Roland Koch, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung e.V., zu
"75 Jahre Grundgesetz - 75 Jahre Soziale Marktwirtschaft"
Am 8. Mai jährt sich zum 75. Mal die Beschlussfassung unseres Grundgesetzes. Bei allen Bedrohungen und Herausforderungen dieser Tage sollten wir uns über die 75 Jahre Frieden, die gelungene Wiedervereinigung und damit die Freiheit für alle Deutschen, aber auch den Wohlstand und das hohe Maß an sozialem Frieden freuen.
75 Jahre Grundgesetz bedeuten auch 75 Jahre Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft, die das Grundgesetz rechtlich möglich machte, auch wenn es dieses Modell der Wirtschaftsordnung ausdrücklich nicht vorschrieb. Was die Bürger aus diesem Angebot machen wollten, oblag ihnen in demokratischer Auseinandersetzung und bei voller Haftung für die Konsequenzen ihrer Entscheidung. So war mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung der Streit um den richtigen Weg nicht zu Ende. Zu tief saß die Enttäuschung über die kapitalistische Struktur der Weimarer Republik und die darin vermuteten Gründe für das Scheitern und die folgenden Jahre des Schreckens. Ludwig Erhard formulierte 1948 – also vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes – seine Vorstellung von der zu schaffenden Wirtschaftsordnung folgendermaßen: „Nicht die freie Marktwirtschaft des liberalistischen Freibeutertums einer vergangenen Ära, auch nicht das ‚freie Spiel der Kräfte‘ (…), sondern die sozial verpflichtete Marktwirtschaft, die das einzelne Individuum wieder zur Geltung kommen lässt, die den Wert der Persönlichkeit obenan stellt und der Leistung aber auch den verdienten Ertrag zugutekommen lässt, das ist die Marktwirtschaft moderner Prägung.“
Soziale Marktwirtschaft ist keine Selbstverständlichkeit
Erst Mitte der 50er Jahre kehrte langsam ein Konsens über den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft ein, nicht zuletzt mit dem Einschwenken der Sozialdemokraten auf ihrem berühmt gewordenen Godesberger Parteitag. Für Erhard konnte das eine Genugtuung sein, aber der Kampf um die Ausgestaltung der neuen Ordnung war keineswegs zu Ende.
Dieser zumindest im Grundsätzlichen bestehende Konsens der demokratischen Parteien wurde beim Fall des Eisernen Vorhangs doch noch Teil des geschriebenen Rechts. Die Soziale Marktwirtschaft ist „durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen“ bestimmt. Dieses Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft wurde 1990 im Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen Deutschland und der DDR formuliert und so in den Verfassungsrang gehoben.
Trotz dieser eindeutigen Fundamente lässt das Grundgesetz die konkrete Rolle des Staates in der Wirtschaftsordnung nicht nur offen, alle Veränderungen im Text der Verfassung in den letzten 75 Jahren haben die Verantwortung des Staates für den Wohlstand immer größer werden lassen. Das war nicht Erhards Perspektive. Er hatte zwar sehr genau die Probleme einer ungezügelten Marktwirtschaft erkannt. Im Unterschied zu den Sozialisten stellte er aber eine aus dem menschlichen Handeln abgeleitete Alternative vor, die Wettbewerb als zentrales Element beibehält. Da Wettbewerb nicht von allein Bestand hat, muss er „auch in der freiheitlichen Wirtschaftspolitik durch staatliche Autorität gesichert werden […], denn die Marktwirtschaft ist nur insoweit politisch, sozial, moralisch und wirtschaftlich zu vertreten, als sie eine wirkliche Wettbewerbsordnung ist“. Diese zu schaffen, ist in Erhards Worten „die eigentliche und vornehmste Aufgabe des Staates“.
