Der Streit um das Anthropozän
Das Erdzeitalter in Perioden einzuteilen, gehört zu den besonderen Aufgaben der geologischen Wissenschaft. Der gegenwärtige Zeitabschnitt der Erdgeschichte gehört nach der Entscheidung der Geologen zum „Holozän“ (auch Nacheiszeitalter genannt), das vor etwa 11.700 Jahren mit der Erwärmung der Erde, dem Schmelzen des Eises und dem Erscheinen des Menschen begann.
Gegen diese Zuordnung der heutigen Zeit gibt es inzwischen Widerspruch: in Zusammenhang mit der Diskussion um die Klimaerwärmung bemüht sich eine wissenschaftlich-politische Lobby, gegen den Widerstand der Geologen ein neues Erdzeitalter, das „Anthropozän“, als Alternative durchzusetzen. Zur Begründung wird auf den zunehmenden und nachweisbaren Einfluss des Menschen auf den Planeten Erde hingewiesen, so dass es geboten sei, den gegenwärtigen Zeitabschnitt als Anthropozän zu bezeichnen. Unverkennbar soll damit aber auch der Klimapolitik argumentativ geholfen werden.
Die Medien haben diese Kampagne über Jahre nach Kräften unterstützt. Das britische Nachrichtenmagazin „The Economist“ schrieb: „Menschen sind zu einer Naturkraft geworden, die den Planeten auf der geologischen Skala umgestaltet.“ Auf der Titelseite begrüßte das Magazin seine Leser mit der Überschrift: „Willkommen im Anthropozän“. Der Geologe Stanley Finney sagte dazu: „Das Anthropozän wurde von Anfang an in die Medien gedrückt, eine Werbemaßnahme.“
Infolgedessen enteilte die Anthropozän-These bald der Fachdiskussion und ließ sich politisch ausschlachten. Schnell standen auch öffentliche und private Geldgeber bereit, um „Anthropozän-Kampagnen“ in Forschung, Politik und Medien zu finanzierten. Darunter fallen zum Beispiel von Bundesministerien geförderte Projekte wie „Gesundheit im Anthropozän“, „Landwende im Anthropozän“ oder „Hochschule im Anthropozän“. Das 2022 neu ausgerichtete und mit öffentlichen Mitteln finanzierte Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena will die „Vielfach-Krise des Anthropozäns“ erforschen. Die Öffentlichkeit wird mit Hilfe eigens gegründeter Fachzeitschriften informiert, in denen Aufsätze und Studien zu Themen des Anthropozäns erscheinen.
Was bei dieser medialen Kampagne nahezu vergessen wird, ist die Tatsache, dass über die Zeitabschnitte der Erdgeschichte nur eine kleine Gruppe von Geologen entscheidet. Die meisten von ihnen stehen dem Anthropozän aus wissenschaftlichen Gründen skeptisch gegenüber. Um dem abzuhelfen, gründete man 2009 von interessierter Seite eine Anthropozän-Arbeitsgruppe (AWG), der nicht nur Experten für die Festlegung der geologischen Zeitalter angehören. Diese Gruppe war außerordentlich aktiv und veröffentlichte laufend Aufsätze zum Thema Anthropozän, die im Sommer 2023 in dem öffentlichen „Ausrufen eines neuen Erdzeitalters“ gipfelten.
Die Initiatoren dieser medienwirksamen Aktion übersahen allerdings, dass die AWA kein neues geologisches Zeitalter ausrufen kann, weil dafür die Internationale Kommission für Stratigraphie (ICS), in diesem Fall deren Untergruppe „Subcommission on Quaternary Stratigraphy (SQS)“, zuständig ist. Dort entscheiden Geologen mit besonderer Fachkompetenz über die geologischen Zeitabschnitte. Am 31. Oktober 2023 schickte die AWG deshalb ihren Vorschlag für das Anthropozän zur Entscheidung an die zuständige Subkommission SQS, deren Mitglieder aber kaum reagierten. Die Geologen witterten einen Interessenkonflikt, weil der Vorsitzende der SQS und sein Stellvertreter entschiedene Vorkämpfer für das Anthropozän sind.
Die überwiegende Zahl der SQS-Mitglieder war dem Anthropozän gegenüber aber negativ eingestellt. Denn eine geologische Epoche muss definierte Voraussetzungen erfüllen, die das Anthropozän nach Meinung der meisten Experten nicht hat. Um ein ablehnendes Votum zu vermeiden, versuchte der Kommissionsvorsitzende deshalb, die Entscheidung zu verzögern, indem er mehr Transparenz, mehr Diskussionen und mehr Gründlichkeit anmahnte.
Damit stieß er auf den Widerstand der meisten Kommissionsmitglieder, die eine sofortige Entscheidung verlangten. Die Mitglieder der SQS würden alle Argumente zum Anthropozän kennen; die Diskussion dazu sei transparent über 16 Jahre geführt worden. Jetzt wäre es Zeit, das Thema abzuschließen.
Im März 2024 kam es dann im SQS zu Abstimmung über den Antrag, den gegenwärtigen Zeitabschnitt der Erdgeschichte als Anthropozän zu bezeichnen. Der Antrag wurde mit großer Mehrheit abgelehnt: Ein Anthropozän sei mit der geologischen Zeitskala unvereinbar. Zwölf Kommissionsmitglieder stimmten gegen den Anthropozän-Antrag, vier dafür. Der Vorsitzende des SQS und sein Stellvertreter enthielten sich der Stimme.
(Hinweis auf den Beitrag von Axel Bojanowski in DIE WELT vom 8. Mai 2024)