb höchste Zeit, die derzeitige Wirtschaftspolitik einer grundsätzlichen Revision zu unterziehen.
Wirtschaftspolitische Ziele
Die Debatte um eine neue Wirtschaftspolitik muss mit ihren Zielen beginnen. Nachdem sich die CDU in ihrem Grundsatzprogramm für die Soziale Marktwirtschaft entschieden hat, müssen sich die Ziele der Wirtschaftspolitik auch an dieser Wirtschaftsordnung orientieren.
Nach Alfred Müller-Armack, dem engsten Mitarbeiter von Ludwig Erhard, liegt der Sinn der Sozialen Marktwirtschaft darin, „das Prinzip der Freiheit des Marktes mit dem des sozialen Ausgleichs zu verbinden“. Was das inhaltlich bedeutet, ist in dem „Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der BDR und der DDR“ vom 8. Mai 1990 festgeschrieben.
Danach wird die Soziale Marktwirtschaft materiell durch die Merkmale „Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital und Dienstleistungen“ bestimmt. Die dieser Wirtschaftsordnung zugrunde liegende Sozialordnung wird geprägt „durch eine der Sozialen Marktwirtschaft entsprechende Arbeitsmarktordnung und ein auf den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs beruhendes umfassendes System der sozialen Sicherung“.
Die soziale Kraft der Marktwirtschaft sah Ludwig Erhard darin, dass sie im Unterschied zum Sozialismus dank ihrer überlegenen Effizienz den „Wohlstand für alle“ herbeiführen konnte. Daraus entstand der wirtschaftspolitische Leitsatz, dass „die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Staates auf die Gestaltung der Ordnungsformen der Wirtschaft gerichtet sein sollte, nicht auf die Lenkung der Wirtschaftsprozesse“.
Dies ist der Rahmen, zu dem die zukünftige Wirtschaftspolitik der CDU zurückfinden muss. „Wohlstand für alle“ zu schaffen, bedeutet in diesem Zusammenhang, den Wert aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen, das sogenannte Bruttosozialprodukt (BIP), durch eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik zu fördern. Die Ansiedlung ausgesuchter Schlüsselindustrien mit staatlichen Subventionen, wie Habeck sie heute betreibt, gehört nicht zu einer solchen Zielstellung. Auch das sollte die Öffentlichkeit wissen.
Das Bruttosozialprodukt (BIP)
Das Bruttosozialprodukt (BIP) war für Politik und Wirtschaftswissenschaft seit jeher der entscheidende Maßstab, und zwar sowohl für den wirtschaftspolitischen Erfolg einer Regierung als auch für den Wohlstand einer Wirtschaftsnation.
Das änderte sich, als die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel Bundeskanzlerin wurde und meinte, der Begriff des „Wohlstands“ müsse neu definiert werden: „Wir brauchen als Bundesregierung auch noch einen anderen Ansatz, um die Vorstellung von Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger in Erfahrung zu bringen.“ Merkel knüpfte dabei an Vorarbeiten des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz an, der im Auftrag des früheren französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy einen solchen alternativen Indikator erarbeitet hatte. Dieser erfasste u.a., wie gesund und gut ausgebildet die Menschen sind, ob sie politisch partizipieren können und wieviel Freizeit sie haben.
Nach der Initiative der Bundeskanzlerin wurde auch der Deutsche Bundestag in dieser Sache tätig. Eine Enquete-Kommission legte 2013 einen von ihr erarbeiteten Wohlstandsindikator vor. Zwischen den Parteien bestand aber Uneinigkeit, welche Konsequenzen sich daraus ergaben. Während Union und FDP der Meinung waren, dass der neue Indikator nur innerhalb des bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftssystems wirken könne, vertraten SPD, Grüne und Linke den Standpunkt, der neue Wohlstandsindikator erfordere zu seiner Umsetzung eine tiefgreifende, „sozial-ökologischen Transformation“ von Staat und Gesellschaft.
Solche Differenzen machten den entscheidenden Unterschied zwischen dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) und dem Wohlfahrtsindex deutlich: Während das BIP ein objektives und neutrales Maß für die volkswirtschaftliche Wertschöpfung ist, handelt es sich bei dem Wohlstandsindex um ein Instrument zur Festlegung und Durchsetzung politischer Ziele.
In diesem Sinn hat auch das von Robert Habeck geführte Wirtschaftsministerium in seinen Jahresberichten die wirtschaftspolitischen Wachstums- und Wohlstandsziele neu definiert: Nicht mehr das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also die Summe aller wirtschaftlichen Leistungen eines Landes, soll der Erfolgsmaßstab sein, sondern sogenannte Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsindikatoren. Diese reichen von sozialen Faktoren über Umwelt- und Klimaschutz, Bildung und Forschung, Demografie bis zu öffentlichen Finanzen und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse.
"Unsere Wirtschaftsordnung muss die Interessen künftiger Generationen und den Schutz globaler Umweltgüter systematischer und deutlich verlässlicher berücksichtigen", sagt der grüne Wirtschaftsminister dazu. "Diesem nachhaltigen Ansatz mehr Konsequenz zu verleihen, erfordert, die soziale Marktwirtschaft zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln." Denn wirtschaftliches Wachstum soll in Zukunft nicht mehr ohne Rücksicht auf den Ressourcenverbrauch betrachtet werden. "Wir dürfen kein Wirtschaften mehr fördern, das zu fossilem Energieverbrauch, Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit beiträgt", sagt er. Was für die Produktion bereit stehe, sei ein knappes Gut und müsse vorrangig für Investitionen in den Klimaschutz eingesetzt werden und nicht für eine Ausweitung des Konsumgüterangebots.
Die Union als bürgerliche Opposition sollte einem solchen Wachstumsziel unbedingt widersprechen und darauf bestehen, dass das Bruttosozialprodukt (BIP) weiterhin die maßgebliche Kennziffer für den Erfolg der Wirtschaftspolitik ist. Bei einem Regierungswechsel sollte das durch eine Neuordnung der Zuständigkeiten untermauert werden, indem die Klimapolitik dem Umweltministerium übertragen wird. Das Wirtschaftsministerium muss sich demgegenüber wieder um die Wirtschaft kümmern können. Ökonomie und Ökologie zusammenzubringen, ist nicht die Aufgabe des Wirtschaftsministeriums, sondern der gesamten Regierung.
Das Wirtschaftsministerium muss wieder wie unter Ludwig Erhard zu einem „Hort ordnungspolitischen Denkens und Handels“ werden. Es war vor allem die Grundsatzabteilung, die gegenüber den Fachressorts auf die Anwendung marktwirtschaftlicher Grundregeln achtete. Die dort tätigen Beamten hatten das Selbstbewusstsein, „die Speerspitze einer erfolgreichen Wirtschaftsordnung zu sein“ (Walther Otremba), womit sie anderen Ressorts gelegentlich erheblich auf die Nerven gingen.