Manipulierter Atomausstieg
Mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine war für Fachleute klar: der für Ende 2022 geplante Atomausstieg ist Geschichte. Nach dem Ausfall russischer Gaslieferungen war das Risiko flächendeckender Stromausfälle und explodierender Strompreise zu hoch, als dass man sich ein Abschalten der Atomkraftwerke noch hätte leisten können. Doch es kam anders. Nach einem kurzen Streckbetrieb über den Winter 2022 gingen am 15. April 2023 die letzten drei deutschen AKW vom Netz.
Zuvor hatte es den üblichen Streit in der Ampelregierung gegeben: Die FDP wollte alle drei noch laufenden Atomkraftwerke bis mindestens 2024 am Laufen halten. Die Grünen lehnten das ab, bis sie schließlich bereit waren, zwei Atomkraftwerke, Isar 2 und Neckarwestheim 2, bis zum Frühjahr 2023 weiterlaufen zu lassen. Die Auflösung erfolgte durch ein Machtwort von Kanzler Scholz (SPD): „Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.04.2023 zu ermöglichen“, teilte er der Umweltministerin Steffi Lemke, Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner mit.
Lindner versprach „die volle Unterstützung der FDP“. Die Grünen und Habeck waren enttäuscht, fügten sich aber der Entscheidung des Kanzlers. Das totale Zerwürfnis in der Koalition schien abgewendet. Am 15. April 2023 ging das letzte deutsche AKW vom Netz.
Doch wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?
Streit um die Aktenherausgabe
Cicero-Redakteur Daniel Gräber wollte es genau wissen und verlangte von Wirtschaftsminister Robert Habeck, gestützt auf das Umweltinformationsgesetz, Einsicht in die Akten zur jüngeren Atomkraftdebatte. Das Ministerium wehrte sich mehr als anderthalb Jahre „mit Händen und Füßen dagegen“, die internen Unterlagen offen zu legen. Daniel Gräber entschied sich deshalb, Klage zu erheben. Das Verwaltungsgericht Berlin hat nun geurteilt, dass die Ablehnung der Akteneinsicht „rechtswidrig“ war und „der Kläger Anspruch auf Zugang zu den nicht offen gelegten Unterlagen hat“.
Die Akten liegen nun dem Magazin „Cicero“ vor, und ihr Inhalt ist schon deshalb für Wirtschaftsminister Robert Habeck von großer Brisanz, weil sein ehemaliger Staatssekretär Patrick Graichen (Grüner) wie auch beim stark umstrittenen Heizungsgesetz bei der Stilllegung der letzten drei Atommeiler die Finger im Spiel hatte.
Generell ergibt sich laut „Cicero“ aus den vorliegenden Akten, dass Fachleute im Bundeswirtschaftsministerium bei der Entscheidungsfindung zum Atomausstieg „kaum Gehör“ fanden; ihre kritischen Einschätzungen seien sogar „ignoriert oder verfälscht“ worden.
Manipulierte Aktenvermerke
Dazu führt „Cicero“ einen Vermerk des Ministeriums vom 3. März 2022 an, in dem Mitarbeiter in Habecks Ministerium den Standpunkt vertraten, unter bestimmten Umständen könne eine begrenzte Laufzeitverlängerung der verbleibenden Atomkraftwerke sinnvoll sein. Die Experten legten klar und fachkundig dar, weshalb eine AKW-Laufzeitverlängerungdabei helfen kann, im kommenden Winter Gas zu sparen und kritische Situationen im Stromnetz zu vermeiden. Sie rieten dazu, diese Möglichkeit weiter zu prüfen.
Auf der Leitungsebene lag das Dokument nur Staatssekretär Patrick Graichen vor, dem Parteifreund Habecks, der später nach Vorwürfen der Vetternwirtschaft sein Amt aufgeben musste. Der Minister selbst hatte den Vermerk offenbar nicht erhalten, so dass Habeck weiterhin behauptete, Deutschland hätte kein Stromproblem, sondern ein Gasproblem, und die Energie-Industrie wäre mit ihm auf einer Linie. Dabei ließ er unerwähnt, dass das Stromproblem nach dem Aus für Kernkraftwerke nur mit "dreckigem" Kohlestrom gelöst werden konnte.
Nicht nur im Wirtschafts-, sondern auch im Umweltministerium wurden Fachleute ausgebremst. Zum Leiter der Abteilung "Nukleare Sicherheit, Strahlenschutz" machte die neue Ministerin Steffi Lemke den Juristen Gerrit Niehaus, einen entschiedenen Kernkraftgegner. Als Abteilungsleiter schrieb er einen Vermerk der ihm untergebenen Fachleute so um, dass er zum politisch vorgegebenem Ziel passte.
Der erste Vermerk vom 1. März 2022, den zwei Referenten und der Referatsleiter verfasst hatten, kam zu dem Ergebnis, dass ein Weiterbetrieb der damals noch laufenden Atomkraftwerke "über mehrere Jahre" als "mit der Aufrechterhaltung der nuklearen Sicherheit vereinbar" war. Beraten hatten sie sich mit der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), an der auch der Bund beteiligt ist.