Der Staat wird immer mächtiger
Nach dem Rückzug von Ludwig Erhard aus der aktiven Politik begann sich ein Wandel in dieser Rollenbestimmung des Staates zu vollziehen. 1967 wurde das sogenannte Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (StabWG), verabschiedet. Der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller freute sich damals, „dass der Keynes der ‚General Theory‘ von 1935 nun endlich seinen Einzug in Deutschland hält“. Ziel war die „Steuerung der effektiven Gesamtnachfrage“ durch den Staat. In diesem Kontext wurde zuvor Artikel 109 Absatz 2 in das Grundgesetz eingefügt, nach dem der Bund und die Länder „bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen“ haben. Bund und Länder hatten von nun an eine aktive Rolle im Wirtschaftsgeschehen, denn sie haben ihre wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen „so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen“.
Der Erfolg der Politik wurde an den Kennzahlen „Wachstum“ und „Beschäftigung“ gemessen, die von nun an in die Verantwortung des Staates fielen. Zuvor waren Wachstum und Beschäftigung das Ergebnis von Marktprozessen gewesen. Heute kennen wir die Konsequenz: Jede politische Maßnahme konnte von da an mit dem Erfordernis des Erreichens dieser Ziele gerechtfertigt werden. In vielen wirtschaftspolitischen Diskussionen ist seitdem dieser Paradigmenwechsels gar nicht mehr präsent. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass der Staat Beschäftigungspolitik betreibt, Industriepolitik initiiert, nicht-wirtschaftliche Ziele für Unternehmen definiert und die paternalistische Schutzfunktion für alle Risiken wirtschaftlicher Umstände gegenüber dem Bürger bis zum heutigen Tag immer weitertreibt. Das gilt auch für die fortwährende Ausgestaltung des in seinen Grundlagen für die Soziale Marktwirtschaft konstitutiven Systems der sozialen Unterstützung. Auch hier wurde aus dem Notfall der Regelfall.
Der paternalistische Staat war nie das Ziel Ludwig Erhards
Auch die eingefleischten Erhardianer, zu denen ich mich zähle, bestreiten nicht, dass in einer stark veränderten, globalen und hochkomplexen Welt der Staat eine bedeutsame Rolle für die Stabilität der demokratischen Ordnung spielt. Manch soziale Verwerfung bei unserem transatlantischen Partner, den Vereinigten Staaten, und die daraus folgende Radikalisierung der Wähler folgt wohl auch aus der fehlenden sozialen Sicherheit, die Bürger in Freiheit suchen. Aber es ist offensichtlich, dass mit den Veränderungen in den letzten 50 Jahren die Klarheit über die Aufgabe eines starken Staates für Freiheit einerseits und Wohlstand andererseits stark gelitten hat. Der starke Staat muss die Freiheit sichern, der starke Staat muss die Wettbewerbsregeln garantieren und eine unbestechliche Rechtsordnung gewährleisten. Aber der Staat ist nicht der Garant von Wohlstand. Dazu ist er weder berufen noch in der Lage. Schon der Versuch, den Politiker zu oft versprechen, überfordert ihn. Das lähmt Wirtschaft und Gesellschaft, wie wir an der heutigen Überregulierung und dem heraufziehenden Regulierungsinfarkt sehen. Der Wohlstand kommt von freien Bürgern, Forschern, Unternehmern, Arbeitnehmern und Selbständigen. Der Staat, so ist das Denken Ludwig Erhards, darf ihnen dabei nicht im Wege stehen.
Auf 75 Jahre Grundgesetz sollten wir stolz sein. Aber die Geschichte dieser 75 Jahre zeigt uns auch, dass sich alles fortwährend ändert. Dabei Prinzipien im Blick zu behalten, ohne die der Erfolg der mutigen Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes und der Erfolg von Ludwig Erhard nicht möglich gewesen wäre, wird für unsere Zukunft von größter Bedeutung bleiben.
(Der Text beruht in einigen Passagen auf Vorarbeiten von Berthold Barth, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Ludwig-Erhard-Stiftung)