Diesen Vermerk bekam Gerrit Niehaus auf den Tisch und schrieb ihn komplett um. In einer neuen Version vom 3. März hieß es: "Die Abteilung S kommt zu dem Ergebnis, dass die Verlängerung der Laufzeit der drei noch laufenden Atomkraftwerke über den gesetzlich festgelegten und planerisch zugrunde gelegten 31.12.2022 hinaus sicherheitstechnisch nicht vertretbar ist." Zu diesem Urteil kam er aus eigenem Ermessen, wobei er die für die technische Sicherheit der deutschen AKWs zuständige Reaktorsicherheitskommission des Umweltministeriums (RSK) komplett ignorierte.
Den neuen, umgeschriebenen Vermerk schickte Niehaus an Patrick Graichen im Wirtschaftsministerium, der auf dieser Basis einen eigenen Vermerk zur "Prüfung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken aufgrund des Ukraine-Kriegs" entwarf. Er kam darin erwartungsgemäß zu dem Ergebnis, dass nach "einer Abwägung von Nutzen und Risiken" eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke nicht zu empfehlen sei. Obgleich Gerrit Niehaus diesen Vermerk wegen zahlreicher "Fehler und Falschbehauptungen" mehrfach korrigierte, schickte Graichen seine erste Version an Habeck, der sich für das "famose Papier" bedankte und in der Öffentlichkeit mit Bezug auf einen Weiterbetrieb der drei letzten AKWs von "höchsten Sicherheitsbedenken" sprach.
Diese Aussage wurde von Mitgliedern der Reaktorsicherheitskommission später als nicht nachvollziehbar kritisiert. Sie würdige nicht "die hohe Sicherheit der deutschen Kraftwerke, die die Grundlage für ihren derzeitigen Betrieb darstellt" und stelle zudem die Arbeit der RSK wie auch aller anderen an der Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beteiligten Institutionen in Frage.
Der Widerspruch der Energie-Industrie
Seitdem steht Habeck politisch unter erheblichem Druck. Dem Vorwurf, sein Ministerium habe die Öffentlichkeit falsch informiert, um den schnellen Atomausstieg durchzusetzen, hält er entgegen, die Energie-Industrie sei mit ihm auf einer Linie gewesen. Dem hat der inzwischen ausgeschiedene Aufsichtsratsvorsitzende von Eon, Karl-Ludwig Kley, in einem Interview mit "ntv" jedoch unmissverständlich widersprochen.
Kley bestätigt den von "Cicero" herausgefundenen Sachverhalt: Als Beispiel nennt er den am 7. März 2022 vom Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium veröffentlichten Prüfvermerk, auf dessen Basis man eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke nicht empfehlen könne. Zusammengefasst steht darin, dass erstens die 4,4 Gigawatt Kraftwerksleistung keinen relevanten Beitrag zur Energieversorgung leisten würde. Und zweitens aufgrund der regulatorischen und technischen Hindernisse die Laufzeitverlängerung gar nicht möglich sei.
Für Kley ist beides Unsinn: Mit 4,4 Gigawatt hätten die CO2-Emissionen der Kohlekraftwerke um mindestens 15 Millionen Tonnen verringert werden können, und die Stromkosten wären niedriger ausgefallen, weil Kernkraftwerke Strom für knapp unter zwei Cent pro kWh produzieren können, Gaskraftwerke mit gewissen Schwankungen für ungefähr das Zehnfache. Das Argument der fehlenden Relevanz war deshalb falsch.
Gleiches gilt laut Kley für die angeblichen regulatorischen und technischen Hindernisse einer Laufzeitverlängerung: Der Betrieb im Winter 2022/23 konnte ohne frische Brennelemente erfolgen - was er dann auch während der dreimonatigen Verlängerung tat. Danach hätte man über neue Brennelemente verfügen können. Zudem hält Kley die laut Prüfungsvermerk angeblich notwendige Sicherheitsprüfung in Übereinstimmung mit der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit und dem TÜV-Verband nicht für erforderlich.
Auf die Frage von "ntv", ob Eon das den Ministerien tatsächlich so gesagt habe, antwortete Kley wörtlich: "Und ob. Eon hatte eine sehr klare Position. Die hieß: Die Entscheidung, Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen, ist keine technische Frage, sondern eine politische. Technisch würde Eon alles möglich machen, die politische Entscheidung müsse aber einzig und allein auf der Ebene der Bundesregierung fallen. Je früher sie fiele, desto besser wäre es."
Die von „Cicero“ aufgedeckten Vorgänge zeigen, „wie unsauber Graichen gearbeitete hat und wie ihm Habeck vertraute – ob blind oder im Wissen um die brisanten Inhalte der Akten, ist unbekannt“ (Berliner Zeitung vom 25. April 2024). Die Union forderte deshalb von Habeck sofortige Aufklärung über die Umstände der Entscheidung zum Atomausstieg 2023. „Der alte Verdacht erhärtet sich: Beim Kernkraft-Aus wurden Parlament und Bevölkerung belogen“, schreibt der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions- Bundestagsfraktion, Thorsten Frei. „Habeck sollte unverzüglich sämtliche Akten zum Aus der AKW auf den Tisch legen. Ansonsten droht ein Nachspiel.“
Denn schon die jetzt vorliegenden Akten des Wirtschaftsministeriums zeigen, wie einflussreiche Netzwerke der Grünen innerhalb der Bundesregierung die Entscheidung über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke ideologisch manipuliert haben. Das ist keine Bagatelle, sondern ein ernstes Verfassungsproblem: In einer freiheitlichen Demokratie ist es inakzeptabel, wenn sich Regierungsparteien durch Ämterpatronage den Staat zur Beute machen können.